Sehr dunkle Wolken
Seit dem 1. Januar ist Jair Bolsonaro, der Ex-Hauptmann, Fallschirmspringer und für nicht wenige deutlicher und de facto-erklärter Faschist, neuer Präsident Brasiliens. Schon während der Zeremonie der Amtseinführung haben bolsonaro-nahe Sicherheitskräfte im Kongress - unbefugt, aber ungehindert und bislang ungestraft - von mehreren Abgeordneten deren Büros aufgebrochen, offenkundig durchwühlt, - alles unter dem vorgeschobenen Vorwand, die Sicherheit des Präsidenten gegen Anschläge von Sniper aus den (linken) Abgeordnetenbüros schützen zu müssen. Bestrafung oder Rüge durch die Gremien und Instanzen des Kongresses? Fehlanzeige. Seit dem 2. Januar hagelt es vom neuen Präsidenten unterzeichnete Anordnungen, die den Indigenen die Landrechte streitig machen sollen, die die Indigenenbehörde FUNAI der erzreaktionären evangelikalen Ministerin für Frauen, Familien und Menschenrechte unterstellen und damit aushöhlen, die Zielgruppe LGTBQI* wird aus den Programmen des Menschenrechtsministeriums gestrichen, die Landlosenbewegung MST, die Obdachlosenbewegung MTST, die Indigenenmissionsbehörde CIMI und die katholische Landpastorale sollen möglichst bald kriminalisiert werden und als potentiell terroristische Organisationen gebrandmarkt werden, um diese damit an deren Arbeit zu hindern. Das Umweltministerium suspendierte per Eildekret vorläufig alle Zusammenarbeit mit den Umwelt-NGOs, das Justizministerium übernimmt die Kontrolle über die finanziellen Transaktionen (auch der NGOs), und ein General soll mit seinem Stab alle NGOs, sozialen Bewegungen und Organisationen im Lande monitorieren und überwachen.
Zugleich gibt es vor allem in Brasilien nicht wenige Stimmen, vor allem auffallend oft jene, die Bolsonaro ihre Stimme gegeben haben, dass sie seine martialischen Reden nicht so ernst nehmen, dass er sich halt als martialischer Maulheld habe darstellen müssen, um genug Aufmerksamkeit und eben so die Wahlen zu gewinnen. Was ihm zweifellos gelang. Es wäre wohl eines der wenigen Male, dass ein Politiker demnach von vielen dafür gewählt wurde, dass er später nicht das tut, was er angekündigt hat. Dieser Ansicht nach wäre er ein rechtsradikaler Maulheld, dessen spätere (Un-)Taten nicht das erschreckende Niveau erreichen würden.
Und wie sieht die Realität nun aus? Faschismus kommt in den seltensten Fällen von einem Tag auf den anderen. Es ist wichtig, die Zeichen früh zu erkennen, zu warnen und dagegen mit aller Entschlossenheit Widerstand zu leisten. Denn die ersten Zeichen sind da. Die Übergriffe im Land auf LGBTQI* steigen massiv an, deutlich steigende Feminizidraten wurden in den ersten Wochen nach Amtseinführung von Wissenschaftler*innen festgestellt, ein toxisch-männlicher Präsident setzt samt seinen erzreaktionären Ministern den Diskurs, den der Mob aufgreift und sich dadurch legitimiert fühlt. Indigene Territorien werden von illegalen Holzfällern überfallen, von Rinderbaronen und deren pistoleiros unter Beschuss (teilweise im wörtlichen Sinne) genommen, während Zeltlagerstätten auf umkämpften Land von Indigenen und Landlosen durch solche capangas und pistoleiros beschossen werden und Todesdrohungen gegen die Bewohner*innen ausgesprochen werden, nicht selten mit dem Namen "ihres Hauptmanns" auf den Lippen. Reaktion des Staates? Symbolisches wie auch direktes und ungeschminktes Achselzucken.
Der offen schwule Kongressabgeordnete Jean Wyllys hat Ende Januar wegen der anhaltend massiven Todesdrohungen gegen ihn und seine Familie das Land verlassen und erklärt, sein Parlamentsmandat nicht anzutreten, sondern im Exil zu bleiben. Der Präsident twitterte darauf fröhlich "ein großartiger Tag!". Weitere Wissenschaftler*innen haben das Land verlassen, weil sie sehr viele deutliche Todesdrohungen erhalten hatten und den brasilianischen Staat für unfähig und unwillig halten, ihr Leben zu schützen. Darunter beispielsweise eine international anerkannte Universitätsprofessorin. Ihr "Vergehen"? Für Abtreibung einzutreten.
Eine Richterin am Landgericht von Rio de Janeiro erklärte öffentlich über die sozialen Medien, "wer dem prophylaktischen Erschießen nicht entrinnen würde, denke ich, das wäre Jean Wyllys." Davor hatte sie bereits öffentliche Aufmerksamkeit erregt, als sie unter ein Foto des linken Guilherme Boulos von der Obdachlosenbewegung MTST schrieb, "nach dem Dekret von Bolsonaro" werde dieser "mit Kugeln empfangen werden". Diese Richterin ist noch immer im Amt, es liegen mittlerweile Anzeigen gegen sie vor, aber offenkundig gibt es im Land keine Mechanismen, die - wie in anderen Ländern üblich - eine zumindest vorläufige Suspendierung der Person aus dem öffentlichen Amt vorsieht, um zumindest die Vorwürfe zu klären und weitere Schäden abzuwenden, dies scheint in Brasilien mehr und mehr - oder bereits de facto? - außer Kraft gesetzt. Und der Ex-Präsident sitzt als einer der ganz wenigen in Haft, während eine komplette Politikerriege, deren Haftstrafen wegen Veruntreuung, Korruption und Vorteilsnahme mehrmals höher als die des Ex-Präsidenten ausfallen müssten, besetzen - neben grinsenden Generälen, die so viele Ministerposten ergatterten wie seit Jahrzehnten mehr - die Minister*innenämter. Und ein Präsident-samt-Söhnen-Clan mit mehr als deutlichen Mafiamilizenverbindungen zur organisierten Kriminalität steht unter starkem Hinweis auf (indirekte und direkte) Verwicklungen des beruflichen, familiären und freundschaftlichen Präsidentsohnsumfelds in die Ermordung der linken, feministischen, lesbischen, Schwarzen Stadträtin von Rio de Janeiro, Marielle Franco am 14. März 2018 in Rio de Janeiro - mit einer Maschinenpistole aus der Fabrik der deutschen Heckler&Koch.
"Mit dem Aktivismus" will der Präsident "ein für alle Mal aufräumen". "Die Säuberung wird nun noch umfassender sein", erklärte Bolsonaro in klarer historischer Anspielung auf die Vergangenheit Brasiliens, das Kolonialismus, Sklaverei und Militärdiktatur erlebte. Implizit deutet er also an, dass diese Verbrechen gegen die Menschheit im Vergleich zu dem, was er plant, nicht umfassend genug waren. Linke sollten also im Gefängnis verrotten oder ins Exil gedrängt werden, wobei vom Präsidenten auch gerne die Anspielung auf die sogenannte "ponta da praia", die "Spitze des Strandes" erwähnt wurde, wo er sie hintreiben werde, die Linken. Eine Anspielung auf das Bild, dass der Präsident die Linken an der Küste in Überseeschiffe pferchen wolle, um sie von dort ins Exil zu zwingen? Oder doch die direktere Anspielung auf die "ponta da praia", dort, wo in Brasilien traditionell die Marineforts standen und wo während der Diktaturen im Lande die Oppositionellen, die Widerständigen, die Unangepassten hingetrieben, eingesperrt und gefoltert wurden, um ihre dann leblosen Körper in den unentrinnbaren Weiten des Ozeans verschwinden zu lassen?
Waffengesetze werden gelockert und den Im-Dienst-Tötenden-Polizisten wird eine a priori Straffreiheit angeboten - unter dem Deckmantel der vorherigen Untersuchung, - wie schon immer in Brasilien eine Untersuchung der Beschuldigten mit militärischem Rang durch die Justiz in Militärroben. Unabhängigkeit? Unparteilichkeit? Abwesenheit von Korporatismus? Rechtsstaatlichkeit? Wer träumt denn bei Polizeieinsätzen in den favelas in Rio oder in den Peripherien der anderen Städte oder gar in den ländlichen Regionen davon?
Und die Minister*innenriege überbietet sich derweil in medial eifrig verfolgten, skurrilen Äußerungen über Niederländer, die ihre Babys schon im jungen Alter von wenigen Monaten masturbieren würden, über Hexen, über "Jungen tragen blau und Mädchen rosa" und darüber, dass die "genderiedeologie schnellstens verboten werden müsse, das Reich des Herrn sei das Reich Gottes, des christlichen selbstredend, und dies müsse in der Schulbildung das leitende Glied sein. Und es brabbeln raunend Minister über "Globalismus als Verschwörung des kulturellen Marxismus" sowie über die Frage, warum Ludwig Wittgenstein nicht zu seinen - des Außenministers - Liebslingsphilosophen zählt, man stattdessen ein christliches Weltbild mit christlicher Union zwischen Brasilien, USA und Russland gegen - klar: gegen China anstreben sollte.
Und wie reagiert Brasiliens wichtigster Handelspartner in Europa, einer der größten Direktinvestoren in Brasilien -- Deutschland? Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Jair Bolsonaro zu seinem Wahlsieg bei der Präsidentschaftswahl in Brasilien jedenfalls gratuliert. "Unsere beiden Länder sind seit Langem durch freundschaftliche Beziehungen und gemeinsame Interessen verbunden", sagte Merkel wenige Tage nach der Wahl in Brasilien.
Diese "freundschaftlichen Beziehungen und gemeinsame Interessen" kommen nicht von ungefähr. Brasilien ist für die deutsche Wirtschaft schon lange ein gewichtiger Stützpfeiler. Heutzutage gibt es rund 1.300 deutsche Firmen mit Niederlassung in Brasilien, der Großteil davon befindet sich in der Metropolregion von São Paulo. Welche ist die Region weltweit, die – nach dem Ruhrgebiet – die weltweit größte deutschen Industriekonzentration in absoluten Zahlen aufweist? Die Großregion São Paulo. Dieser Teil der deutschen Wirtschaft stellt einen dermaßen gewichtigen Anteil der brasilianischen Wirtschaft dar, da sie zwischen zehn und zwölf Prozent des brasilianischen Industriewirtschaftsprodukt erwirtschaftet.
Da wundert es wenig, wenn bereits vor der Wahl die in Brasilien aktiven deutschen Firmenchefs wenig Vorbehalte gegen Bolsonaro offenbarten. Im Gegenteil: die Deutsche Bank tweetete kurz vor der Wahl, "Bolsonaro ist der Wunschkandidat der Märkte". Und auch der Lateinamerika-Chef von Bosch, Wolfram Anders, seines Zeichens auch Vorsitzender der deutsch-brasilianischen Handelskammer AHK São Paulo tweetete während des brasilianischen Präsidentschaftswahlkampf fröhlich, er wünsche Bolsonaro viel Erfolg und Glück, denn mit einem Kandidaten wie Fernando Haddad drohe ja aus Brasilien ein weiteres Venezuela zu werden.
Einem Bericht des Handelsblatt zufolge erklärten sechs namentlich nicht genannte Firmenchefs von in Brasilien aktiven deutschen Unternehmen, sie erwarteten nach einer Wahl Bolsonaros die Rückkehr von Stabilität und Wirtschaftswachstum. Und die Firmenbosse zeigten sich nicht weiter besorgt über Bolsonaros Glorifizierung der brasilianischen Militärdiktatur, auch Bolsonaros offenkundige "Defizite in Sachen Rechtsstaatlichkeit" wie die "Befürwortung von Folter als legitimen Mittel polizeilicher Ermittlungsarbeit" bereitete den Konzernchefs laut dem Medienbericht keine Bauchschmerzen. Im Gegenteil: sie bejubeln einen Bolsonaro regelrecht. Horkheimer sagte, "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen." Umgekehrt gilt dieser Satz übrigens auch.
Dennnoch ist es angesichts der deutschen Faschismus-Erfahrung umso erschütternder und es macht einen schlicht fassungslos zu sehen, wie nahtlos die Sympathie von deutschen Firmenchefs zu einem erklärten Anti-Demokraten sein kann, zu einem, der für jeden halbwegs Grips sein eigen nennenden Menschen offensichtlich als Faschisten zu erkennen ist. Hier offenbaren die Kapitalisten ihre zutiefst psychopathischen Züge.
Und wieder spielt Volkswagen in vorderster Front mit. Die Neue Zürcher Zeitung vom 14.11.2018 wusste zu berichten: „Auch dass Bolsonaro sein künftiges Kabinett mit Militärs besetzen will, stört die Wirtschaftsvertreter nicht. Die Generäle seien bei Themen wie Sicherheit und Infrastruktur gut vorbereitet, heisst es. Das letzte Mal, dass der Staat in Brasilien kompetent die Infrastruktur geplant und ausgebaut habe, sei unter den Militärs vor 50 Jahren geschehen, sagt Roberto Cortes, CEO von VW Truck & Bus in Brasilien." Diese Argumentationskette ist uns in Deutschland wohlbekannt. Hier wird das alte erzreaktionärste "Aber er hat doch die Autobahnen gebaut..."-Argument gefahren. Von einem hohen VW-Manager.
Deutsche Konzernchefs von heute treten also – wie es scheint – unmittelbar in die Fußstapfen ihrer Vorgänger aus den 1970er Jahren. Es wäre zu lapidar, dass Bonmot von Marx zu wiederholen, die Geschichte ereigne sich das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Denn es ist schlicht ein fassungslos machender Skandal: VW weigert sich noch immer, Entschädigungen für die Anfang der 1970er Jahre direkt und wissentlich der Folter ausgelieferten VW-Mitarbeiter*innen zu leisten. Und nun tragen zeitgleich deutsche Firmenchefs in Brasilien offenkundig zur Schau, dass sie sich nicht um die aktuelle Entwicklung in Brasilien in Sachen Rechtsstaatlichkeit in Menschenrechtsfragen scheren, dass ihnen ein Präsident, der unverhohlen davon redet, wie er politische Gegner foltern, ermorden oder ins Exil abschieben will, dass ihnen das solange egal ist, wie es nicht sie selbst und ihre Familienangehörigen treffe.
Profit geht ihnen wie immer über alles.