Traum oder Alptraum? Brasiliens Metamorphose vom sozialen Vorzeigeland zum Polizeistaat
Mit dem Schritt ins neue Jahrhundert setzte in Brasilien ein Wirtschaftsboom ein, wie ihn das Land nie zuvor erlebt hatte. Dieser Aufschwung machte sich besonders 2001 bemerkbar: In diesem Jahr zählte der britische Ökonom Jim O’Neill, Chefanalyst beim Finanzdienstleister Goldman Sachs, Brasilien zu jener auserwählten Gruppe von Ländern, die seiner Meinung nach alle Voraussetzungen erfüllten, um in den kommenden fünfzig Jahren die bisherigen Supermächte zu übertrumpfen: Brasilien, Russland, Indien und China. Diese BRIC-Gruppe begann 2006 im Rahmen der UN, verstärkt zu kooperieren. 2011 trat Südafrika den nunmehr so genannten BRICS-Ländern bei. Zusammen erwirtschaften sie derzeit bereits 21 Prozent des weltweiten BIP, und sie verzeichnen die höchsten Wachstumsraten weltweit.
Aus der Weltwirtschaftskrise 2008/09 war Brasilien einigermaßen unbeschadet hervorgegangen. 2011 beflügelte eine weitere Nachricht das Ego des Landes: Auch wenn die Wirtschaftsleistung zu stagnieren begann, hatte sein BIP das von Großbritannien übertroffen und Brasilien auf Platz sechs der größten Volkswirtschaften in der Welt befördert. Weitere Faktoren bestärkten auch den Rest der Welt in der Annahme, dass Brasilien auf dem richtigen Weg sei: 2010 war die Arbeitslosenquote mit 6,7 Prozent eine der niedrigsten der letzten Jahre, und die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT), Ikone der Linken in Lateinamerika, blieb seit 2003 auch stabil an der Regierung.
Die PT-Regierung hatte somit lange Zeit nichts zu befürchten. 2010 schied der damalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva mit einem Weltrekord an Beliebtheit aus dem Amt – in Umfragen erzielte er 87 Prozent Zustimmung. Wohlfahrtsprogramme wie »Bolsa Família« hatten Millionen Menschen aus extremer Armut verholfen. Ein schlagender Beweis für die Macht des vormaligen Gewerkschafters Lula war auch die Wahl der ehemaligen Präsidialamtschefin Dilma Rousseff zur Präsidentin.
Trotz ihres umstrittenen, harten Regierungsstils, der sich sehr von dem ihres Mentors Lula abhebt, gab es für Rousseff bis Frühjahr 2013 ebenfalls keinen Anlass, sich zu beklagen. Im März 2012 betrugen ihre Zustimmungswerte 72 Prozent, im März 2013 waren sie auf 79 Prozent angestiegen. Drei Monate später jedoch wendete sich das Blatt.
Vom Wunderland zum Schlachtfeld…
Mitte Juni begann eine Gruppe von jungen Menschen, welche die Fahrpreiserhöhungen bei öffentlichen Transportmitteln in São Paulo ablehnte, zu protestieren. Die gewaltvolle Repression, mit der die Polizei auf die Demonstrierenden reagierte, scheint einen Riss im Mauerwerk eines Damms aufgetan zu haben, hinter dem sich ein gewaltiges Unbehagen angestaut hatte: In den folgenden Wochen gingen die Menschen zu Hunderttausenden auf die Straße und es sollten so viele werden wie nie zuvor. Die Ablehnung der Fahrpreiserhöhung war bald nicht mehr die zentrale Forderung der Protestierenden, auch wenn sich Gouverneure und Bürgermeister sowohl von der Regierungskoalition als auch der Opposition gezwungen sahen, die Erhöhung zurückzunehmen.
Von einem Tag auf den anderen hatte sich das Wonderland Brazil in ein »Schlachtfeld« verwandelt. Gekämpft wurde auf ihm gegen Korruption, Missachtung von Menschenrechten, Angriffe auf soziale Rechte sowie auf die Rechte von Frauen, Homosexuellen und Indigenen. Ein Großteil der Kritik richtete sich an die Regierung und ihre Politik, beziehungsweise auf die Abwesenheit von sozialer Politik. Von Juni auf Juli sanken die Zustimmungswerte von Präsidentin Rousseff auf 31 Prozent ab.
Der große Wunsch nach Veränderung der Machtstrukturen, die durch die vorhergehenden Regierungen zutiefst neoliberal geprägt waren, hatte der PT 2003 zur Präsidentschaft verholfen. Doch es dauerte nicht lange, bis die PT-Regierung durchblicken ließ, dass sie im Namen dessen, was sie »Regierbarkeit« nannte, keine radikalen Brüche vorsah.
Der konservative Kurs der PT offenbarte sich zunächst auf dem Land. Bereits in Lulas erstem Jahr öffnete die Regierung auf Druck der parlamentarischen Interessenvertreter des einflussreichen Agrobusiness Brasilien für die Gentechnik. Einem Gesetz, durch das Brasilien frei von genetisch veränderten Organismen bleiben sollte, erteilte sie eine Absage. Für UmweltschützerInnen, Kleinbauern und -bäuerinnen, die auf progressive Lösungen für die sozio-ökologischen Probleme setzten, war dies das erste Signal dafür, dass die Aussichten nicht so vielversprechend waren, wie sie gehofft hatten.
Da die Exporte von Soft Commodities (d.h. börsengehandelte Agrarrohstoffe) wie Soja, Mais oder Fleisch erheblich zur Steigerung des BIP beitrugen, betrachtete Lula die Agrarindustrie als Prestigeobjekt. Begeistert vom Boom der extensiven Land- und Viehwirtschaft, ging der damalige Präsident noch weiter und schuf großzügig Anreize, um die Zucker- und Alkohol-Branche auszubauen. Die Oligarchen der Zuckerrohr-Monokulturen nannte er »Helden«. Lulas Ziel war, Brasilien zum weltweit führenden Hersteller von Agrarrohstoffen zu machen.
… von Landreform zur Monokultur
Gleichzeitig investierte die Regierung umfangreich in Infrastrukturprojekte, die den Primärsektor vorantreiben sollten. Für die Ausbeutung und den Export von Rohstoffen errichtete sie Fern- und Wasserstraßen, Wasserkraftwerke, Häfen und andere Großbauwerke. Dafür wurde ein exklusives Programm geschaffen: Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz (Programa de Aceleração do Crescimento, PAC), das besonders auf das Amazonasgebiet fokussiert ist.
Um diese neue nationale Entwicklungsstrategie zu ermöglichen, steht der Regierung die einflussreiche Nationalbank für Wirtschaftliche und Soziale Entwicklung (Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social, BNDES) zur Seite. In Lulas ersten Regierungsjahren steckte die BNDES Milliarden Reais in den Zucker- und Alkoholsektor, in die Pinien- und Eukalyptus-Monokulturen, in die riesigen Kühlhäuser, ins Minengeschäft und in den Infrastrukturausbau. Auch den Bau des umstrittenen Belo-Monte-Wasserkraftwerks, von der Militärdiktatur im Herzen des Amazonas-Regenwaldes in den 1970er Jahren geplant, jedoch aufgrund von Protesten gegen die Umweltfolgen und wegen Geldmangel wieder eingestellt, nahm die PT-Regierung wieder auf. Zusätzlich plant sie im Amazonasgebiet weitere 60 Bauprojekte dieser Art.
Der Grundgedanke der Regierung für ihre Politik im ländlichen Raum war, dass der Ausbau der Agrarindustrie Hand in Hand mit der Förderung der landwirtschaftlichen Familienbetriebe, die 70 Prozent der in Brasilien konsumierten Nahrungsmittel produzieren, gehen könnte. Neben den Milliarden Reais, die sie den Großbetrieben zur Verfügung stellte, setzte die Regierung auch zunehmend Förderprogramme für Familienbetriebe auf oder subventionierte diese. In Bezug auf die Landbesitzverhältnisse änderte sich jedoch kaum etwas, denn die Regierung bremste Prozesse der demokratischen Landverteilung, wie etwa die Landreform oder die Ausweisung von Gebieten zugunsten von Indigenen und Quilombo (die Gemeinschaft der Nachfahren von SklavInnen). In der zweiten Legislaturperiode Lulas und unter Dilma Rousseff wurden die Landlosen, Kleinbauern und traditionellen Gemeinschaften, deren Lebensraum von Wasserkraftwerken, Rohstoffabbau und anderen Nutzungen der ländlichen Peripherie bedroht wird, zwar mit Sozialprogrammen bedacht. Doch hielt man sie immer mehr von politischen Entscheidungsprozessen fern und orientierte sich stattdessen an den Interessen des Agrarbusiness, die durch Platzhalter im Kongress vertreten wurden.
Die Nähe der Regierung zur Agrarlobby führte zur Verabschiedung des Waldgesetzes »Código Florestal« 2012 und damit zu einer grotesken Verstümmelung der Umweltgesetzgebung. Das Gesetz ist jedoch nur ein Beispiel von vielen für die Veränderung der politischen Einstellungen innerhalb der PT, vergleicht man ihre Forderungen der 1990er Jahre mit ihrem aktuellen Programm. Zu nennen sind der Stillstand bei der Landreform, die nie zuvor erlebten Angriffe auf die Rechte von Indigenen und Quilombolas und auf ihre Gebiete, die Zunahme von Konflikten und Todesfällen in ländlichen Gebieten (wovon sowohl lokale Führungskräften als auch Indigene betroffen sind), die beschleunigte Freisetzung von Agrargiftstoffen bei der Landkonzentration, die Dominanz von transgenen Pflanzen in Brasiliens Landwirtschaft und vieles mehr.
Aus der taktischen Allianz mit konservativen Fraktionen im Kongress, die der »Regierbarkeit« zu Beginn der Regierung Lulas dienten, waren in Lulas zweiter Amtszeit und unter Dilma Rousseff solide Strategiebündnisse geworden. Durch die hohen Zustimmungswerte, die die Sozialprogramme der Regierung eingebracht hatten, fühlte sich diese sehr selbstsicher und ließ politische Vorbehalte beiseite. Sie koalierte mit Parteien und PolitikerInnen der traditionellen Rechten und verleibte sich deren Programm ein, um regional und bundesweit mehr und mehr Wahlerfolge zu feiern.
Die Allianz der PT mit den Konservativen sowie mit Evangelikalen führte nicht nur bei der Umwelt- und Sozialpolitik zu Rückschritten, sondern hatte auch auf dem Gebiet der Menschenrechte eine reaktionäre Politik von neuer Dimension zur Folge. Beispielsweise sicherte sich die christlich-soziale Partei (Partido Social Cristão, PSC) unter massiven Protesten von Abgeordneten die Mehrheit im einst von der PT dominierten parlamentarischen Ausschuss für Menschenrechte und Minderheiten. Unter dem Vorsitz des rassistischen und homophoben Pastors Marco Feliciano verabschiedete der Ausschuss im Juni 2013 einen Gesetzesentwurf zur so genannten »Heilung der Schwulen« (cura gay), der bei Homosexualität medizinische Behandlung vorsehen soll. Feliciano und die Evangelikalen wollen weitere strittige Maßnahmen durchsetzen: So soll Frauen nach einer Vergewaltigung die Behandlung im Krankenhaus verweigert werden, damit sie nicht abtreiben oder die »Pille danach« einnehmen.
Plötzlich brach Unbehagen hervor
Es wäre jedoch falsch, die sozialen Rückschritte der letzten Jahre nur dem Druck der Rechten zuzuschreiben, denn auch die Regierung setzt weiterhin große Bau- und Wirtschaftsprojekte um, ungeachtet sozioökologischer Folgen für die Bevölkerung, entgegen menschenrechtlicher Standards und sogar geltender Gesetze. Nachdem sie sich gierig um Megaevents wie den Confed-Cup 2013, die Männer-Fußball-WM 2014 oder die Olympischen Sommerspiele 2016 gerissen hatte, begann sie mit einer ganzen Reihe von Megabauprojekten in den urbanen Zentren, die mit Steuergeldern über die BNDES finanziert werden. Trotz der anhaltenden Vertreibung von Tausenden von Menschen in beschlagnahmten Gebieten, deren Häuser Stadien, Parkplatzanlagen oder Shopping-Centern weichen sollen, und der damit verbundenen, zunehmenden Korruptions- und Schmiergeldskandale werden diese Projekte weder eingestellt noch ihre Finanzierung verringert.
In all den Städten, in denen gebaut wird, fanden punktuell Proteste gegen die Folgen der Fußball-WM und der Olympischen Spiele statt. Allerdings waren es kurioserweise Indigene und nicht die traditionellen sozialen Bewegungen, von denen der Funke übersprang und die die Massenproteste entfachten. Im März dieses Jahres wurden in Rio de Janeiro dutzende Indigene aus dem alten Gebäude des Museu do Índio zwangsgeräumt. (Hier wurde einst das Museum zur Geschichte der Indigenen in Brasilien gegründet und bis Ende der 1970er Jahre beherbergt; Anm. d. Ü.). Das Gebäude soll wegen der Bauarbeiten am nahegelegenen, symbolträchtigen Maracanã-Stadion abgerissen werden. Unterstützt von Studierenden, führten die Museums-BewohnerInnen die ersten Protestaktionen in diesem Jahr durch, beantwortet von gewaltvoller Repression der Polizei.
Im April besetzten Gruppen von Indigenen aus ganz Brasilien den Kongress und umringten den Palácio do Planalto, den Sitz der Regierung. Sie forderten die Aufhebung zahlreicher Gesetzesentwürfe, die sich gegen ihre durch die Verfassung geschützten Rechte wenden, wie unter anderem jenen, die es den Minenbetreibern und der Agrarindustrie ermöglicht, in die bislang geschützten Gebiete der Indigenen einzudringen. Einen Monat darauf fanden erneut Proteste gegen das Wasserkraftwerk Belo Monte statt.
Empört darüber, dass die brasilianische Regierung nationale und internationale Gesetzgebungen missachtet, laut denen die Indigenen im Falle von Bauprojekten, die ihre Territorien betreffen, angehört werden müssen, besetzten sie die Baustelle des Wasserkraftwerks und zogen anschließend nach Brasília, wo sie weiter demonstrierten. Im Juni schließlich brachen bundesweit Proteste aus.
Die Protestwelle erfasste ganz Brasilien und offenbarte eine dunkle Seite der Entwicklungsstrategie der Regierung. Während die Arbeiterpartei einst Kämpfe für strukturelle Veränderungen angeführt hatte, trat sie nun ethische und soziale Errungenschaften mit Füßen, für die sie sich zuvor selbst eingesetzt hatte. Das fiel ihr jetzt auf die Füße. Im ersten Moment überrascht, reagierten die Regierung und ihre Koalitionspartner denkbar ungeschickt. Um die Projekte im Amazonasgebiet durchzusetzen und die Proteste der Indigenen zu beschwichtigen, setzte die Präsidentin erneut eine militärische Sondereinheit ein. Es handelt sich um die direkt der Exekutive unterstehende Nationale Streitkraft für Sicherheit (Força Nacional de Segurança, FNS), die von vielen JuristInnen als verfassungswidrig eingeschätzt wird. Sie soll den Bau der Wasserkraftwerke am Belo Monte und am Tapajós-Fluss und damit die beteiligten Konzerne beschützen. Auch gegen die Proteste in den Städten, bei denen die Demonstrierenden unter anderem die Verbesserung des Gesundheits- und Versicherungssystems sowie des Bildungs- und Transportwesens forderten, setzte die Regierung auf brutale Polizeigewalt und Repression.
Eine unvorbereitete Präsidentin
Da die Proteste kein Ende nahmen und sie zunehmend von der Öffentlichkeit unterstützt wurden, beschloss die Regierung, ihre Taktik zu ändern, und sprach mit verschiedenen organisierten Teilen der Zivilgesellschaft. Präsidentin Rousseff traf sich persönlich mit der Bewegung für öffentlichen Transport zum Nulltarif (Movimento Passe Livre, MPL), die mit den Demonstrationen gegen die Fahrpreiserhöhung begonnen hatte, und musste am Tag darauf in der Presse lesen, dass die Jugendlichen bei ihrem Gespräch mit ihr den Eindruck hatten, dass die Präsidentin »unvorbereitet« gewesen sei, um über urbane Mobilität zu sprechen. Rousseff empfing auch Gewerkschaften und die Bewegung der Landlosen, ging aber in keiner Weise auf deren Forderungen ein. Auch Indigene lud sie ein, doch im selben Moment, in dem sie mit ihnen in ihrem Amtszimmer sprach, versuchte der Präsident der Abgeordnetenkammer mit Unterstützung der PT-Fraktion einen Verfahrensvorschlag durchzusetzen, der eine Vielzahl von Rechten der indigenen Bevölkerung auf ihre Gebiete annulliert hätte.
Unmittelbares Ergebnis des so genannten »brasilianischen Frühlings« war der Absturz von Rousseffs Popularitätswerten. Ob die Regierung ihre Politik überdenken wird oder nicht, bleibt eine offene Frage. Die Aussichten für Dilma Rousseff, bei den Wahlen 2014 wieder die Präsidentschaft zu erlangen, wurden deutlich getrübt. Nicht nur wegen des Unmuts der Bevölkerung auf den Straßen oder der Menschen, die von den Megaprojekten betroffen sind, sondern auch wegen der erstarkenden Rechten. Sie nutzte die Gunst der Stunde trat und bei den Demonstrationen im Juni mit extrem konservativen Forderungen in Erscheinung. Die Rechten sind weder bereit, die von ihnen eroberten Räume abzugeben, noch strukturelle Reformen zuzulassen. Das geringe Wirtschaftswachstum der vergangenen zwei Jahre und die Inflation, die Brasilien zuletzt zugesetzt hat, missfallen den Unternehmern und Investoren. Sie dürften daher bei den kommenden Wahlen als scharfe Kritiker der PT-Regierung auftreten.
Die Regierung hat in den vergangenen Jahren versucht, mit Gott und dem Teufel Bündnisse zu schmieden und bekommt nun die Rechnung dafür geliefert. Wer diese bezahlen wird, bleibt abzuwarten.
Verena Glass ist Journalistin, spezialisiert auf Umwelt- und Sozialthemen. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Anne-Kathrin Gläser