Menschen mit uns träumen lassen

Interview mit Jô Oliveira, der ersten schwarzen Stadträtin in Campina Grande, die am 6. Oktober dieses Jahres wiedergewählt wurde. Das Interview führte Ekrem Eddy Güzeldere.
| von Ekrem Eddy Güzeldere
Menschen mit uns träumen lassen
Jô Oliveira. Foto und Grafik: Jô Oliveira

Josilene Maria de Oliveira, kurz Jô Oliveira, wurde 1981 in Campina Grande geboren. Ihre Mutter, Dona Basta, ist eine schwarze Frau, Hausangestellte und alleinerziehende Mutter. Jô studierte an einer öffentlichen Schule und war die erste in ihrer Familie, die an der Staatlichen Universität von Paraíba (UEPB) studierte, wo sie einen Master-Abschluss erwarb. Ihre politische Arbeit begann früh in der Studierendenbewegung, als sie Mitglied des Akademischen Zentrums für Sozialarbeit war und sich für die Wahl der Studierendenvertretung der UEPB aufstellte. Im Jugendbereich begann ihr Aktivismus mit der Teilnahme an den Aktivitäten der NGO PJMP und des Jugendverbands zur Erhaltung von Kultur und Bürgersinn (AJURCC), dessen Gründungsmitglied sie ist.


Sie wurden 2020 zum ersten Mal gewählt und wurden die erste schwarze Stadträtin in Campina Grande, der zweitgrößten Stadt im Bundesstaat Paraíba. Warum hat es so lange gedauert, bis eine schwarze Frau in Campina Grande gewählt wurde?

Jô Oliveira: Das ist eine Frage, die ich mir selbst stelle und auch den Bewegungen und den Menschen, denen ich mich nahe fühle. Wir sprechen von einer Stadt, die 160 Jahre alt ist. Dieser politische Prozess hat nicht mit mir begonnen, es gab andere Frauen, andere schwarze Frauen, die sich zur Wahl gestellt haben. Wenn wir uns Menschen mit meinem Profil ansehen, wissen wir, dass der Weg oft etwas länger ist. Aber auch die Zeit vor 2020 ist wichtig. Vor allem 2016. Ich war damals zum ersten Mal Kandidatin und konnte verstehen, warum wir eine schwarze Frau in diesem Raum, dem Parlament, brauchen. So konnte ich über den Platz sprechen, den schwarze Menschen, die diese Stadt historisch aufgebaut haben, einnehmen. Unser Wahlkampfslogan lautet 'Die Farbe von Campina. Wir betonen damit die Rolle einer schwarzen Frau aus der Peripherie. Die Leute denken immer noch, dass sie uns beleidigen, wenn sie kommentieren und sagen, dass ich eine Favela-Bewohnerin bin. Das sagt viel über die Entstehung unserer Stadt aus, über das traditionelle politische Erbe, das im Alltag dieser Stadt immer noch sehr präsent ist. Und es spricht von den Herausforderungen, denen wir uns täglich stellen müssen, um uns als Subjekte aktiver Politik zu positionieren. Warum es so lange gedauert hat liegt an dieser politischen Tradition, die immer noch sehr stark mit bestimmten Familien verbunden ist, sehr stark mit jenen Gruppen, die politisch und finanziell wohlhabend sind. Wenn wir uns die Liste der Kandidaten ansehen, wenn wir uns die Liste der in den Stadtrat gewählten Personen ansehen, sehen wir Familien, die dort praktisch seit der Gründung der Stadt vertreten sind. Ich glaube, dass diese Dynamik, Politik mit diesen alteingesessenen Familien zu verbinden, mittlerweile auch auf Widerstand stößt und dass Wähler:innen wollen, dass andere Personen, diesen öffentlichen Raum besetzen können sollen.

Am 6. Oktober haben Sie über 5.000 Stimmen erhalten. Wissen Sie mehr oder weniger, wer Ihre Wähler sind, wie ihr Profil aussieht?

Jô Oliveira: Diese Frage stellen wir uns häufig. Ich stehe hier vor Ihnen als eine schwarze Frau, die gewählt wurde, wiedergewählt wurde, aber es gibt viele Menschen, die uns seit dem ersten Projekt im Jahr 2016 begleiten. Es gibt viele Menschen, die mit uns über das Programm nachgedacht haben, darüber, wie wir uns auf der Straße präsentieren. Es gibt also ein Netzwerk, das meiner Meinung nach den Unterschied bei unserer der Politikgestaltung macht.
Es gibt Menschen, die die vielen Schwierigkeiten verstehen, über die wir sprechen, zum Beispiel, arm zu sein oder Schwierigkeiten beim Zugang zur Universität zu haben. Das sind Menschen, die sich mit unserer Geschichte identifizieren können. Im Laufe der Jahre haben wir aber festgestellt, dass wir auch andere Schichten erreichen, und das liegt vor allem an unserer Arbeit. Wir können das Leben aller Bürger verbessern, nicht nur das einer bestimmten Gruppe. Heute wissen wir, dass wir Menschen in allen Gesellschaftsschichten überzeugen können. Aufgrund meines Hintergrunds fällt es mir leichter, mit bestimmten Menschen zu sprechen. Wir haben jedoch einen gewissen Prozentsatz an Stimmen in der oberen Mittelschicht von Menschen, mit denen ich noch nie einen Kaffee getrunken oder gesprochen habe. Diese Schichten erfahren von meiner Arbeit über traditionelle und soziale Medien. Ich treffe Leute auf der Straße, die sagen, 'ich finde deine Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenenbildung sehr interessant.' Das führt manchmal zu einem Paradoxon. Manchmal weiß in der Gemeinde, in der wir tätig sind, nicht jeder über unsere Arbeit Bescheid, aber über traditionelle oder soziale Medien erfahren Menschen davon, die weiter weg wohnen und gar nicht die Zielgruppe unserer Aktivitäten sind.

Wenn man mit den Menschen in Campina spricht, hört man oft, dass Campina eine konservative Stadt ist, die traditionell politisch eher rechts orientiert ist und daher für linke Politiker:innen ein schwieriges Terrain darstellt. Wie sehen Sie das und hat sich in letzter Zeit etwas geändert?

Jô Oliveira: Als Bürgerin, der in Campina Grande geboren wurde, sehe ich diesen Konservatismus täglich. Aber man muss das relativieren. Es gab immer auch politische Führer, die sich im Laufe der Jahre als Gewerkschafter oder als Kommunisten positioniert haben, die Räume besetzt haben und auch beim Aufbau der Stadt und im Parlament, ihre Präsenz gezeigt haben. Aber, seit der Amtsenthebung Dilmas sind wir mit einer neuen Welle des Konservatismus konfrontiert. Seitdem hatten wir viel mehr Auseinandersetzungen und mussten für unseren Standpunkt kämpfen. In einer Zeit, in der die Demokratie bedroht ist und die Rechte der Frauen in Frage gestellt werden, wird im Wahlprozess alles zu einem Verhandlungsobjekt. Die Menschen haben die Scham verloren, ihren Rassismus, ihre Fremdenfeindlichkeit, alle möglichen -ismen, Rassismus, Sexismus, was auch immer, zum Ausdruck zu bringen. Viele reiten immer noch auf dieser Welle – wir hatten vor ein paar Tagen jemanden im Rathaus, der ein Elon-Musk-T-Shirt trug, dann jemand mit einem Trump-Shirt und so weiter.
Aber wenn wir uns heute die fünf Stadträte mit den meisten Stimmen ansehen, dann sind darunter drei Frauen, ein Schwarzer und ein Schwuler. Wir können also von einem Paradigmenwechsel sprechen, den ich auch auf der Straße mitbekomme. Wir haben das Gefühl, dass wir Menschen erreichen können. Die Leute sagen mir: 'Nach Ihrer Kandidatur verstehe ich, dass ich es auch kann.' Durch unsere Präsenz, geben wir ein positives Beispiel dafür, was alles möglich ist, ohne unsere Wirkung zu romantisieren. Wir sprechen auch über die Schwierigkeiten, wir sprechen darüber, was wir durchmachen, denn es ist nicht einfach, sich diesem Konservatismus zu stellen, dem wir in der täglichen Politik begegnen.

Welche Rolle spielte Rassismus in Ihrer Kindheit als schwarze Frau aus der Peripherie?

Jô Oliveira: Rassismus ist etwas, das manchmal schwer zu messen ist. Wir merken zwar früh als schwarzes Kind, dass wir anders behandelt werden, aber wir rationalisieren es nicht in diesem Moment. Mir wurde das erst sehr viel später bewusst, als ich mich mit den Theorien der Schwarzen Bewegung und der Bewegung schwarzer Feministinnen beschäftigt haben.
Ich erinnere mich an rassistische Vorfälle aus meiner Kindheit, z.B. an das Kind, das in der Schule neben mir saß und dann in der Pause wegging, weil es sein Essen nicht teilen wollte, weil es dachte, ich hätte vielleicht nichts dabei. Oder an die Geschichte, dass etwas verschwand und jemand sagte: 'Oh, das war sie.' Selbst heute noch, wenn ich in einem Raum bin und jemand sagt, dass etwas weg ist, sage ich, dass ich es nicht war. Ich habe meine ganze Kindheit damit verbracht habe, zu sagen, dass ich es nicht war. Ich glaube nicht, dass es schlimmer geworden ist, aber die Menschen sind jetzt in der Lage, es früher zu erkennen, sie können darüber sprechen, sie können sich an einen Lehrer wenden. Das war anders, als ich ein Kind war, es gab weniger Möglichkeiten, unsere Probleme zu äußern. Ich erinnere mich, dass ich einmal einer Lehrerin von einem Vorfall erzählte, den sie als etwas Unwichtiges abtat.
Das zu ändern, ist ein langer Prozess. Wir können das aber nur ändern, wenn wir uns öffnen und wirklich darüber sprechen. Ich freue mich, Kinder und Jugendliche zu treffen, die darüber sprechen, oft sogar unter Schmerzen, und berichten, wenn sie feststellen, dass sie anders behandelt wurden. Ich spreche immer mit Kindern über diese Vorfälle, denn nur weil ich heute Stadträtin bin, heißt das nicht, dass ich davon befreit bin. Es kommt immer noch vor, dass mich jemand auf der Straße sieht und den Bürgersteig wechselt, sich an der Handtasche festhält und denkt, ich könnte sie bestehlen.

Eine Frage zu Ihrer Partei, der PCdoB (Partido Comunista do Brasil). In Europa gibt es nach 1990 fast keine Parteien mehr, die Kommunismus im Namen tragen. Sie haben sich in Linkspartei, Sozialistische Partei oder etwas anderes umbenannt, aber Ihre Partei trägt den Kommunismus noch immer im Namen. Was bedeutet eine kommunistische Partei im Jahr 2024?

Jô Oliveira: Ich bin erst seit kurzer Zeit in der Kommunistischen Partei von Brasilien, verglichen mit den 102 Jahren der Partei. Ich bin vor fünf Jahren der Partei beigetreten. Ich bin kein langjähriges Mitglied und war in den 1990er Jahren, als diese Debatten stattfanden, nicht Teil der Partei. Ich denke, es war eine interessante Entscheidung, den Namen beizubehalten und diese Identität zu bewahren, denn wir leben in einer Zeit, in der alles in Frage gestellt wird. Die Geschichte und Tradition der Partei zeigen eine Kontinuität bei wichtigen Fragen, auch im Zusammenhang mit der Militärdiktatur. Aber es gibt ein Vorurteil gegenüber dem Namen Kommunismus, und er wird von politischen Rivalen missbraucht. Zum 100. Geburtstag der Partei gab es drei endlose Sitzungen im Stadtrat mit widerlichen und absurden Reden über den Kommunismus.

Ihre zweite Amtszeit beginnt bald. Was sind Ihre wichtigsten politischen Pläne für die kommenden vier Jahre?

Jô Oliveira: Offiziell endet unser derzeitiges Mandat im Dezember 2024. In der verbleibenden Zeit gibt es noch eine Reihe von Dingen, die wir tun müssen, um diesen Zyklus abzuschließen. Es gibt einen Fahrplan, an den wir uns halten wollen, nicht zuletzt, weil wir vielen Menschen gegenüber eine Verpflichtung eingegangen sind. Dabei geht es nicht um den Austausch von Gefälligkeiten, sondern um die Verpflichtung gegenüber Zielen, die wir für wichtig halten. In unserem Programm für 2024, das ab 2025 umgesetzt werden soll, haben wir uns gemeinsam mit den Organisationen, die sich auf nationaler Ebene für die Belange von Familienbetrieben einsetzen, wie z. B. MST, für die bäuerliche Landwirtschaft eingesetzt. Außerdem haben wir uns verpflichtet, uns für eine verträgliche Nutzung erneuerbarer Energien einzusetzen, da in der Umgebung von Campina die Solar- und Windenergie stark ausgebaut wird. Wir müssen darüber diskutieren, um welche Art von sauberer Energie es geht, wenn sie die Lebensmittelproduktion, unser tägliches Leben und unsere Mobilität auf dem Land beeinflusst. Wir setzen uns weiterhin für junge Menschen und Frauen ein. Einige dieser Aspekte, über die wir im Laufe der Jahre debattiert haben, konnten wir vorantreiben, beispielsweise durch die Vorlage von Gesetzesentwürfen für Frauen. Aber wir müssen in der LGBT-Frage und in der Frage der Menschen mit Behinderungen noch mehr Fortschritte erzielen. In dieser zweiten Amtszeit gibt es noch viel zu tun. Wir möchten auch das Monitoring fortsetzen, das wir in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Sozialhilfe und wirtschaftliche Entwicklung leisten. Kurz gesagt, wir möchten die Stadt in all ihren Dimensionen betrachten. Ich habe festgestellt, dass einige meiner Kollegen denken, dass ich, weil ich eine Frau bin, die auch an vorderster Front für Identität und unseres politisches Projekt kämpft, nur bestimmte Agenden habe und darauf reduziert werde. Aber wenn wir über Gesundheit sprechen, wissen wir, dass die am vulnerabelsten Gruppen am meisten leiden, wenn die Gesundheitspolitik nicht funktioniert, und viele schwarze Frauen gehören zu dieser Gruppe.
Viele Frauen sagen mir, dass ich weiter machen solle mit diesem Mut, bestimmte Dinge anzusprechen. Es ist für mich interessant, mit den Erwartungen der Menschen umzugehen. Heute hat mich ein Mädchen in der Klasse aufgefordert, als Bürgermeisterin zu kandidieren. Es ist sehr bewegend, Menschen an unseren Träumen teilhaben zu lassen. Wir können von einer anderen Stadt träumen. Hier in der Politik zu sein, die Aussicht auf eine zweite Amtszeit zu haben, Vorschläge zu haben, bedeutet auch, ein wenig von dieser Vorstellungskraft zu wecken. Ich hätte mir nicht vorstellen können, Stadträtin zu werden, aber ich hätte mir auch nicht vorstellen können, dass ich andere Menschen dazu bewegen könnte, mit mir zu träumen.

// Ekrem Eddy Güzeldere