Forum 2

„Mediale Gewalt – Kriminalisierung der Sozialen Bewegungen auf dem Land“

Input: Wolfgang Hees (amig@s do MST), Moderation: Thomas Schmidt (KoBra), Protokoll: Sophie Unger

Protokoll als PDF

Thomas Schmidt (KoBra) & Wolfgang Hees (Amigos do MST)

 

Geschichtlicher Abriss der Sozialen Bewegungen in Brasilien

  • Die Strukturen für den Großgrundbesitz stammen noch aus der Kolonialzeit. Seither besteht in Brasilien eine große Ungleichheit im Landbesitz, gegen die es von Anfang an immer wieder Proteste gab.

  • 1960: Das Landstatut (Estatuto da Terra) besagt, dass jene, die das Land bewirtschaften, dieses auch besitzen.

  • Mit dem Putsch 1964 verlor das Landstatut jedoch seine Wirkung.

  • Ab 1975 regten sich noch während der Militärdiktatur erneut politische Proteste auf dem Land gegen die ungleichen Besitzverhältnisse.

  • Ende der 1970er kam es zu ersten Landbesetzungen. Diese waren jedoch kaum organisiert.

  • 1985 wurde das erste Mal eine fazenda besetzt. Noch im selben Jahr gründete sich das Movimento Sem Terra (MST).

  • Mit CIMI (Conselho Indigenista Missionário) und CPT (Comissão Pastoral da Terra) fanden weitere Soziale Bewegung eine feste Organisationsstruktur. In dem Netzwerk La Via Campesina schlossen sich viele der neu entstandenen sozialen Bewegungen zusammen. Die hohe Diversität der Mitglieder spiegelt sich unterschiedlichen Gruppen wieder, die von Landkonflikten betroffen sind: Kleinbauern und Kleinbäuerinnen (MEPA), die Bewegung der Landlosen (MST), indigene Gruppen (CIMI), die Flussanrainer, die Bewegung der Landfrauen und die Landjugend umfasst.

 

Situation der Sozialen Bewegungen auf dem Land heute

  • Bis in die 1990er bestand unter der Bevölkerung Brasiliens ein breiter Konsens über die Notwendigkeit einer Agrarreform, welche durch eine positive Medienberichterstattung auf der politischen Agenda sehr präsent war.

  • Unter Präsident Cardoso veränderte sich jedoch die wirtschaftliche Situation im Land und damit auch die Stimmung in der Mehrheitsbevölkerung. Die Wirtschaft wurde modernisiert und auf den Export ausgerichtet (besonders bei Zucker, Ethanol und Soja).

  • Politisch gab es zu dieser Zeit noch viele Möglichkeiten, freies Land zu besetzen und später überschrieben zu bekommen. Jedoch wurde gegen die Bewegungen auf dem Land Stimmung gemacht („aus dem Ausland finanziert“, „korrupt“) mit dem Ziel, die Bewegungen lahm zu legen und zu kriminalisieren.

 

Besuch von zwei MST-Vertreterinnen Ana Justo und Isis

Die beiden tragen die aktuelle Sitaution auf dem Land vor. Die Agrarreform ist blockiert und nicht auf der politischen Tagesordnung. Die Unterstützung des Kampfes um Land nimmt in der brasilianischen Bavölkerung ab. Die Gründe dafür wurden am Vormittag ausführlich diskutiert (siehe unten) und von den beiden bestätigt.

Kleinbäuerliche Landwirtschaft und exportorientiertes Agro-Business stehen sich als verschiedene Modelle gegenüber. Obwohl die kleinbäuerliche Landwirtschaft zu 70% die brasilianische Nahrungsmittelversorgung sichert und 80% der Arbeitsplätze auf dem Land stellt, erhält die Agrarindustrie mit Abstand mehr Kredite und politische Unterstützung.

Durch MST sind zur Zeit 90.000 Familien in Lagern (acampamentos) und 400.000 in Siedlungen assentamentos) im Kampf um Land. Weitere Organisationen kommen hinzu.

Angesichts dieser Situation diskutiert die MST zur Zeit neun prioritäre Aktionsfelder:

  1. Kampf um Land, Demokratisierung des Landes

  2. Schutz der natürlichen Güter der Erde

  3. Schutz des Saatgutes

  4. Produktion gesunder Lebensmittel

  5. Souveränität der Energieversorgung

  6. Erziehung und Ausleben von Kultur unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten auf dem Land (auch Hochschulstudium)

  7. Arbeiter_innenrechte gegen Sklavenarbeit

  8. Gute Lebensbedingungen für alle

  9. Staats- und Politikreform

Diese Punkte werden bis zum VI. Nationalkongress im Februar 2014 in Brasilien diskutiert und werden dort auch Thema sein. Die MST erwartet 15.000 Teilnehmende und lädt alle Solidaritätsgruppen und amig@s herzlich zu Kongress ein!

 

Wieso hat sich die gesellschaftliche Stimmung von einer Zustimmung zur Ablehnung einer Agrarreform entwickelt?

  • Unter der Regierung der PT (von Lula bis heute) passierte wenig bzgl. einer Agrarreform. Heute zielt die Regierungspolitik weitgehend darauf, die Sozialen Bewegungen in Schach zu halten und sie gleichzuschalten. Gegen den politischen Protest wird nicht mit harter Kriminalisierung vorgegangen, vielmehr wird versucht, die Bewegungen durch soziale Programme zu akkommodieren.

Sozialpolitik statt struktureller Veränderung

  • So garantiert die Regierung bspw. in dem Programm bolsa familia die Abnahme und einen fairen Preis für kleinbäuerliche Produkte, welche für die schulische Ernährung verwendet werden. Die Regierung unterstützt mit den assistenzialistischen bolsa-Programmen jene Familien, die schon angesiedelt sind. Jedoch ist keine Agrarreform – und damit keine strukturelle Veränderung – in Sicht, welche landlosen Familien langfristig und regierungsunabhängig zu lebensnotwendigem Land verhelfen würde.

  • Im Gegenzug verpflichten sich die Empfänger_innen von Mitteln aus den bolsa-Programmen, nicht an Landbesetzungen teilzunehmen. Anderweitig droht ihnen, von den Hilfeleistungen ausgeschlossen zu werden. Auf diese Weise sicherte sich die PT-Regierung eine positive Rezeption unter der armen Bevölkerung.

  • Die Notwendigkeit von strukturellen Veränderungen ist an der Basis schwer zu vertreten, da es sich um ein abstraktes Problem handelt und die Menschen an der Basis in erster Linie an dem konkreten Ziel der Landtitel interessiert sind. Aus dieser Perspektive wollen die Menschen in erster Linie „dazu gehören“ anstatt die gesellschaftlichen Strukturen zu verändern. Eine Teilhabe aller ist jedoch ohne eine strukturelle Veränderung nicht möglich.

 

Medien

  • Auf Umwegen wird die Kriminalisierung der Sozialen Bewegungen fortgesetzt v.a. durch die Medien, welche entweder ausschließlich negativ über soziale und politische Proteste berichten, oder diese vollständig ignorieren.

 

Selbstdarstellung der Agroindustrie als soziales Unternehmen

  • Dabei wird häufig die angebliche „win-win“-Situation von kleinbäuerlichen Landverkäufen und Vertragsarbeit in den Vordergrund gestellt. Das Bild vom bösen latifundário hat sich gewandelt. Heute präsentieren sich die Großgrundbesitzer als smarte und in Kommunikation gut geschulte Unternehmer.

 

Ländereien, die für Besetzungen geeignet wären, werden knapp.

  • Es gibt kaum mehr unbewirtschaftetes Land im Zentralen Westen und im Südosten, was den Preis in die Höhe treibt.

  • Ausländische Agrarinvestitionen steigen stetig.

  • Viele Großgrundbesitzer verfügen heute über Frühwarnsysteme mit denen Besetzungen leicht in ihren Anfängen entdeckt und vertrieben werden können. Wandernde Viehherden werden bei drohender Besetzung kurzfristig auf das entsprechende Land gestellt, um dessen Nutzung vorzutäuschen.

 

Das Ansehen von Indigenen und Angehörigen des MST sinkt.

  • Mit Verweis auf den großen Landverbrauch und die geringe Anzahl von Bewohner_innen wird in der politischen Debatte überlegt, die indigenen Territorien zu revidieren.

  • So gab es bspw. keinerlei Berichterstattung über das Zusammentreffen von Landlosen und Indigenen dieses Jahr.

 

Intern macht es sich die Bewegung selbst sehr schwer.

  • Aus dem diesjährigen Zusammentreffen sämtlicher Sozialer Bewegungen sind keine übergreifenden Organisationsstrukturen entstanden, da viele Bewegungen lokal verhaftet und durch Grabenkämpfe getrennt sind.

 

Unterstützung der Bewegungen von außen schwierig

  • scheitert oft an Kleinigkeiten wie dem Mangel von IT-Equipment.

  • Weiterhin ist es für Außenstehende oft schwierig, nur die Organisationsstrukturen zu unterstützen, ohne das konkrete Zielsetzungen und Ergebnisse zu erkennen sind.

 

 

Gestiegene Beschäftigungsquote vs. Industrialisierung der Landwirtschaft

  • Manche – aber nicht alle – politisch aktiven Landlosen nun ein Auskommen haben.

  • Das Problem dabei: Häufig sind es die fittesten Aktivisten auf Besetzungen, welche auch als erste einen Job bekommen.

  • Dementsprechend fehlen für Folge-Besetzungen oft die engagierten Aktiven.

  • Andererseits fallen in Folge der Industrialisierung der Landwirtschaft die auf den Felder arbeitenden Tagelöhner zunehmend in die Arbeitslosigkeit ohne an Landbesitz heranzukommen.

 

Risiken der Besetzenden

  • Einerseits ist es selbst bei einer erfolgreichen Besetzung nicht gesichert, dass jede der teilnehmenden Familien ein Stück Land bekommen wird.

  • Andererseits stellen das Vorgehen von Polizei und die Machenschaften der Pistoleros eine konkrete Gefahr der eigenen Sicherheit dar.

  • Besonders im Nordosten brechen viele Familien die Teilnahme an Besetzungen ab. Daher werden Landnahmen immer mit mehr Familien durchgeführt, als tatsächlich auf dem Gebiet angesiedelt werden können.

  • Dadurch kann es allerdings auch vorkommen, dass nach erfolgreicher Besetzung nicht alle Familien ein Stück Land bekommen und deswegen an weiteren Besetzungen teilnehmen müssen.

 

Einflussnahme in Senat/Parlament

  • Die starke Agrarlobby beeinflusst den Senat zu Gunsten von Gesetzgebungen, welche den Weg ebnen für die fortgesetzte Abholzung des Regenwaldes und weitere Staudämme.

  • Im Zuge des Programms zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums von 2007 (PAC – Programa de Aceleração do Crescimento) betreibt die Regierung eine wirtschaftsfreundliche Politik.

  • Andererseits hat auch das MST einige Leute im Parlament sitzen. Weiterhin gibt es auch zahlreiche pro-MST-Bürgermeister.

 

Generationenkonflikt

  • In den Gemeinden kommt es vor, dass während die Elterngeneration (40-50 Jährige) noch mit Besetzungen für ihre Landtitel gekämpft hat, die jungen Menschen in großen Teilen das Land verlassen und in die Stadt abwandern, da städtische Berufe mehr Einkommen generieren als die Arbeit auf dem Land.

  • In diesem Fall ist das Problem nicht der Mangel an Land, sondern vielmehr die Unlust der nächsten Generation, dieses Land auch bewirtschaften zu wollen.

  • Es gibt jedoch auch Fälle von jungen Menschen, die sich bewusst für ein Leben auf dem Land und gegen die Arbeit in der Stadt entscheiden.

 

Ökologische Bewusstsein der Landlosen-Bewegung

  • Neues Phänomen

  • Während die Bewegung in der Anfangszeit noch die Arbeitsweisen der Agrarwirtschaft nachahmen wollte, grenzt sie sich heute bewusst von dieser ab und setzt explizit auf ökologisch und sozial nachhaltige Landwirtschaft.

 

Ergänzender Text: Reinvenar o MST para continuar sendo MST von Edgar Jorge Kolling, 21.10.2013