Ein langer Weg zu Recht und Gerechtigkeit
Von Thomas Bauer (Pirama - Nachdenkzeit)
Ein spärlich eingerichteter Gerichtssaal, in Redenção im brasilianischen Bundesstaat Pará. Hier finden während drei Wochen die Anhörungen der Überlebenden, Zeugen und Angeklagten des Massakers von Pau D´Árco statt, bei dem am 24. Mai vergangenen Jahres zehn Kleinbäuer*innen von Polizisten erschossen wurden. Direkt mir gegenüber sitzen 17 Polizisten der Militär- (Polícia Militar) und Zivilpolizei (Polícia Civil), angeklagt der Exekution der zehn Bauern am 24. Mai letzten Jahres, die die Fazenda Santa Lúcia besetzt hatten.
Zwei der am Tag anwesenden Polizisten, der Delegado (Kommissar) Valdivino da Silva Junior und der Investigador Raimundo Nonato de Oliveira Lopes des Komissariats für Agrarkonflikte (DECA – Delegacia de Conflitos Agrários), haben sich gleich nach dem Massaker bereiterklärt, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Beide sitzen getrennt von den restlichen 15 Polizisten, vermummt und mit dunklen Sonnenbrillen im Saal. Sie befinden sich seit ihren ersten Aussagen im Zeugenschutzprogramm, da sie um ihr Leben fürchten müssen.
Sie sind die einzigen, die seit September auf freiem Fuss sind. Die anderen sind in Haft. Aber nicht in einem der Gefängnisse, in die normale Bürger*innen unter meist unwürdigen und menschenverachtenden Umständen verbracht werden. Nein, diese Polizisten befinden sich in Zellen in einem der Militärpolizei für solche Zwecke vorbehaltenen Bereich der Polizeikaserne. Laut dem zuständigen Staatsanwalt Leonardo Lima Caldas lebt es sich dort nicht so schlecht: „Sie leben, als wären sie zu Hause. Nur ein Wächter beobachtet den Eingang der Polizeikaserne. Es gibt keine Kontrollen ihrer Zellen.“
Während der für insgesamt drei Wochen angesetzten Verhandlungen werden sie täglich mit einem Kleinbus von der Polizeikaserne zum Gerichtsaal geführt. Die Eskorte wird dabei von ihren eigenen Kollegen der Militärpolizei übernommen. Die zwei Polizisten, die sich zur Aussage und Zusammenarbeit mit dem Gericht entschieden haben, werden getrennt von den anderen, durch die Staatspolizei (Policia Federal) Tag und Nacht bewacht und zum Gerichtssaal transportiert.
Trotz der anstehenden Aussagen der Angeklagten ist die Stimmung im Gerichtssaal des Richters, seiner Mitarbeiter*innen, der zwölf Rechtsanwält*innen der Angeklagten, der drei Staatsanwälte sowie unterstützenden Anwälten der CPT (=Landpastoralkommision), die die überlebenden Bauern und Hinterbliebene vertreten, vergleichsweise locker. Während der Pausen bleibt sogar Zeit für eine Verlosung eines Buches mit Gedichten, verfasst von einem der Anwälte der Verteidigung, der die Verlosung gleich selbst übernimmt.
Die Aussagen der Überlebenden des Massakers der letzten Tage sind identisch. Am 24. Mai befanden sich die 25 Bäuerinnen und Bauern auf dem Gelände der Fazenda Santa Lúcia, als sich die Streifenwagen näherten. Eigentlich sollten an diesem Tag, wie Valdivino unter Tränen während seiner Aussage neuerlich betont, nur die vierzehn Strafmandate übergeben und einige der Bauern verhaftet werden. Ihnen war vorgeworfen worfen, Teil einer kriminellen Gruppe zu sein, die die Fazendas besetzen und anschließend, nach der Enteignung, die Gebiete weiterverkaufen. Doch dann kam alles anders.
Die Bäuerinnen und Bauern selbst, als sie die Streifenwagen erblicken, räumen ihr Zeltlager und versuchen, sich durch das dicke Gebüsch davon zu machen. Es regnet stark, und sie nehmen nur das Notwendigste mit. Gemeinsam suchen sie eine ihnen bekannte kleine Lichtung auf, um dort unter einer Plastikplane schutzsuchend abzuwarten. Jane Júlia, die einzige Frau, die während des Massakers ums Leben gekommen ist, versucht laut dem Bericht der Überlebenden die Gruppe zu beruhigen: „Seid still, die Polizei wird uns hier nicht suchen. Es regnet zu stark und es ist schwierig für sie, diese Lichtung im Dickicht zu finden.”
Diese Aussage deckt sich mit der Vorgehensweise der Polizisten der DECA. Denn Valdivino und Raimundo Nonato betonten mehrmals, dass es ihre Aufgabe war, bei dem Konflikt zwischen den Fronten zu vermitteln, allerdings nie die Bauern aufzustöbern, oder sie durch das Gebüsch zu verfolgen. Dafür war ihre Einsatzgruppe auch viel zu klein und in diesem konkreten Fall wussten sie anhand der eingeleiteten Abhörung der Handys, dass die Bauern Waffen bei sich trugen.
Beide rechneten aber nicht damit, das bei ihrer Ankunft vor Ort der verantwortliche Coronel der Militärpolizei, während einer kurzen Besprechung die Trennung der Truppen anordnete. Laut seiner Aussage wollte er mit seinen Leuten der frischen Spur durch das Gestrüpp folgen, während die anderen in beide Richtungen ausfahren sollten, um die Bauern zu suchen.
Dies entsprach zwar nicht, wie während der Zeugenaussagen von verschiedenen Seiten bestätigt wurde, der üblichen Vorgehensweise, wurde aber in diesem Moment von Valdivino, verantwortlich für die Operation, nicht in Frage gestellt. Während er selbst mit seiner Truppe und Streifenwagen in eine Richtung steuert, erkundet eine andere Truppe die entgegengesetzte Richtung. Der Coronel und seine Truppe dringen zu Fuß in das Gebüsch ein.
In weiterer Folge geht alles, den Überlebenden zu folgen, sehr schnell. Als die Polizisten die Bauern entdecken, eröffnen sie sofort das Feuer. Ihnen bleibt keine Zeit, um an ihre Waffen zu kommen. Dies beweisen auch die Obduktionsberichte. Bei den Opfern werden keine Schießpulverrückstände auf ihren Händen gefunden. In einigen Fällen wurden die Schüsse von oben nach unten oder aus sehr naher Distanz abgefeuert. Bei einigen Körpern der ermordeten Bauern wurden zusätzlich zu den Kugeln Brüche und Verletzungen festgestellt.
Eine regelrechte Exekution und keinesfalls ein bewaffneter Zusammenstoß, wie es der für die Anklage zuständige Staatsanwalt Leonardo Lima Caldas im Interview erklärt: „Einige der Bauern sind noch an Ort und Stelle verstorben, andere haben in ihrer Verzweiflung das Weite gesucht und konnten sich verstecken.” Während dieses Zeitpunkts erreicht Valdivino und seine Streife ein Notruf. Es soll zu einem Zusammenstoß gekommen sein, die dort anwesenden Polizisten fordern Unterstützung an.
Valdivino und seine Truppe begeben sich sofort zum beschriebenen Ort. Ein Bild des Grauens, das sich ihnen da bietet. Valdivinos erster Blick fällt auf den bereits leblosen Körper von Jane Júlia mitten im Gras. Neben ihr liegen drei weitere Körper, laut seiner Aussage, zu diesem Zeitpunkt noch am Leben. Sofort wird er zur Seite gerufen: „Wir müssen zusammenhalten. Hier gibt es nur eine Geschichte. Die des Zusammenstoßes”, raunt ihm ein Polizist zu.
In weiterer Folge kommt es zu weiteren Schüssen. Raimundo Nonato, der gemeinsam mit Valdivino vor Ort ist, feuert aus seiner Waffe mehrere Schüsse auf die am Boden verstreuten Körper der Bauern ab. Wie er im Verhör gesteht: „Ich habe die Schüsse aus Angst abgefeuert. Es war zu unserem Schutz. Ich hatte Angst, dass sie (die Militärpolizisten) uns an Ort und Stelle töten würden, wenn wir ihre Geschichte nicht akzeptierten. Sie waren in Überzahl.”
Anschließend wurden die zehn leblosen, sowie schwer verletzten Körper auf die Streifenwagen verteilt und in die naheliegende Stadt Redenção gebracht. Die bereits schwer verletzten Bauern dürften dabei während der holprigen Fahrt gestorben sein. Laut den Anhörungen zu Folge, wurde von Seiten der Polizei nichts unternommen, um das Personal im Krankenhaus auf dem Weg vorab zu informieren. Dies würde auch erklären, warum die Streifenwagen direkt vor dem Obduktionssaal und nicht vor dem Eingang der Notfallaufnahme geparkt wurden.
Der Großteil der 15 angeklagten Polizisten hüllt sich während ihrer Anhörung in Schweigen. Die wenigen von ihnen, die die Fragen des Richter, der anwesenden Staatsanwälte sowie der Rechtsanwälte beantworteten, gaben an, nicht am Ort des Massakers gewesen zu sein. Laut Batista Afonso, Rechtsanwalt der Landpastorale CPT gewährt die brasilianische Verfassung den Angeklagten das Recht zum Schweigen.
Dieses Schweigen weckt böse Erinnerungen. Erinnerungen an das Massaker von Eldorado dos Carajás, wo an jenem verhängnisvollen 17. April 1996 19 Kleinbäuerinnen und -bauern regelrecht hingerichtet wurden. Damals, beim Gerichtsprozess schwiegen die angeklagten Militärpolizisten, so dass eine Verurteilung der Schuldigen schwieriger wird, weil es sehr schwer ist, genau die jeweils individuelle Art und und das Ausmaß der jeweiligen Tatbeteiligung gerichtlich festzustellen. Anders also als bei dem damaligen Prozess gegen die 153 für das Massaker von Eldorado dos Carajás verantwortlichen Polizisten, ist es in diesem Fall des Massakers von Pau D´Árco dann den zwei Polizisten, die sich als Kronzeugen zur Verfügung gestellt haben, zu verdanken, dass die Anzeigen gegen die Täter individualisiert werden konnten, da sie als einzige in der Lage sind, die direkt involvierten Polizisten zu identifizieren.
Parallel zu den Anhörungen laufen derzeit weitere polizeiliche Ermittlungen durch die Bundespolizei, die Hinweisen nachgehen, die darauf deuten, dass Fazendeiros der Region die Tat finanziell unterstützt haben könnten. Falls dies zutrifft kann in den nächsten Wochen mit weiteren Verhaftungen der Hintermänner dieses furchtbaren Massakers gerechnet werden.
Was das endgültige Urteil zum Massakers von Pau D´Árco betrifft, ist es allerdings noch ein weiter Weg. „Wir können sagen, dass sich der Prozess noch ganz am Anfang befindet. Die erste Phase widmet sich der Vorladung der Überlebenden, der Zeugen und Angeklagten und dieser ist nun zu Ende. Nun liegt es am Richter zu entscheiden, ob die Angeklagten vor ein Schöffengericht gestellt werden”, erläutert der zuständige Staatsanwalt Leonardo Lima Caldas. Doch in diesem Fall gibt es zuvor noch mehrere Möglichkeiten, die sich den Rechtsanwält*innen der Verteidigung bieten, auf verschiedenen Ebenen Einspruch zu erheben. Der Prozess selbst sowie die endgültige Entscheidung und mögliche Verurteilung, wird sich somit noch über Jahre hinziehen. Ein langer Weg zu Recht und Gerechtigkeit.