Tagungsbericht RTB 2022

Brasilien hat gewählt. Kurz vor Ende von vier Jahren Regierung Bolsonaro trafen sich deutschsprachige Akteur:innen der Solidaritätsarbeit mit Brasilien, KoBra-Mitgliederorganisationen und ihre Partnerorganisationen aus Brasilien in Hofgeismar (bei Kassel), um sich über die Zukunft der sozialen Bewegungen und der fragilen Demokratie in Brasilien auszutauschen. Nach zwei Jahren fand der Runde Tisch Brasilien (RTB) wieder in Präsenz statt. Allein darüber herrschte bei allen Anwesenden große Freude, was in den Pausen deutlich spürbar war: Viele Gespräche und endlich Zeit für einen live-Austausch. Der RTB war zugleich eine hybride Veranstaltung, Interessierte konnten sich auch online zuschalten.
| von Biancka Arruda Miranda
Tagungsbericht RTB 2022
Gruppenfoto des RTB 2022

Der RTB fing mit einer Zeremonie an, die von indigenen Caciques zelebriert wurde. Cacique Mady Pataxó aus Bahia und Cacica Cullugn Veitcha Teie von den Xokleng Völkern waren in Europa unterwegs, um die dramatische Lage der Indigenen anzuklagen. Denn Bolsonaros Regierung hielt ihr Wahlversprechen: Kein einziges indigenes Territorium wurde demarkiert.

In der Eröffnungsdebatte ging es um Brasilien nach der Wahl. Eingeladen waren João Feres, von Observatório do Legislativo, Luciana Furquim Pivato von Terra de Direitos und Carlos Campos von Caritas Brasilien. Moderiert wurde die Debatte von Andrea Dip von Agencia Publica. Carlos Campos und Luciana Furquim baten die Caciques um Verzeihung, im Namen des brasilianischen Volkes zu sprechen. Die Eingangsfrage war, was der künftige Präsident trotz vieler Widerstände angehen könne.

Carlos Campos beschrieb zunächst die Machterlangung Bolsonaros und bezeichnete diese als eine Strategie, die mit dem Putsch gegen Dilmas Regierung anfing. Die zweite Etappe sah er in der Operation Lava-Jato (der milliardenschwere Korruptionsskandal, auch als Petrolão stilisiert) und die letzte in der Wahl von Bolsonaro. Nach Campos ist der Kapitalismus eine Tragödie für die Menschheit, vor allem aber für die povos originários (Indigenen Völker). Der Sieg gegen Bolsonaro sei nur durch eine breite Allianz für die Demokratie möglich gewesen. Wir haben die Exekutive gewonnen, aber in der Legislative verloren. Um die Demokratie zu garantieren, müssen wir diese Allianz stärken.“ Carlos hob zwei Herausforderungen für Lulas Regierung hervor: Die erste sei der Kampf gegen Armut und Hunger. Eine Studie des IBGE (Brasilianisches Institut für Geographie und Statistik) zeigt, dass die Zahl der Brasilianer:innen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 22,7 % gestiegen ist. Die Zahl der Menschen in extremer Armut stieg im gleichen Zeitraum um 48,2 %. Eine Lösung wäre die Rückkehr zu einer Politik, die auf Förderung der in der familiären Landwirtschaft produzierten Lebensmittel zielt. Instrumente wie PNAE (Programa Nacional de Alimentação Escolar) und PRONAF (Programa Nacional de Fortalecimento da Agricultura Familiar) sollten wieder gestärkt werden.

Das Recht auf angemessene Ernährung, verstanden als regelmäßiger Zugang zu qualitativ hochwertiger Nahrung in ausreichender Menge, wird durch Artikel 6 der brasilianischen Bundesverfassung von 1988 als Menschenrecht anerkannt. Um es zu schützen und zu fördern, hat Brasilien 2006 das National Food and Nutrition Security System eingeführt (SISAN). Diese Instrumente wurden aber von Bolsonaros Regierung kaum angewendet. Die dritte Herausforderung der neuen Regierung sei die Gründung des Ministeriums für Indigene Angelegenheiten. Ein Wahlversprechen von Lula, das von den für den Regierungsübergang Zuständigen intensiv verhandelt wird, mehrere Indigene nehmen daran teil. Viele wichtige Fragen sind aber offen, inwieweit die Souveränität der Indigenen respektiert wird und ob das Ministerium als Organ mit weitgehender administrativer, finanzieller und technischer Autonomie konzipiert wird, beispielsweise im Hinblick auf die Planung, Koordinierung und Überwachung von Aktivitäten.

Luciana Furquim ging in ihrer Rede noch weiter und behauptete: Brasilien hat noch nie eine Demokratie erlebt, zumindest waren weder die Schwarzen noch die Indigenen daran beteiligt“. Dazu käme die nicht aufgearbeitete autoritäre Vergangenheit der Zivil- und Militärdiktatur. Ohne diese Aufarbeitung könne keine Rede von Demokratie sein. Luciana zitierte eine Studie zum weit verbreiteten Rassismus in der Rede von Politiker:innen, die von Terra de Direitos und CONAQ (Confederacao Nacional de Articulacao das Comunidades Negras Quilombolas) veröffentlicht wurde.1 Der rassistische Sprachgebrauch von politischen oder staatlichen Amtsträger:innen trüge zu einer diffusen Gewalt bei. „Alle sind autorisiert, sich rassistisch auszudrücken“. In den letzten Jahren wurden 523 Fälle von politischer Gewalt festgestellt. Gleichzeitig spielten die Fake News und die Bewaffnung der Bevölkerung eine entscheidende Rolle, um Bolsonaros Regierung zu legitimieren.

Lulas Regierung habe eine übergroße Aufgabe vor sich, sie respektiere im Gegensatz zu der von Bolsonaro aber das Leben. Luciana hofft auf „Räume zum Dialog“ mit der neuen Regierung. Doch auch für sie ist noch nicht klar, in welche Richtung Lulas Regierung gehen und was nach den kommenden vier Jahren passieren werde. Schließlich betonte auch Luciana, wie wichtig es sei, eine Erinnerungskultur zu etablieren, damit die begangenen Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit aufgearbeitet und bestraft werden könnten. „Não deixemos esta historia ser apagada“, so ihr Plädoyer.

João Feres betrachtete die Herausforderungen der neuen Regierung in einer klassisch
politikwissenschaftlichen Analyse und brachte andere Perspektiven in die Diskussion. Das finanzielle und politische Szenario für die neue Regierung sieht er wenig optimistisch. Zudem wies er darauf hin, dass der von Bolsonaros Regierung verhängte öffentliche Ausgabenstopp das Bevölkerungswachstum nicht berücksichtigt habe. Ein anderer Belastungsfaktor für die neue Regierung Lula ist die finanzielle und politische Unterstützung des mächtigen Agrobusiness für Bolsonaro, die sich auch im zukünftigen Parlament spiegelt.
Feres präsentierte eine mit Kolleg:innen verfasste Studie zur neuen Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses. Schwerpunkt seiner Analyse sind die Abgeordneten des sogenannten Centrao („große Mitte“): ein loses Bündnis von Parteien, die angeblich traditionelle Werte teilen. Von den insgesamt 513 Sitzen im Abgeordnetenhaus werden 260 vom Centrao besetzt. Davon sind 48% bolsonaristas. Die parlamentarische Basis von Lula verfügt zunächst über 140 Abgeordnete und braucht dazu mindestens 168 weitere Parlamentarier:innen, um die eigene politische Agenda durchsetzen zu können. Lula wird also ohne zumindest eines Teils der Centrao-Abgeordneten nicht regieren können. Nach Feres Einschätzung bleibt Bolsonaro daher ein wichtiger Akteur in der brasilianischen Politik. Mindestens solange er und seine Anhänger:innen ihr politisches Kapital behalten, oder seine Gegner:innen es nicht schaffen, dieses Kapitel zu zerstören. Eine wichtige Frage bleibt aber, inwieweit der Bolsonarismus nur oder überwiegend eine Gegenbewegung zum PT (anti-petismo) ist oder darüber hinaus tiefer in der Gesellschaft verankert ist.

Soziale Kämpfe für Klimagerechtigkeit - Rechte von traditionellen Völkern und Gemeinschaften im Kontext des Klimawandels
Bei dem Thema Klimagerechtigkeit müssen Indigene neben den anderen traditionellen
Völkern zu Protagonist:innen werden. Damit waren alle auf dem Panel einverstanden.
Zuerst sprach die Cacica Cullugn Veitcha Teie vom Xokleng Volk. Wir Indigene retten heute das Leben, den Wald und das Wasser.“ Sie vertritt vier andere Nationen und klagte die Lage ihres Territoriums und die Folgen eines Dammbaus für ihr Volk an. Gegenüber der neuen Regierung erhob sie klare Forderungen: die Einhaltung der Konvention 169 der internationalen Arbeitsorganisation ILO und die Abschaffung der seit vielen Jahren umstrittenen Rechtsauffassung des Marco Temporal. Außerdem forderte Cacica Cullugn internationale Unterstützung, damit keine Politik gegen Indigene finanziert wird.

Cacique Mady Pataxó aus Bahia war der zweite indigene Redner. Seine erste Beobachtung war über die Zeit: Der Schrei der Indigenen hallt seit 522 Jahren aber in Deutschland habe er nur max. 10 min. für eine Rede. Er sprach sich dafür aus, dass Lulas Regierung mit der Basis der Indigenen in einen Dialog trete. Außerdem forderte er von Europa, nicht nur an Amazonien zu denken. Es gebe auch andere Biome, die den zu schützenden Reichtum der Natur spiegeln.

Der Umweltrassismus wurde von Igor Ferrer von Caritas Brasilien thematisiert. Er stellte fest, dass die am meisten vom Klimawandel Betroffenen ihn am wenigsten verursachen. Deswegen könne nur eine Rede von Klimagerechtigkeit sein, wenn die am meisten davon Betroffenen an den Diskussionen und der Erarbeitung von Politiken in diesem Bereich teilhaben. So lange es Umweltrassismus gibt, ist keine Klimagerechtigkeit möglich“. Im Hinblick auf Lulas Regierung ist Igor durchaus optimistisch. Lula versprach eine Politik der Null-Entwaldung (zumindest für Amazonien) und hat in seiner Agenda den Kampf gegen den Klimawandel nach oben gesetzt.

Naiara Bittencourt von Terra de Direitos warf Licht auf die Vielfalt der traditionellen Völker in Brasilien und schilderte das Erbe der Regierung Bolsonaro als sehr problematisch. Programme wie Titula Brasil, Adote um Parque und das Gesetz Lei 13.123/2015 (Lei da Biodiversidade, eigentlich eine Lei da Biopirataria) tragen dazu bei, die Lage dieser Völker zu schwächen: Unsere Territorien werden ent-schützt. (Temos uma desproteção territorial.)

Bewegungen und Menschenrechtsverteidiger*innen
Ging es in der Eröffnungsdebatte vor allem um die Herausforderungen, die die neue Regierung angehen muss, behandelte dieses Panel die Strategien von Widerstand und Überleben. Eingeladen waren die Aktivistin Marina Oliveira aus Brumadinho, Cacique Jorge Tabajara von der Indigenen Kanzlei Ybi und Larissa Moraes von der NGO Território Quilombola Afrika und Laranjituba.

Marina Oliveira kommt aus Brumadinho, einer der 26 Städte, die von dem Umweltverbrechen des Vale-Konzerns im Januar 2019 teils verwüstet wurden; insgesamt waren rund 1 Million Menschen betroffen. Der Dammbruch eines Rückhaltebeckens einer Eisenerzmine tötete 272 Menschen und verseuchte den Fluss Paraopeba. Das brasilianische Tochterunternehmen des deutschen Zertifizierers TÜV SÜD hatte vier Monate zuvor den Damm für stabil erklärt, trotz offensichtlicher Sicherheitsrisiken. Marina kennt das Ausmaß und die Auswirkungen der begangenen Verbrechen aus der Nähe. Ich habe den Schlamm, die Verseuchung, die Leichen gesehen, ich habe Bluttests gesehen, die Schwermetalle im Blut unserer Kinder nachweisen.

Sie berichtete von der Strategie des Konzernes Vale: Kooptation und Verfolgung, um die Forderungen der betroffenen Gemeinden und Gemeinschaften zu schwächen. Sie war in der ersten Reihe bei den Verhandlungen, in der es auch um den Kampf der Narrative ging. Aber sie erzählte auch von den selbstorganisierten Widerstandstrategien, von bis heute aktiven Gruppen und Kommissionen. Es gehe darum, Alternativen aufzuzeigen und den Druck auf Konzern und Staat aufrecht zu erhalten, kollektive Forderungen, Lobbyaktionen mit Lokalpolitikern sowie nationale und internationale Kampagnen zu organisieren. Die Menschenrechtsverteidiger:innen handeln in ihren Überlebensstrategien als Kollektiv. Es seien die Momente von Gemeinschaft und
Kollektivismus, aus denen sie und alle Betroffenen immer wieder Kraft zu Protest und
Widerstand schöpften.

Einige dieser Strategien wurden auch von Indigenen und Quilombolas verfolgt. Zunächst sprach Cacique Jorge Tabajara aus Ceará. Er gründete mit anderen indigenen
Rechtsanwält:innen die erste Kanzlei in Brasilien, die sich indigenen Rechtsfällen annimmt und diese verteidigt. Wir kämpfen für die Gerechtigkeit, für das Recht als Volk zu existieren. In Brasilien warten ca. 700 Indigene Territorien auf Demarkierung. Cacique Tabajara berichtete auch von anderen Strategien, um die Existenz seines Volkes zu verteidigen: Autodemarkierung des Territoriums, Lobbyarbeit und der Kampf, andere gesellschaftliche Akteure für die indigenen Projekte zu gewinnen.

Genau wie bei den Indigenen ist das Territorium für die Quilombolas die Garantie ihrer
Existenz. Larissa Moraes, eine Quilombola-Frau aus dem Quilombo África und Laranjituba, berichtete kurz über ihren Kampf als Kollektiv gegen die großen Konzerne wie eine Eisenbahn, die in ihre oft sehr begehrten Territorien gebaut werden soll. Leider konnte Larissa nicht viel erzählen, da es technische Probleme bei der Zuschaltung gab.

Ernährung: Von der Krise zu mehr Souveränität
Im letzten Panel diskutierten die beiden Expertinnen Naiara Andreoli Bittencourt von Terra de Direitos und Antonio Andrioli von der Universidade Federal da Fronteira do Sul zu einem
zentralen Thema der politischen Agenda Ernährung und Lebensmittel für alle zu gewährleisten. Die beiden wiesen in eher unterschiedliche Richtungen. Aber sie machten beide deutlich, dass der Kampf gegen den Hunger auch eine Budgetfrage ist, in der aufgrund des Erbes der Regierung Bolsonaro weniger Spielraum als notwendig besteht.

Naiara Bittencourt betonte, dass nur eine aktive und organisierte Zivilgesellschaft als
Gegengewicht und Druckmittel fungiere, damit die neue Regierung sich verpflichte, eine
Politik für eine Ernährungssouveränität“ („soberania alimentar“) umzusetzen. Sie betonte die Wichtigkeit von „Notfall-Programmen gegen den Hunger, aber auch von einer soliden Bildungspolitik und wies auf die wertvolle „Pluralität“ der agroökologischen Ansätze hin.
Dagegen stellte Antonio Andrioli in Frage, ob die Regierung Lula wirklich bereit sei, genauso viel in die Agroökologie wie in das Agrobusiness zu investieren.

Am letzten Tag konnten alle Teilnehmer:innen sich nochmals austauschen und die Debatten Revue passieren lassen. Es waren viele Ideen, Meinungen und Denkanstöße Nahrung für den bevorstehenden Winter. Eine vor allem von den brasilianischen Akteur:innen artikulierte Forderung war, dass ihre Kämpfe nicht nur Zubrot für die Unterstützerorganisationen in Deutschland sein dürften: Wir können uns in vielen Bereichen einbringen (Nós também temos muito a oferecer“). Im Gegensatz zu dem oft asymmetrischen Verhältnis wurde eine dekoloniale Beziehung gefordert, in der europäische Organisationen und brasilianische Partner:innen Schritt für Schritt und auf Augenhöhe zusammenarbeiten und dieses auch inter pares sichtbar werde. Auch die Solidaritätsarbeit wie die (Entwicklungs-) Zusammenarbeit kann und soll zuweilen anders gestaltet werden indem auch wir dazu beitragen.

1 (https://terradedireitos.org.br/noticias/noticias/autoridades-politicas-brasileiras-feriram-55-manifestacoes-e-declaracoes-racistas-em-2-anos/23507)


Von Biancka Arruda Miranda, KoBra Vorstandsmitglied

Hier geht es zur kompletten Dokumentation der Tagung - inkl. Protokolle und Präsentationen.