Volkswagen do Brasil und die Militärdiktatur: Kritik trotz Entschädigungszahlungen
Volkswagen do Brasil hat sich im Rahmen der seit Ende 2017 in São Paulo stattfindenden außergerichtlichen Verhandlungen unter Vermittlung der brasilianischen Bundesstaatsanwaltschaft dazu bereit erklärt, Entschädigungszahlungen zu leisten. Damit stellt sich Volkswagen der historischen Verantwortung aufgrund der aktiven Beteiligung an politischer Verfolgung und Unterdrückung von Oppositionellen während der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985).
Dabei geht es um eine Summe in Höhe von insgesamt 36 Millionen Reais (derzeit umgerechnet rund 5,6 Millionen Euro), die in Individual- und Kollektiventschädigungen gezahlt werden sollen. Dies geht aus der am Mittwoch auf der Webseite der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo veröffentlichten Einigung hervor (siehe hierzu ausführlich weiter unten „Zum Hintergrund“).
Der Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre begrüßt diesen Schritt, da die überlebenden Betroffenen und deren Angehörigen nach knapp einem halben Jahrhundert endlich eine finanzielle Entschädigung erhalten. In Zeiten eines die Militärdiktatur verherrlichenden Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, setzt dies ein wichtiges Zeichen für Demokratie.
Es gibt aber mehrere Punkte, die der Dachverband kritisiert, der den Fall im Mai 2014 mit einem Redebeitrag auf der Aktionärsversammlung von Volkswagen mit ins Rollen brachte. Zusammen mit brasilianischen Organisationen hat der Dachverband seitdem von VW gefordert, die Aufarbeitung der Verstrickungen der Konzerntochter VW do Brasil in die brasilianische Militärdiktatur endlich in Angriff zu nehmen.
In Bezug auf die Individualentschädigungen ist festzuhalten, dass dieser Schritt viel zu lange gedauert hat. Die beiden wichtigsten Zeugen, die aus eigener Erfahrung von der Folter, zu der damals VW Beihilfe leistete, berichteten, Heinrich Plagge und Lúcio Bellentani, sind vor zwei beziehungsweise einem Jahr verstorben. Hinzu kommt, dass Betroffene des rücksichtslosen Geschäftsgebarens von VW do Brasil aus den 1970er Jahren schlicht vergessen wurden. „Die jetzt erfolgte Einigung ist in Fragen der Individualentschädigungen ein Schritt in die richtige Richtung, doch nicht alle Betroffenen werden damit entschädigt“, kritisiert Dachverband-Vorstand Christian Russau, der die Frage der Kollaboration von VW do Brasil mit den Repressionsorganen der Militärdiktatur seit Anfang 2014 bearbeitet. „Die ehemaligen Sklavenarbeiter:innen der VW-Fazenda Vila Cristalino wurden schlicht vergessen – das darf nicht so bleiben“, fordert Russau. Während der Militärdiktatur hatte Volkswagen mit Hilfe des Regimes auf einer Fläche von der Hälfte des Saarlandes eine Rinderfarm in Amazonien gekauft, auf der sklavenarbeitsähnliche Zwangsarbeitsverhältnisse herrschten.
Adriano Diogo – einer derjenigen, die 2015 die Klage gegen VW do Brasil bei der Bundesstaatsanwaltschaft in Brasilien eingereicht hatten – kritisiert die jetzt erfolgte außergerichtliche Einigung zwischen Staatsanwaltschaft und VW do Brasil ebenfalls deutlich: „Die Geschichte verschwindet in diesem Deal“, sagt der vormalige Präsident der Wahrheitskommission des Bundesstaates von São Paulo. „Volkswagen geht es um sein Image und sein Marketing. Die zu leistenden Spenden werden von dem Unternehmen als Wohltat und nicht wie eine Wiedergutmachung für seine Komplizenschaft mit der Diktatur dargestellt. So gesehen kommt Volkswagen sauber aus der Sache raus“, erklärten die an dem Fall seit September 2015 beteiligten Menschenrechtsgruppen gegenüber der Presse.
Dies sieht auch Christian Russau so. „Es ist zu befürchten, dass VW do Brasil in öffentlichen Erklärungen weiterhin von der sogenannten Einzeltäterthese des Werkschutzes ausgeht“, erklärt Russau. „Dies ist der offizielle Sprachgebrauch, den VW seit Dezember 2017 benutzt, um die eigene Verantwortung und Schuld zu kaschieren.“ Zum Erscheinen der Studie von Prof. Christopher Kopper teilte VW damals in einer Pressemitteilung mit, dass „eine Zusammenarbeit zwischen einzelnen Mitgliedern des Werkschutzes von Volkswagen do Brasil und der Politischen Polizei (DOPS) des früheren Militärregimes stattgefunden hat. Aber es konnten jedoch keine klaren Beweise gefunden werden, dass die Zusammenarbeit auf einem institutionellen Handeln seitens des Unternehmens basiert.“
Bereits 2017 kritisierte der Dachverband diese Sprachregelung von Volkswagen scharf: „Wenn der weisungsbefugte Vorstand von VW do Brasil über die Weitergabe von Informationen an das DOPS Bescheid wusste, und damals, wie Christopher Kopper schreibt‚ der Einsatz von Folter durch die politische Polizei bereits in der brasilianischen und in der deutschen Öffentlichkeit bekannt war‘, dann hat der damalige Vorstand von VW do Brasil wissentlich und billigend in Kauf genommen, dass sein ihm weisungsgebunden unterstellter Werkschutz Menschen der Folter ausgeliefert hat. Wann, wenn nicht in diesem Fall, sollte von Beihilfe zur Folter gesprochen werden?“, so Christian Russau im Dezember 2017.
Menschenrechtsgruppen, welche die Klage gegen VW do Brasil 2015 erarbeitet und bei der Bundesstaatsanwaltschaft eingereicht hatten, hatten zudem stets unmissverständlich einen musealen Erinnerungsort gefordert. Dieser museale Erinnerungsort müsse unter geschäftsführender und inhaltlicher Leitung der beteiligten Institutionen und der Arbeiterorganisationen stehen und habe die Aufgabe, die Geschichte des Widerstands der Arbeiterinnen und Arbeiter wiederzugeben. Der Ort solle Zeugnis über die schweren von Volkswagen und anderen Firmen begangenen Menschenrechtsverletzungen ablegen, die diese Firmen in Komplizenschaft mit dem brasilianischen Staat verübten.
Die nun von Bundesstaatsanwaltschaft und VW do Brasil ausgehandelte Einigung sieht jedoch nur einen Raum in einem thematisch anderen Museum der Rechtsanwaltskammer OAB vor. Pikant: Der bereits laufende Bau des Museums soll mangels anderer Finanzmittel nun mit den VW-Geldern fertiggestellt werden. Dabei hatten die verschiedenen Menschenrechtsgruppen mit der Stadt bereits einen geeigneten Erinnerungsort auserkoren: die Galerie Prestes Maia, zentral in São Paulo gelegen. Diese Option ist nun, ohne die Gelder aus dem VW-Topf, nicht mehr realisierbar.
Zum Hintergrund:
Ziel der von drei Bundesstaatsanwaltschaften geleiteten Verhandlungen war der Versuch, zwischen den Beteiligten – den von Repression seitens des VW Werkschutzes in den 1970er Jahren betroffenen VW-Mitarbeiter:innen, Menschenrechtsgruppen sowie Gewerkschaftsverbänden und der Firma VW do Brasil – eine Einigung zu erzielen. Diese soll ohne eine explizite Verfahrenseröffnung vor Gericht auskommen, da der Gerichtsweg angesichts des in Brasilien immer noch gültigen Amnestiegesetzes von 1979 sowie aufgrund der Lehren der vergangenen Jahre über transitional justice für beide Seiten Unwägbarkeiten und vor allem jahrelangen Rechtsstreit bedeuten würde. Mit der nun erfolgten Einigung halten die drei zuständigen Bundesstaatsanwaltschaften fest, dass VW do Brasil keine weiteren Gerichtsverfahren mehr zu befürchten habe.
Die Einigung über die Verteilung der 36 Millionen Reais sieht im Einzelnen folgende Punkte vor:
- 16,8 Millionen Reais werden von VW do Brasil an die Opfervereinigung „Associação Heinrich Plagge“ als Individualentschädigungen gespendet, die unter Aufsicht unabhängiger Ombudspersonen die Gelder an die rund 60 antragsberechtigten ehemaligen VW-Arbeiter:innen nach festzulegenden Kriterien verteilt.
- 9 Millionen Reais gehen an die bundes- und landesstaatlichen sogenannten Fonds zur Verteidigung und Wiedergutmachung verschiedener Rechte. Die unter staatlicher Aufsicht stehenden Fonds können dann hinterher mit dem Geld verschiedene Projekte ihrer Wahl finanzieren.
- Weitere 10,5 Millionen Reais sollen in den Bereich Kollektiventschädigung fließen.
- 6 Millionen Reais davon werden für die Fertigstellung des bereits im Bau befindlichen Erinnerungsmuseums Memorial da Luta por Justiça, das die Rechtsanwaltskammer von São Paulo in der Av. Brigadeiro Luís Antônio errichtet, fließen. Dort soll dann auch ein Raum, laut der nun getätigten Einigung, zur Erinnerung an die Kämpfe und Widerstände der Arbeiter:innen gegen die Militärdiktatur eingerichtet werden.
- 2,5 Millionen Reais gehen an die Universidade Federal de São Paulo (Unifesp) zur fortführenden Finanzierung der archäologischen und forensischen Untersuchungen der 1990 in einem geheimen Massengrab im Bezirk Perus, São Paulo, gefundenen sterblichen Überreste von bis heute noch unidentifizierten Opfern der Militärdiktatur.
- 2 Millionen Reais gehen ebenfalls an die Unifesp, um damit Stipendien an Forscher:innen zum Thema weiterer Kollaborationen von brasilianischen und multinationalen Firmen mit der Militärdiktatur in Brasilien zu fördern.
- Zudem verpflichtet sich VW do Brasil, in mindestens zwei großen Tageszeitungen des Bundesstaats São Paulo eine Erklärung zur Frage der Kollaboration der Firma mit den Organen der brasilianischen Militärdiktatur abzudrucken.
// Berlin, Köln, Dachverband der Kritischen Aktionär:innen, 25.9.2020