Forum 3
Input: Frei Luciano Bruxel (Franziskanerorden Odem dos Frades Menores)
Moderatorin: Romana Barros Said (Missionszentrale der Franziskaner); Tatiana López Ayala (Kindernothilfe) und Anne Schnieders de Oliveira (Kindernothilfe) | Protokollantin: Andrea Zellhuber
Frei Luciano arbeitet als Koordinator des Förderzentrums für Kinder und Jugendliche Centro de Promoção da Criança e do Adolescente São Franciso de Assis (CPCA) in Porto Alegre. Das Zentrum liegt in dem Stadtrandviertel Lomba do Pinheiro mit 80.000 Einwohnern in der östlichen Peripherie von Porto Alegre.
Gründe für die hohen Gewaltraten in der Peripherie brasilianischer Großstädte
In seinem Input-Referat ging Frei Luciano zunächst auf die Wurzeln der Jugendgewalt in brasilianischen Städten ein. Die Landflucht und der damit verbundene extreme schnelle und ungeordnete Urbanisierungsprozess ist ein wichtiger Faktor. Staatliche Dienstleistungen und Infrastruktur konnten aufgrund des schnellen Wachstums der Städte nicht schnell genug aufgebaut werden (heute leben 85% der Brasilianer in Städten). Die Bewohner*innen der favelas und informellen Siedlungen leben in einer Situation der sozialen Ausgrenzung und Entwurzelung. Zwischen den Bewohner*innen der Stadtrandviertel gibt es wenig sozialen Zusammenhalt. Ein weiterer Faktor, der die Sozialisierung der Jugendlichen in der Peripherie negativ beeinflusst ist die extreme räumliche Dichte der favelas, die sozialen Stress erzeugt.
Gewalt an den Schulen ist ein weit verbreitetes Phänomen, viele der Lehrer*innen sind damit völlig überfordert. Programme der Sozialarbeit sind völlig unzureichend. Zwar gibt es seit 2003 ein einheitliches System für Sozialarbeit und Sozialhilfe (Sistema Único de Assistência Social -SUAS1), doch es gibt immer noch viel zu wenig gezielte Programme für die Unterstützung von Jugendlichen. Es gibt weit mehr Mittel für Initiativen zum Schutz von Kindern. Frei Luciano berichtet aus seiner Arbeitsrealität im Stadtteil Lomba do Pinheiro in Porto Alegre: Die Kinder erlebe er meist als glücklich und fröhlich, doch die Jugendlichen leiden extrem unter den äußeren Umständen der sozialen Ausgrenzung und dem gewalttätigen Umfeld. 21 Millionen Brasilianer*innen sind zwischen 12 und 17 Jahre alt. Diese Altersgruppe leide am meisten unter Armut, sozialer Ausgrenzung, Gewalt, sexuelle Ausbeutung, Teenage-Schwangerschaften sowie HIV/AIDS.
Dimension der Tragödie der Jugendgewalt in Brasilien
Hinter dem Klischee des multikulturellen und friedfertigen Brasiliens versteckt sich eine grausame Realität. Laut der Erhebung der „mapa da violencia“ gab es seit den 80er Jahren bis 2010 in Brasilien 799.226 Todesfälle durch Schusswaffen, davon waren 450.225 der Opfer zwischen 15 und 29 Jahre alt. Das beutet 67 % der gewaltsamen Todesfälle durch Schusswaffen waren Jugendliche.
Im internationalen Vergleich belief sich die Summe der Todesfälle in den 12 größten bewaffneten Konflikten weltweit zwischen 2004 und 2007 auf 169.574. In Brasilien wurden im gleichen Zeitraum 192.804 Menschen ermordet. Allein im Jahr 2010 starben 22.694 Jugendliche zwischen 15 und 29 Jahren eines gewaltsamen Todes durch Schusswaffen.
4,5 Millionen Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren, die in Situationen sozialer Vulnerabilität leben, mit geringer oder keiner Schulbildung haben keine Perspektive auf einen Arbeitsplatz.
64.400 Jugendliche treten jährlich in das Strafvollzugssystem ein, das entspricht 147 Jugendlichen pro Tag, fast 8 pro Stunde.
Thesen zum Zusammenhang zwischen sozialer Ausgrenzung, der Rolle der Medien und der Gewalt
Laut Frei Luciano sei die Gewalttätigkeit der Jugendlichen in den favelas als Akt des Widerstandes zu verstehen, als Ventil für die Überwindung des Gefühls des ausgegrenzt Seins.
Frei Luciano präsentierte 3 Thesen zur Rolle der Medien im Zusammenhang mit Jugendgewalt:
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Gewalt hat mit unbefriedigten Bedürfnissen zu tun. Die Medien erwecken mit der Stimulierung des Konsums viele materielle Bedürfnisse, die sich die Jugendlichen nicht leisten können. Es wird ihnen das Bild vermittelt nur wer die neuesten Sneaker und Markenkleidung trägt gehört dazu.
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Jugendliche werden in Zeitungen, Radio, Fernsehen und Co. häufig als Gewalttäter stigmatisiert. In vielen Medienberichten sind Jugendliche der Peripherie die Sündenböcke. Mit sensationalistischer Berichterstattung wird für die Herabsetzung der Strafmündigkeit geworben.
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Die Medien vermitteln nur Blickweisen der Eliten auf soziale Zugehörigkeit. Die Jugendlichen der Peripherie empfinden sich als entfremdet, als nicht zugehörig. Angesichts der dominierenden Bilder in den Medien empfinden sie sich als Fremde und Ausgegrenzte. Die Jugendlichen internalisieren ein Gefühl von Minderwertigkeit und Unsichtbarkeit.
Politische Reaktionen auf die hohen Gewaltraten
In politischen Kampagnen ist das Thema der öffentlichen Sicherheit stets sehr präsent, und zwar ausschließlich in vereinfachenden Slogans zu „mehr Sicherheit“, im Sinne von mehr Repression. Eine häufige und immer wiederkehrende politische Forderung ist die Herabsetzen der Altersgrenze der Strafmündigkeit auf 16 Jahre. Diese Debatte wird durch Medien mit ihrer sensationalistischen Berichterstattung und vereinfachenden Darstellung wesentlich beeinflusst. Ein Großteil der Wähler*innen stimmt laut Meinungsumfragen dem Herabsetzen der Altersgrenze der Strafmündigkeit zu. Kinderrechts- und Menschenrechtsorganisationen betreiben Aufklärungsarbeit gegen diese Vorschläge.
Doch es gibt auch innovative Ansätze Im Bundesstaat Rio Grande do Sul wurde das Programm „Territorios da Paz“ (Territorien des Friedens) entwickelt, bei dem das Konzept der Community-Polizei eingeführt wird und Fortbildungen für Polizisten im Umgang mit Jugendgewalt durchgeführt werden.
Beispiele für Projektinterventionen
Ein wichtiger Ansatz in der Sozialarbeit mit Jugendlichen in der städtischen Peripherie ist es ihr Selbstbewusstsein zu stärken und ihnen mit affirmativen Maßnahmen soziale Wertschätzung zu vermitteln. Das kann zum Beispiel durch die Förderung künstlerischer und sportliche Aktivitäten erreicht werden. Frei Luciano berichte von einem erfolgreichen Jugendorchester in Porto Alegre, bei dem 600 Jugendliche aus armen Stadtteilen gezielt unterstützt werden. Weiterhin ist es zentral den Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen zu fördern.
Bei Fällen von straffällig gewordenen Jugendlichen ist es wichtig Alternativen für den üblichen Jugendstrafvollzug zu entwickeln. Denn die Justizanstalten wirken meist als eine „Schule der Gewalt“ in der die Jugendlichen in Kontakt mit dem organisierten Verbrechen geraten. Frei Luciano berichtet über seine Erfahrungen mit Ansätzen der restaurativen Gerechtigkeit. Dabei handelt es sich um alternative Form der Konflikttransformation, Alternative zu gängigen gerichtlichen Strafverfahren oder auch gesellschaftliche Initiativen außerhalb des Staatssystems. In den Sitzungen de restaurativen Gerechtigkeit (ciclos restaurativas) treffen direkt Beteiligten (Geschädigte, Beschuldigte) und Mitglieder der Gemeinschaft zu einer Suche nach Lösungen zusammen. Dabei wird auf Wiedergutmachung materieller und immaterieller Schäden und die Wiederherstellung von positiven sozialen Beziehungen abgezielt.
Mit dem Arbeitskreis für „Gerechtigkeit in der Gemeinschaft“ bemüht sich Centro de Promoção da Criança e do Adolescente São Franciso de Assis (CPCA) um Mediation von Konflikten innerhalb der Gemeinschaft, um Konflikte zu lösen ohne sie vor Gericht bringen zu müssen.
Siehe auch:
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Interview mit Pater Frei Luciano Bruxel auf dem Internetportal der Konferenz Weltkirche.
1 http://www.mds.gov.br/assistenciasocial/suas