Warnung vor Kollaps weiterer Gesundheitssysteme in Amazonien: Respira Xingu
47 Organisationen der Zivilgesellschaft (darunter indigene Schutzverbände wie CIMI und APIB und NGOs wie FAOR und Xingu vivo para sempre) fordern in einer gemeinsamen Stellungnahme Atme Xingu einen sofortigen Lockdown für die Amazonasstadt Altamira am Rio Xingu von der Stadtverwaltung. Altamira war durch den Bau des Megastaudamms Belo Monte stark angewachsen und in den Medien bekannt geworden. Heute leben dort knapp 116.000 Menschen. Nun steht das öffentliche Gesundheitswesen vor dem Kollaps und die Coronazahlen steigen ungebremst. Das öffentliche Leben lief bislang uneingeschränkt weiter. Brasiliens Präsident Bolsonaro verweigert sich dem Lockdown und beschimpfte Gouverneure, die sich seiner Weisung entzogen als Weicheier. Vor wenigen Tagen hat er mit dem Kardiologen Marcelo Queiroga seinen vierten Gesundheitsminister ernannt. Der Mediziner hat in einer ersten Stellungnahme dem Lockdown in extremen Situationen zugestimmt, ihn jedoch als bundesweites Instrument abgelehnt. Es fehlt weiter eine konsequente Strategie gegen Corona und für einen zügigen gerechten Impffortschritt in der Bevölkerung. Das Missmanagement der Coronakrise wird von Umweltwissenschaftler*innen und Aktivist*innen als bewusste Strategie gewertet. Lähmt die lebensbedrohliche Situation doch den Widerstand gegen die Deregulierung von Umwelt- und Landrechten im Amazonasgebiet. Sie werden von der Regierung Bolsonaro und ihren Verbündeten beharrlich vorangetrieben, um Unternehmen und Investor*innen nach Amazonien zu locken. Die Abwesenheit des Staates gefährdet geschwächte Gruppen wie Indigene, Ribeirinhos und Quilombolas in der Region Xingu nachweislich. Der Staat vernachlässigt seine Aufgabe in Menschenrechtsfragen wie die Antropologin Thais Mantovanelli in ihren Untersuchungen belegt. Sie weist einen schädigenden Bolsonaro-Effekt auf die traditionellen Völker und Gemeinschaften am Xingu nach. Indigene Schutzgebiete der Kayapó u.a. sind von illegaler Abholzung und Raubbau, dem Eindringen von Gold- und Bergbaufirmen massiv bedroht, ohne dass der Staat dagegen vorgeht. Das indigene Territorium der Trincheira-Bacajá (ebenfalls Munizip Altamira) lag nach Ermittlung der satellitengestützten PRODES-Entwaldungsüberwachung zwischen Juli 2019 und 2020 an vierter Stelle der illegal abgeholzten indigenen Schutzgebiete. Die Holz- und Landräuber lassen sich von Corona nicht aufhalten.
Für die Behandlung von Coronafällen ist in Altamira und 9 weiteren Gemeinden im Südosten Parás das öffentliche Krankenhaus der Region Transamazônica zuständig. Derzeit sind dort alle Beatmungsplätze vollständig belegt. Die schrecklichen Erfahrungen aus Manaus, wo im Monat Februar Patient*innen wegen mangelnder Sauerstoffversorgung gestorben waren, sollen sich in Altamira nicht wiederholen. Die zivilgesellschaftlichen Akteure fordern die Politik zum schnellen Gegensteuern auf.
Nach Angaben des sozial-ökologischen Instituts ISA wurden innerhalb von 24 Stunden wurden 187 neue Corona-Fälle in der Region festgestellt. 404 Corona-Tote und 20.700 Infektionsfälle sind bisher zu beklagen. Die Letalitätsrate beatmeter Patient*innen liegt bei 80-90%. Die Region am Rio Xingu umfasst 11 Terras Indigenas und sieben Schutzgebiete, die lokale Bevölkerung besteht u.a. aus Indigenen und Ribeirinhos (Kleinbauern im Flussuferbereich).
Die Impfquote in der Region liegt bei 0,7% und damit noch deutlich unter dem mittleren Wert des Bundesstaats Pará. Dessen Impfquote ist mit 2,8% eine der niedrigsten des Landes. Vorrangig geimpft wurde bislang ein Teil der indigenen Bevölkerung und Mitarbeitende im Gesundheitssystem.
Atme Xingu schlägt vor, die Einnahmen (royalities) aus dem Betrieb des Staudamms Belo Monte unverzüglich zur Corona-Bekämpfung einzusetzen. Zumal der Megastaudamm als Verursacher von Vertreibung, sozialer Destabilisierung und Hunger einzustufen ist. Für den Betrieb der Turbinen wird das Wasser des Rio Xingu gestaut und über zwei Kanäle zu den Turbinen abgeführt. Der Fluss ist unterbrochen und trocknet in der großen Flussschleife Volta Grande in Trockenzeiten aus. Dies war im gesamten Jahr 2020 der Fall, wie das movimento Xingu Vivo para sempre dokumentiert. Seither läuft der Kampf der Betroffenen für eine Wasserregulierung (Hydrogramm) bei kritischen Messpegeln mit der Umweltbehörde IBAMA. In der großen Flussschleife Volta Grande kommt nur noch 10% der vorherigen Wassermenge an. Der Fluss kann nicht mehr mit Booten befahren werden, er fällt als die sonst übliche Art der Fortbewegung aus. Bewohner*innen der Volta Grande wird die Nahrungsgrundlage entzogen. Viele Fische sterben durch die Trockenheit und das geänderte Fließverhalten aus. Selbstversorgungsgärten (roças) mussten wegen Wassermangel aufgegeben werden. Die Krankheit Malaria ist zurückgekehrt (ein Anstieg um 40% im Jahr 2020). Gewaltvolle Auseinandersetzungen um Landflächen mit Eindringlingen von außen haben zugenommen. Goldabbau-Unternehmen drängen in die Region (u.a. die kanadische Belo Sun an die Volta Grande), der geplante Goldabbau würde Böden und Wasser (hier mit Zyankali) vergiften und bedroht damit zusätzlich die lokale Bevölkerung. Die Bekämpfung von Corona muss Priorität bekommen, aber die Bevölkerung der Region leidet an vielen ungelösten Problemen.