Treffen der Brasilien-Solidarität im November 2021

Bolsonaros Hassmaschine, die Zerschlagung des Staates und der Widerstand der Kleinbäuer*innen und traditionellen Gemeinschaften
| von Laura Held
Treffen der Brasilien-Solidarität im November 2021
Screenshot des Forum 2 mit RTB-Logos

Der diesjährige Runde Tisch Brasilien vom 26.-28. November 2021, das wichtigste jährliche Treffen der Brasiliensolidarität im deutschsprachigen Raum und Brasilien war als Hybrid-Tagung im Kloster Höchst geplant (die immer sehr zahlreichen brasilianischen Gäste wurden online zugeschaltet) und wurde dann sehr kurzfristig zu "Online Only"-Tagung - in weniger als einer Woche wurde alles umorganisiert.

Das Thema lautete Brasilien: Kampf gegen soziale Ungleichheit in der Pandemie und bestand aus vier hochkaratigen Livestream-Debatten, ausschließlich besetzt mit Expert*innen aus Brasilien – nur die Moderation übernahmen einige der 25 KoBra-Mitgliedsorganisationen. Alle wurden professionell simultan gedolmetscht, dazu kamen einige Workshops und moderierte Tische. Kampagnen, Links, weitere Informationen sowie eine ausführliche Dokumentation werden auf der KoBra-Seite in Kürze www.kooperation-brasilien.org veröffentlicht werden:

„Ein verwüstetes Land“

Die Eröffnungsdebatte gab eine gute Einführung in die aktuelle Situation. Leonardo Sakamoto von Repórter Brasil skizzierte ein bedrückendes generelles Panorama: In den 1060 Tagen, seit Jair Bolsonaro durch einen Staatstreich die Präsidentschaft übernahm, hinterließen vor allem unter den Prekarisierten, informell Beschäftigten, Indigenen, Schwarzen, Frauen zahlreiche Verwüstungen: 14,8 Millionen Arbeitslose, 19 Millionen leiden Hunger, eine galoppierende Inflation, zunehmend Stromausfälle: eine hungernde, verzweifelte, verarmte Bevölkerung. Dazu ein Präsident, der sich nach 1000 Tagen von seinen Anhänger*innen mit Jubelchören feiern ließ.

„Dieser Mann ist nie von der Wahlkampftribüne hinunter gestiegen“, sagte Sakamoto und vor den Wahlen 2022 wird er auch nicht aus dem Wahlkampfmodus aussteigen. Große Teile des Parlaments und zahlreiche Parteien stehen hinter ihm, so dass Bolsonaro bisher 140 Anträge auf Amtsenthebung unbeschadet überstand. Zu den Bolsonaro-Unterstützer*innen zählen das Agro-Business, Teile des Finanzkapitals, radikale christliche Fundamentalisten, Goldschürfer, Holzfäller und Polizei, Militär und Milizen (Paramilitärs) – und für die macht er auch Politik. Sakamoto benutze immer wieder die Wörter: Zerschlagung, Zerrüttung des Staates und seiner Organisationen und der Errungenschaften der Verfassung von 1988.

„Die Geißel des Hungers ist zurück, vor allem in den indigenen Gebieten.“

Es folgte Valéria Burity von FIAN Brasil, die vor allem die katastrophale gewordene Ernährungssituation für einen großen Teil der Bevölkerung analysierte, die sie ganz klar auf das Primat der Austeritätspolitik vor Ernährungssicherheit zurückführte. Der Abbau von sozialen Transferleistungen wie Bolsa Família, die fehlende Unterstützung von Kleinbäuer*innen, die die Ernährung von 77 Prozent der Bevölkerung sicherstellen, und die steigende direkte und strukturelle Gewalt gegen Arme und Schwarze sind nach ihrer Darstellung Grund für die zunehmende Ernährungsunsicherheit im Land. Der Hunger ist in den letzten zwei Jahren um 25 Prozent gestiegen, wie eine aktuelle brasilianische Statistik nachweist.

Fausto Augusto Junior von DIEESE (Gewerkschaftliches Institut für Statistik und sozioökonomische Studien) ergänzte den Überblick mit einem Blick auf den formellen und informellen Arbeitsmarkt. Auch er sprach von Zerschlagung/ Dekonstruktion des Staates, aber diese habe nicht mit Bolsonaro begonnen, schon der Lavajato-Korruptionsprozess sei dazu benutzt worden, ein neues Wirtschafts- und Sozial Modell zu implementieren. Das habe zum Verlust von 4,5 Millionen Arbeitsplätzen geführt, die Sozialpolitik sei eingefroren worden, die Reformen der Arbeitsgesetzgebung habe auch den formellen Arbeitsmarkt destabilisiert, die Gewerkschaften werden massiv behindert.

„Die Arbeitsrechte in Brasilien sind auf den Stand der 1940er Jahre gesunken“

Fausto Augusto betonte die Bedeutung des riesigen informellen Arbeitssektors, rund 60 Prozent der Menschen arbeite ohne jede Absicherung wie Arbeitslosengeld, Mutterschutz, Gewerkschaften. Von 100 Millionen Beschäftigten haben 30 Millionen Menschen reguläre Arbeitsplätze, 10 Millionen arbeiten in staatlichen Einrichtungen, drei bis vier Millionen zählen als Arbeitgeber. Es gibt fast 15 Millionen Arbeitslose, fünf Millionen sind aus den Statistiken verschwunden. Die Zerschlagung der Gewerkschaften u.a. durch Ausdünnen ihrer Finanzquellen habe nicht nur Folgen für den Arbeitsmarkt, zivilgesellschaftliche Bewegungen wie die Landlosenbewegung verlieren einen wichtigen Partner.

Die Privatisierung in allen Bereich, nicht nur Petrobras wurde privatisiert, auch die Post, Teile des Gesundheitssystems und der Sozialtransfers, führte zu einem massiven Staatsabbau, hat aber auch einigen Menschen satte Gewinne beschert.

In die anschließende Diskussion ging es um die Chancen von Lula bei den Präsidentschaft Wahlen 2022 gegen Bolsonaro und die Möglichkeiten eines dritten Weges (Aldo Moro u.a.) Leonardo Sakamoto und Fausto Augusto wiesen darauf hin, dass Bolsonaro zwar Anhängerschaft verloren hat, aber er verfügt über die „Hass Maschine“ der sozialen Medien, den Regierungsapparat, Teile des Mitte-Lagers und eine radikalisierte extremistische Anhängerschaft, die er jederzeit mobilisieren könne. Und auch wenn Lula die Wahlen gewinne sollte, es sei ein verwüstetes Land, die Instrumente der sozialen Sicherung zerstört, es müsse alles wieder neu aufgebaut werden.

„Die Klimapolitik Brasiliens, der katastrophalste Weg, den man einschlagen kann.“

Samstagmorgen folgten verschiedene Workshops. Thomas Fatheuer vom FDCL referierte über Brasiliens Klimapolitik. Die Klimapolitik Brasiliens bezeichnete er als den katastrophalsten Weg, den man einschlagen kann. Weitere Workshop Themen waren die Fachkräftevermittlung mit öffentlicher Förderung von Süd nach Nord, die UN-Nachhaltigkeitsziele und ein Projekt am Rio Pardo, Bahia sowie das Konzept der kollektiven Identität in Brasilien mit Aderval Costa Filho, Anthropologe der Bundesuniversität von Minas Gerais.

„Eine Amnestie für den Genozid kommt für uns nicht in Frage.“

Die Corona-Pandemie ist für Brasilien eine humanitäre Katastrophe, erläuterte Valdevir Botha vom Bildungs- und Beratungszentrum CEAP. Und dann wies er minutiös nach, welchen Anteil die Politik daran hat: er nannte u.a. das Einfrieren aller Sozialausgaben nach dem Staatstreich 2016 gegen Dilma Rousseff, noch unter Temer mit dem Dekret 95 EC, das zum „Einsparen“ von 40 Milliarden Reais zwischen 2018 und 2022 führte , über die neue Politik zur brasilianischen Gesundheitsgrundversorgung 2017, die das bisherige Gesundheitssystem SUS einschränkte, über die unter Bolsonaro getroffenen Neuerungen wie die Abschaffung des Programms Mais Médicos (Mehr Arzte) 2019 und die Abschaffung aller Gesundheitsräte und -Komitees auf regionaler, Landes- und Bundesebene, „das Ende der Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Gesundheitsversorgung.“

Das führte dazu, dass die Pandemie 2020 auf eine schon geschwächte und völlig unvorbereitete Bevölkerung traf. Es gab keine Masken, keine Impfangebote und die Bundesregierung tat nichts, ja Jair Bolsonaro machte sich öffentlich lustig über die „angeblichen“ Coronatoten und leugnete die Gefahren von Corona. Wie in allen Behörden setzte Bolsonaro auch im Gesundheitsministerium viele Militärs ein, in den meisten Fällen ohne jede gesundheitliche Vorbildung, das half auch nicht bei der Bekämpfung der Pandemie. 2020 wurde keinerlei Geld in den Bundeshaushalt zur Bekämpfung der Corona-Pandemie eingestellt, 2021 immerhin vier Milliarden Reais, das ist aber viel zu wenig, es werden mindestens 20 Milliarden Reais gebraucht, angesichts der enormen Auswirkungen: am 18.11.2021 waren es 612.177 Coronatoten. Opfer waren vor allem Arme, Schwarze, Indigene, Schwangere und junge Mütter. Es gibt 130.000 Corona Waisen, darunter 12.000 unter sechs Jahren. Angesichts dieser Zahlen scheute sich Valdevir Both nicht, von einem „Genozid, den die brasilianische Regierung zu verantworten hat“ zu sprechen. Niemand könne eine Pandemie verhindern, aber durch den Abbau des bestehenden Gesundheitssystems im Vorfeld und das anschließende Nichthandeln und Leugnen der Pandemie, sei die Opferzahl viel, viel höher, als sie hätte sein müssen. Die Bolsonaro-Regierung hat ständig die falschen Entscheidungen getroffen, ihr „die Wirtschaft geht vor“ kostete sehr viele Menschenleben. Dazu kommen die vielen korrupten „Deals“ um den Kauf von Masken, Beatmungsgeräten und Impfdosen, die zurzeit in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu Covid aufgearbeitet werden.

Eigentlich gibt es eine sehr gute Impfkultur in Brasilien, wie man an den Impfquoten in São Paulo und Rio de Janeiro sehen kann (über 100 Prozent, im Amazonasgebiet jedoch unter 35, das liegt aber nicht daran, dass die Menschen sich nicht impfen lassen wollen, sondern es gibt keine Impfangebote), es hätte auch genügend Labore und Produktionsmöglichkeiten für Masken, Tests und Impfstoffe gegeben, aber der politische Wille dafür fehlte.

„Wir sind entscheidend für die Ernährung der Bevölkerung.“

In dem zweiten Panel am Samstag ging es um das Thema: Ökologisch angepasste und sozial gerechte Nahrungsmittelproduktion. Zunächst gab Aderval Costa Filho von der Bundesuniversität Minas Gerais einen theoretische Einführung zum Konzept des Territoriums und der Territorialität, bei der das Land keine Ware, sondern ein Lebensraum sei, der für seine Bewohner*innen nicht nur Nahrungsmittelspender, sondern auch Teil ihrer Geschichte, Kosmovision, Mythen, Rituale, Feste und Fruchtbarkeit sei. Danach kamen mit Jocélio Oliveira von der Landarbeiter*innen Föderation FETASE und Marleno Souza Santos von der Kooperative COOPERIN, zwei Kleinbauern aus dem kleinsten Bundesstaat des armen Nordostens zu Wort, die die Praxis zur Theorie lieferten. Sie teilten sich ein Handy, der Ton brach immer wieder zusammen, Marleno Souza war zweieinhalb Stunden gereist, um an dem Forum teilzunehmen. Beide sind an der Produktion und kooperativen Vermarktung von Orangen beteiligt. Aber auch wenn sie als Orangenpflücker*innen arbeiten, sind sich sehr darüber bewusst, dass sie als vor allem als Kleinbäuer*innen wichtig für die Ernährung der Menschen sind, dass der Verzicht auf Pestizide, die Nachzucht eigener Sorten und eine diversifizierte, angepasste Landwirtschaft Garanten für ihr Überleben sind.

„Die politische Kultur des Kochens darf nicht vergessen werden.“

Zuletzt sprach Tainá Marajoara vom Instituto Iacitatá in Belem, Köchin, Indigene und feministische Aktivistin. Sie hielt eine flammende Rede über den politischen Kampf für das Recht auf die einheimische Koch- und Ernährungskultur. „Wascht euch nicht die Haare mit unserm Essen“, rief Taina und bezog sich darauf, dass immer mehr Beauty-Firmen die heilenden und pflegenden Wirkstoffe von Regenwaldpflanzen anbieten, wie die Beere der Acai-Palme, das Andirobaöl u.a.

„Eine Überarbeitung der Abkommen reicht nicht aus, sie müssen komplett neu verhandelt werden, unter Beteiligung der traditionellen Gemeinschaften.“

Das letzte Forum beschäftigte sich ebenfalls mit dem „Handel mit Agrarprodukten: Zwischen EFTA/Mercosur und alternativen Konzepten“

Hier bezog die Moderatorin Silke Tribukait, Aktion Solidarische Welt gleich in der Anmoderation entschieden Stellung gegen die Freihandelsabkommen Mercosur (gerade in der Umsetzung) und EFTA, das noch vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wird. Mit der Unterzeichnung sei es leider verpasst worden, ein entschiedenes Zeichen gegen den Neoliberalismus zu setzen. Nun müsse vor der endgültigen Ratifizierung in den EU-Ländern versucht werden, nachzubessern.

Tatiana Oliveira von dem Institut für sozialwissenschaftliche Studien Inesc fand noch deutlichere Worte gegen die Abkommen. Es sei ein absolut intransparentes und ohne jede Beteiligung der Bevölkerung entstandenes Liberalisierungsabkommen, zudem sei die Unterzeichnung der Abkommen 2019 mitten in einer weltweiten demokratischen Krise getroffen worden, die in Brasilien dramatische Ausmaße angenommen hatte. Brasilien wird neokolonial als Lieferant von Grundprodukten festgeschrieben. Die Abkommen werden zu mehr Gewalt auf dem Land führen, weil immer mehr industrielle Landwirtschaft auf die Gebiete der kleinen und mittleren Bäuer*innen ausgedehnt werde. Auch das Anlegen neuer Verkehrswege für den Export wie die geplante Eisenbahn Ferrograo, die fast 1.000 Kilometer durch Regenwald von Sinop (Mato Grosso) bis zum Hafen Miritituba verlaufen soll und die Verstärkung des Überseeverkehrs werde zu mehr Umweltzerstörung führen. Leidtragende werden einmal mehr die traditionellen und indigenen Gemeinschaften sein. Eine Überarbeitung der Abkommen reiche nicht aus, sie müssten komplett neu verhandelt werden, unter Beteiligung der traditionellen Völker.

„Traditionelle Völker und Gemeinschaften müssen weiterkämpfen, damit wir weiterleben können.“

Neneide Lima vom Rede Xique Xique, einem regionalen und national aktiven Netzwerk zur Vermarktung agrarökologischer Produkte, machte den Anfang. Neneide Lima ist Imkerin, Feministin und Koordinatorin der Vermarktung bei Xique Xique. Die Corona-Pandemie hat sie hart getroffen, Märkte waren geschlossen, Treffen nicht mehr möglich, aber sie übernahmen die Auslieferung von den Produzent*innen zu den Verbraucher*innen einfach selber und hielten den Kontakt unter ihren Mitgliedern online, außerdem führten sie erfolgreiche Verhandlungen mit dem Bundesstaat.

Maria Alaides Alves de Sousa, von der MIQCB Bewegung der Babassunuss-Sammlerinnen, die bereits 30-jähriges Bestehen feiert, erzählte, es seien fast 100.000 Frauen jeglicher Hautfarbe und Ethnie, viele davon landlos, die als Babassunuss Sammlerinnen in vier Bundesstaaten arbeiteten und dabei bis heute ihr Territorium verteidigen. Sie haben das Recht, die Nüsse der Palmen zu pflücken, auch wenn sie auf „Privatgrundstücken“ stehen, werden aber immer wieder daran gehindert, durch Elektrozäume und Großprojekte. Immer öfter werden direkt neben den Babassunuss-Hainen landwirtschaftliche Flächen errichtet, Rinderzucht, Eukalyptusplantagen, es wird Gift gesprüht, auch aus Flugzeugen. Maria Alaides berichtete, wie sie sich immer besser selbst organisieren, sich gegen Landvertreibung wehren, sich selbst um die Vermarktung der Nüsse kümmern, aus der viele unterschiedliche Produkte gewonnen werden. Die Pandemie hat sie hart getroffen, sie hatten viel Tote zu beklagen und konnten nicht mehr gemeinsam arbeiten (normalerweise sitzen die Frauen im Kreis und knacken die Nüsse gemeinsam), aber sie haben sich – auch mithilfe des Internets, überwiegend über Sprachnachrichten – weiterhin vernetzt und neue Vertriebswege gefunden.

„Es geht um die Wertschätzung der regionalen solidarischen Wirtschaftsmodelle, um Autonomie und territorialer Integrität.“

Wie Tatiana Oliveira abschließend feststellte, sind es Frauen wie Neneide Lima und Maria Alaides, die Kooperativen von Kleinbäuer*innen, die regionalen Märkte und die Pflückerinnen, die Zeichen und Beispiele eines anderen Wirtschaftsmodells sind. Sie leisten aktiv Widerstand, sind in regionalen Netzwerken organisiert, aber auch international vernetzt. Sie schaffen Arbeitsplätze und handeln mit gesunden Nahrungsmitteln, sie sichern das Überleben. Es geht um die Wertschätzung der regionalen solidarischen Wirtschaftsmodelle, um Autonomie und territorialer Integrität. Das ist es, was wir brauchen, stellte sie fest, keine Liberalisierungsabkommen und CO2-Zertifikate, die nur zu mehr Gewalt, Umweltzerstörung und Vertreibungen führen.