Rio betet – und die PT fährt zur Hölle

Die Munizipalwahlen in Brasilien offenbaren den schleichenden Niedergang der Arbeiterpartei PT. Thomas Fatheuer in der Dezember-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten (LN 510).
| von Thomas Fatheuer, für LN
Rio betet –  und die PT fährt zur Hölle

Aus der neuen Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten

In fast keiner Stadt regiert mehr ein*e Repräsentant*in der Arbeiterpartei PT. Das Ergebnis der Gemeindewahlen in Brasilien zeigt, wie enttäuscht die Wähler*innen von der ehemaligen Regierungspartei sind. Aber neue linke Projekte erlangten auch Achtungserfolge, vor allem in Rio de Janeiro.

Am 30. Oktober fand in Brasilien der zweite Durchgang der landesweiten Kommunalwahlen statt. Am Samstag vor dem Wahlsonntag in Laranjeiras – einem Stadteil von Rio de Janeiro – ist die Stimmung gut. Viele Menschen laufen mit bunten Aufklebern herum und es scheint nur einen Kandidaten zu geben – Marcelo Freixo von der Linkspartei PSOL. Dass er es überhaupt in die Stichwahl in der zweitgrößten Stadt in Brasilien geschafft hat, ist ein bemerkenswerter Erfolg. Die PSOL als Partei war bisher eher unbedeutend, aber der Niedergang der Arbeiterpartei PT stärkt offensichtlich nicht nur die Rechten, sondern eröffnet auch neue Perspektiven für die Linke. Die von der PT massiv unterstützte Kandidatin der kommunistischen Partei (PCdoB), Jandira Feghali, schaffte es nicht in die Stichwahl, Freixo wurde die zentrale Figur für eine neue Linke. Er kommt aus der Menschenrechtsbewegung und hat sich im Kampf gegen paramilitärische Milizen in Rio  de Janeiro einen Namen gemacht.
Am Vorabend der Wahl scheint in Rio die Katerstimmung nach dem Impeachment gegen Präsidentin Dilma Rousseff (siehe LN 504 und Artikel auf S. 22) verflogen, die Linke gibt deutliche und fröhliche Lebenszeichen.
Tatsächlich erreicht Freixo in Laranjeiras ein ausgezeichnetes Ergebnis: 68 Prozent der gültigen Stimmen fallen auf ihn. Aber das von einer intellektuellen Mittelschicht geprägte Viertel ist nicht repräsentativ. In Rio gewinnt mit Marcelo Crivella ein Politiker mit religiösen Hintergrund die Wahl. Crivella erreicht etwa 60 Prozent, Freixo nur 40 Zähler. Das Ergebnis kann in der jetzigen Konjunktur in Brasilien durchaus als großer Erfolg für einen dezidiert linken Kandidaten angesehen werden. Bemerkenswert ist doch, dass Freixo eher bei der Mittelschicht und Menschen mit hohem Bildungsgrad punkten konnte, während ärmere Bevölkerungsschichten massiv für Crivella stimmten.
Der Sieg von Crivella in Rio hat eine wichtige nationale Dimension: Zum ersten Mal konnte ein Politiker aus dem evangelikalen Lager die Wahl in einer großen Metropole gewinnen. Crivella ist ein bekannter Bischof der Igreja Universal, der wichtigsten neo-pentekostalen Kirche in Brasilien. Er hat als Gospelsänger Millionen Platten verkauft und als Missionar in Afrika nicht nur Homosexuelle sondern auch Katholik*innen als Teufelsanbeter*innen gebrandmarkt.
Seit vielen Jahren wählen die neuen evangelikalen Kirchen zahlreiche Abgeordnete in das nationale Parlament, die dort die sogenannte „bancada evangelica“ bilden, die parteiübergreifende „Bibelfraktion“. Aber aufgrund der Ablehnung, die sie in einer säkularen Gesellschaft eben auch erfahren, hatten die religiösen Politiker*innen immer Schwierigkeiten, Mehrheitswahlen zu gewinnen. Dies hat sich nun grundlegend geändert: Religiös geprägte und konservative Politik wird zu einem wichtigen Faktor in Brasilien.
Schaut man auf das ganze Land, dann ist das schlechte Abschneiden der PT zwar nicht überraschend, aber in seinen Dimensionen doch erschütternd: In keiner Stadt, in der die PT im zweiten Durchgang angetreten war, konnte sie gewinnen. Damit verfestigte sich das katastrophale Ergebnis, dass sich schon im ersten Durchgang abzeichnete. Die PT stellt nur noch in einer Landeshauptstadt den Bürgermeister, im eher unbedeutenden Rio Branco, im entlegenen Bundesstaat Acre.
So stellt das Ergebnis der Munizipalwahlen – trotz der Achtungserfolge der PSOL-Kandidat*innen – eine schwere Niederlage für die brasilianische Linke dar. Bemerkenswert ist auch die hohe Anteil der ungültigen Stimmen und derjenigen, die trotz Wahlpflicht nicht gewählt haben. In den meisten Städten kommt dieses Lager der Nichtwähler*innen auf etwa 40 Prozent.
Sieger der Wahlen ist die PSDB, die vor der Lula-Dilma Ära den Präsidenten Fernando Henrique Cardoso stellte. In der größten Stadt des Landes, in São Paulo, konnte ihr Kandidat, der politische Newcomer João Doria, gleich im ersten Durchgang die Wahl für sich entscheiden. Der amtierende PT-Bürgermeister Fernando Haddad landete abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Der Sieg in São Paulo und vielen anderen Städten stärkt die Ambitionen des Gouverneurs von São Paulo, Geraldo Alckmin, Präsidentschaftskandidat seiner Partei zu werden. Sein schärfster Rivale, Aécio Neves, konnte in Belo Horizonte seinen Kandidaten nicht durchsetzen.
Die Parteien, die die Basis der jetzigen Regierung Temer bilden, sind erstaunlich stabil geblieben. Landesweit bleibt die konservative PMDB des amtierenden De-facto-Präsidenten Michel Temer die stärkste Partei, obwohl auch sie zutiefst im Korruptionsskandal verwickelt ist, der das Land erschüttert. Die Taktik von Justiz und Presse, vornehmlich die PT für jede Korruption verantwortlich zu machen, zeigt sich erfolgreich.
Noch ein anderer Politiker gehört zu den Gewinnern, Ciro Gomes (PDT), der sich als gemäßigt linke Alternative zur PT präsentiert und mit deren Unterstützung Präsidentschaftskandidat bei den nächsten Wahlen werden will. Seine Partei, die kein klares ideologisches Profil hat, schnitt bei den Munizipalwahlen besser ab als die PT. Auch wenn Ciro Gomes kein traditioneller Linker ist, macht ihn seine Kritik am Neoliberalismus nun zu einem Hoffnungsträger eines diffusen „progressiven Lagers“ und zu einem weiteren Albtraum für die PT.
Neben dem Niedergang der PT ist der Sieg Crivellas das zweite große nationale Thema. Sind nun die Evangelikalen auf dem Durchmarsch zu Macht? Bemerkenswert ist, dass es Crivella gelungen ist, das durchaus untereinander zerstrittene evangelikale Lager unter seiner Kandidatur zu vereinen und auch das katholisch-konservative Lager anzusprechen. Dabei hat er versucht, sich vom Radikalismus seiner Kirche und früherer Jahre zu distanzieren. Die Katholik*innen sind für ihn nun keine Teufelsanbeter*innen mehr, sondern potentielle Verbündete für sein politisches Lager, das auf „konserativen Werten“ aufbaut. Bewahrung der Familie, Förderung der traditionellen Hausfrauenrolle, „Schutz“ der Kinder vor Homosexuellen und „Genderideologie“, Ablehnung der Abtreibung: Das sind die zentralen Themen dieses Lagers. Und in einer weitgehenden Desillusionierung mit der Politik und deren Unfähigkeit, Wirtschaft und Gesellschaft zu gestalten, ist dieser Rückzug auf das vermeintlich Private verständlich und erfolgsversprechend.
Der Slogan Crivellas – „Wir werden uns um die Menschen kümmern“ – trifft durchaus einen Nerv der Zeit. Es ist als Gegenentwurf zur Politik der Großprojekte (Stichwort Olympische Spiele!) konzipiert, die im bankrotten Rio de Janeiro jegliche Strahlkraft verloren hat – genauso wie die Transformationsversprechen der Linken, die nun im Sumpf der Skandale versinken.

// Thomas Fatheuer

 


 

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