LULA - Anfang oder Ende eines historischen Prozesses?

Ich erinnere mich noch ganz gut an den zentralen Satz Lulas während seiner Amtsübernahme als Präsident Brasiliens: „Ich bin nicht das siegreiche Produkt eines Wahlkampfes, sondern das Resultat eines historischen Prozesses“.
| von Beat Wehrle

Tatsächlich ist Lula Kind einer Familie aus dem Nordosten Brasiliens, die auf dem Strom der Landflucht vom Magnet der sich industrialisierenden Metropolen (Achse Rio de Janeiro - São Paulo) angezogen wurde. Er selber wurde Maschinenmechaniker und fand Arbeit im explosiv wachsenden Industrieteil der Metropole São Paulo, genannt ABC (Santo André, São Bernardo und São Caetano).

Noch befinden wir uns mitten in der Militärdiktatur (1964-1985). Lula blieb nicht lange Arbeiter, sondern begann sehr schnell am lange verbotenen Wiederaufbau einer gewerkschaftlichen Bewegung zu arbeiten. Ende der siebziger Jahre geschahen die ersten historischen Streiks der Automobilindustrie im ABC, und an der Spitze der neu aufkommenden Gewerkschaftsbewegung war Lula. Ihm war klar, dass die Theorie der Militärdiktatur - zuerst wirtschaftlich wachsen, erst danach den Kuchen unter allen verteilen - absolute Verschleierung der wirklichen Dynamik des Industrialisierungsprozesses war. Der Wirtschaft ging es zwar blendend, doch dem brasilianischen Volk ging es immer mieser. Mit der Gewerkschaftsbewegung, die sich ausgehend vom ABC auf ganz Brasilien ausbreitete, kam die Forderung nach sozialen Rechten wieder aufs Tapet.
Dieser frühlingshafte Ausbruch war nur möglich, weil seit Jahren bereits ein organischer Boden vorbereitet wurde: die kirchlichen Basisgemeinden. Mit einem Auge lesen sie die Bibel und mit dem anderen Auge wagen sie, die soziale Wirklichkeit des brasilianischen Volkes zu interpretieren. Ihre Konsequenz war klar: christliche Identität hängt wesentlich vom sozialen Engagement ab. Ohne Teilung der Güter ist keine eucharistische Tischgemeinschaft möglich.
Die Kirche wurde zu einem privilegierten Ort der Zusammenkunft. Da das Versammlungsrecht durch die Militärdiktatur untersagt war, machten Unzählige - bewusst der gelebten Wirklichkeit - eine klare Option für die Kirche als möglicher Ort des Zusammenkommens, der Reflexion und des Planens möglicher Aktionen. Mit dieser massiven Bewegung von unten machte auch die Kirche eine wichtige Option für die Armen. Die Armen rannten die Türen der Kirchen ein, da diese institutionell den Standpunkt der Armen und Ausgeschlossenen vertrat und kräftig die Verbreitung der Basisgemeinden als neue Form, Kirche zu leben, antrieb.
Der entscheidende Dünger war das Gedankengut der Pädagogik der Unterdrückten von Paulo Freire und der Befreiungstheologie von Leonardo Boff, Frei Betto und vielen anderen, in der sozialen Bewegung organisch integrierten Theologen. Die brasilianische Wirklichkeit im Umfeld der Militärdiktatur wurde richtig mit dem Paradigma der Unterdrückung identifiziert, das Aufkommen einer breit verwurzelten, sozialen Bewegung fand sich in den Perspektiven der Befreiung. Das Wagnis einer sozialen Bewegung der Befreiung ist der Rahmen des historischen Prozesses, von dem Lula redet.
Nach dem erfolgreichen Widerstand der Gewerkschaftsbewegung ging Lula einen Schritt weiter. Er fand ein weiteres, wichtiges Instrument, um die Suche nach Befreiung, den Weg in Richtung sozialer Veränderungen zu qualifizieren: eine politische Partei. Aus der Verbindung von Vertretern der kirchlichen Basisbewegung, vom Exil zurückkehrender Intellektueller, von im Untergrund aktiver, linker Gruppierungen und von Vertretern der neu entstandenen Gewerkschaftsbewegung entstand die Arbeiterpartei - Partido dos Trabalhadores - PT: eine Zusammensetzung die alle orthodoxen Vorstellungen einer linksorientierten Partei sprengten. Und tatsächlich wurde der PT geboren (1980), um anders zu sein: weder ideologisch verhärtet, noch pragmatisch verdünnt.
Doch Lula blieb nicht bei der Gründung (s)einer Partei stehen. Bald motivierte er den Aufbau der ANAMPOS - Articulação Nacional dos Movimentos Populares e Sindicais (nationale Artikulation der Gewerkschafts- und Volksbewegungen) (1980). Ihm war klar, dass die Partei ein wichtiges Werkzeug ist. Doch sie allein war nicht in der Lage, eben den gesuchten Weg der Befreiung zu ebnen. Aus der ANAMPOS entstand die CUT - Central Única dos Trabalhadores (Einzige Gewerkschaftszentrale) (1983), welche den Samen einer neuen Gewerkschaftsbewegung ausgehend vom ABC paulista in ganz Brasilien streute.
Die ANAMPOS wurde zur ANAMPO, denn mit der CUT war das "s" (sindical), das für die Gewerkschaftsbewegung steht, gelöst. Ein neues autonomes Subjekt war entstanden. Die nächste Herausforderung war die Verbindung der in ganz Brasilien verstreuten Volksbewegungen (Movimentos Populares). 1993 kam es endlich zur Gründung der Central de Movimentos Populares - CMP (Vereinigung der Volksbewegungen).
Dieser lange Werdegang zeigt, wie schwer es ist, die ganz und gar heterogenen, spezifischen Bewegungen für die Rechte der Kinder, der Frauen, gegen alle Formen der Diskriminierung, für das Recht auf Erziehung, Gesundheit, Obdach usw. auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Jede spezifische Bewegung für sich hat kaum Stimme. Nur in der Vereinigung ihrer charakteristischen, kleinen Kräfte wachsen sie an Wichtigkeit, werden realer Ausdruck der Anliegen der sozial ausgeschlossenen Mehrheit Brasiliens und bekommen eine strategische Rolle im Spiel der gesellschaftlichen Interessen.
Während die urbanen Volksbewegungen lange Zeit brauchten, sich als Vernetzung unzähliger lokaler und regionaler Initiativen mit gemeinsamen Zielen zu verbinden, wuchs auf dem Lande, was heute die wohl wichtigste Volksbewegung Lateinamerikas ist: die brasilianische Landlosenbewegung - Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra - MST. Sie organisieren vom Land verdrängte Bauernfamilien und heute auch in der Stadt sozial ausgeschlossene Gruppen. Gemeinsam kämpfen sie um soziale Veränderung und um die Verwirklichung der verfassungsmäßigen längst verankerten Landreform, von der jedoch bis heute nur kleine Bruchstücke verwirklicht wurden. Als Mexiko die Sklaverei verbot, wurde eine Landreform realisiert. Als jedoch Brasilien als letztes Land Lateinamerikas die Sklaverei offiziell untersagte, wurde schnell danach ein neues Strafrecht in Kraft gesetzt. Von einer Landreform keine Spur. Mit anderen Bewegungen vereinigt in der Via Campesina (MMC - Movimento de Mulheres Camponesas: Bewegung der Landfrauen; MAB - Movimento dos Atingidos por Barragens: Bewegung der von Stauseen Verdrängten; MPA - Movimento dos Pequenos Agricultores: Bewegung der Kleinbauern etc.), ist die Landlosenbewegung der kräftige Ausdruck einer autonomen sozialen Bewegung.
Jetzt haben wir grob das Team der unermüdlichen Kämpfer für soziale, politische und wirtschaftliche Veränderung und Befreiung zusammen: die Arbeiterpartei (PT), die Gewerkschaftsbewegung (CUT), die Volksbewegungen von Stadt und Land (CMP und MST) und das lose, doch breite Netz der Basisgemeinden und der sozialen Pastoralarbeiten der Kirchen. Theoretisch sollte niemand Kapitän sein in diesem Team. Alle spezifischen Subjekte versicherten, ausgehend von der je eigenen Identität gemeinsam an der sozialen Veränderung zu arbeiten.
Bis Ende der achtziger Jahre war auch die Kurve der Stärkung, der Verbreitung und der Mobilisation dieser sozial-politischen Subjekte kontinuierlich steigend. Ausdruck dieser wachsenden Kraft ist die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Ausarbeitung der neuen brasilianischen Verfassung. 1988 trat die sogenannte Verfassung der Bürgerrechte (Constituição Cidadã) in Kraft. Ausgehend von ihr entstand in den folgenden Jahren die gesetzliche Neuausrichtung der Rechte der Kinder und Jugendlichen (Estatuto da Criança e do Adolescente - ECA), das Recht auf Sozialhilfe (Lei Orgânica da Assistência Social - LOAS) und Erziehung (Lei de Diretrizes Básicas da Educação - LDB). Einzig die Landreform konnte nicht so wie geträumt in der Verfassung erweitert werden. Die neue Verfassung garantierte die Landreform auf unproduktiven Großgrundbesitzen und nicht - wie von der Landlosenbewegung gefordert - auf allen Großgrundbesitzen, welche ihrer sozialen Funktion nicht gerecht werden. Ein Großgrundbesitz in der Größe des Kantons Zürich auf dem zwei Dutzend Kühe grasen, konnte also als produktiv deklariert werden. Und trotzdem: die Landreform war in der Verfassung verankert und der Kampf um Land hatte gesetzlichen Rückhalt.
1989 fanden die ersten direkten Präsidentschaftswahlen statt. Lula war der natürliche Kandidat und trat gegen Fernando Collor de Mello, Repräsentant der Oligarchien des Nordostens Brasiliens, an. Dies war wohl der eindrücklichste Wahlkampf der brasilianischen Geschichte. Die Menschen der Volksbewegungen, der Basisgemeinden, der Gewerkschaften und natürlich der Arbeiterpartei beteiligten sich am Wahlkampf. Jeder kaufte Abziehbilder "LULA President!" und schmückte stolz das Haus mit Lulas Wahlpropaganda. Jeder war ein mobiles Wahlkomitee. Während unzähliger Nächte malten sie mit weißem und rot gefärbtem Kalk den Stern der Arbeiterpartei und die Nummer 13 von Lula auf Mauern, klebten Plakate der Kandidaten der Arbeiterpartei auf Wände und Pfosten. Trotz allem verlor Lula ganz knapp. 1992 wurde Fernando Collor wegen Korruption abgesetzt. 1994 verlor Lula gegen Fernando Henrique Cardoso, und 1998 genauso.
Die Bilanz der neunziger Jahre ist zutiefst enttäuschend. In der Zeit der zurückerlangten Demokratie haben sich die sozialen Gegensätze im längst ungleichen Brasilien noch weiter vertieft. Die Welt zählt um die zweihundert Nationen. Brasilien figuriert unter den fünfzehn reichsten. In der Liste der sozialen Ungleichheit jedoch steht Brasilien mit an erster Stelle. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds konzentrieren die reichen 10% der brasilianischen Bevölkerung 44% des nationalen Einkommens. Die ärmsten 10% müssen gerade mit 1% des nationalen Einkommens ums Überleben kämpfen.
Um die heutige Konjunktur Brasiliens zu verstehen, sind gerade Tendenzen und Optionen der neunziger Jahre von wesentlicher Bedeutung.
Eine erste Tendenz ist das klare Zurückbuchstabieren der Hierarchie der Katholischen Kirche. Sie schließt den sozialen Bewegungen die Türen und adoptiert Methoden, welche den fundamentalistischen Pfingstkirchen sehr nahe kommen. In São Paulo wird die von Kardinal Paulo Evaristo Arns aufgebaute Basiskirche durch das Kirchenmodell des Popstars Padre Marcelo verdrängt. Dieser bietet mit seiner "Jesus-Aerobik" (aeróbica de Jesus) und seinen "Show-Messen" augenblickliche Emotionen an und vertröstet auf individualistisch verkürztes Heil. Die Kirche der Befreiung verliert an Kraft und Einfluss. Ihre Fähigkeit, durch Bewusstseinsbildung in den Gemeinden und Pfarreien neue Mitstreiter der sozialen Bewegungen vorzubereiten, wird immer mehr begrenzt.
Eine zweite Entwicklungsrichtung verändert die Gradlinigkeit der Gewerkschaftsbewegung der CUT - Central Única dos Trabalhadores. Sie verliert ihren utopischen Horizont und übernimmt im Kontext des Neoliberalismus und der grassierenden Arbeitslosigkeit immer stärker pragmatische und selbst korporative Positionen. Gleichzeitig gewinnt jedoch eben diese Gewerkschaftsbewegung innerhalb der Arbeiterpartei große Bedeutung: ganz bestimmt beeinflusst und beflügelt durch die finanzstarken Strukturen der spezifischen Gewerkschaften. So ist es nicht zufällig, dass gerade der vor wenigen Tagen abgesetzt Kassier der Arbeiterpartei, Delúbio Soares, vorher Kassier der CUT gewesen war.
Die dritte Tendenz besteht in der großen Schwierigkeit, das breite Netz der Volksbewegungen in eine Richtung zu kanalisieren. Wie gesagt, wurde die Vereinigung der Volksbewegungen (Central de Movimentos Populares - CMP) erst 1993 hervorgerufen. Die Gründung folgte innerhalb des beschriebenen historischen Prozesses relativ spät. Und bis heute fehlen der CMP die nötigen Mittel, sich als nationale Referenz zu strukturieren. Die Obdachlosen sind es selber, welche die Wohnbewegung organisieren. Die von der Schule Ausgeschlossenen kämpfen selber für die Qualität in der Erziehung. Zwar zählten die Volksbewegungen stets auf die begleitende Unterstützung vieler NGOs. Doch genau im Kontext des Aufbaus einer Vereinigung der Volksbewegungen entwickeln sich die NGOs immer mehr weg von der beratenden Mission der sozialen Bewegungen und hin zum autonomen Subjekt mit eigener Identität. Nicht zufällig ist es, dass genau in dieser Zeit die brasilianische Vereinigung der NGOs (Associação Brasileira de ONGs [organizações não-governamentais] - ABONG) entsteht.
Gleichzeitig verliert Brasilien in den Strategien der internationalen Hilfswerke an Bedeutung. Dazu kommt, dass die professionell qualifizierten NGOs - verglichen mit den Volksbewegungen - leichteren Zugang finden zu den immer stärker reduzierten Mitteln der Hilfswerke. Auch entsprechen die NGOs viel leichter den wachsenden Anforderungen der Hilfswerke an strategischer Planung und Ausweis der erreichten Resultate als Produkt der gemachten Investitionen. Was inhaltlich durchaus korrekt ist, hatte strategisch verheerende Folgen. Die für die sozialen Veränderungen fundamentale Stärkung der sozialen Basisbewegungen fand nicht die nötige Unterstützung, sich als eigenständigen und unabhängigen Ausdruck der ausgeschlossenen Mehrheit des brasilianischen Volkes zu stärken. Die nationale Vereinigung der Volksbewegungen (CMP) zählt heute auf die Unterstützung von wenigen Organisationen und Hilfswerken und hat ein bescheidenes Budget, das sicher kleiner ist als die jährlichen Ausgaben einer mittleren, lokal aktiven NGO. Obwohl der CMP bis heute die eigene Autonomie und Unabhängigkeit von politischen Parteien und Gewerkschaften sehr wichtig ist, drängte die Realität der fehlenden Mitteln die Volksbewegungen trotzdem in eine wesentliche, indirekte Abhängigkeit in ihrer Beziehung zur Arbeiterpartei. Immer mehr wurden Repräsentanten der Volksbewegungen durch Parlamentarier der Arbeiterpartei (auf der Ebene der Gemeinden [Câmara Municipal], der Bundesstaate [Assembléia Legislativa] und im nationalen Parlament [Câmara dos Deputados und Senat]) in ihren Kabinetten angestellt. Zwar sicherten viele Volksbewegungen so ihr provisorisches Weiterbestehen, doch ein großer Teil der wesentlichen Unabhängigkeit war verloren. Und damit auch die Möglichkeit, sich als strategische Referenz der Basisbewegungen zu stärken.
Nur der Landlosenbewegung gelang es - trotz der immer stärker werdenden Verfolgung durch die Regierung von Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) und der konsequenten Kriminalisierung der Landlosen - sich zu stärken. Ohne Zweifel war in diesem Prozess das breite Netz des Freundeskreises der Landlosenbewegung (Grupos de Amigos do MST) in Europa und Nordamerika entscheidend. Auch half die tatkräftige Unterstützung von Sebastião Salgado (international renomierter Fotograf) und Chico Buarque (Musiker und Schriftsteller) wesentlich mit. Die Grenzen der Landlosenbewegung sind also nicht strukturell, sondern inhaltlich bedingt. Die Zielgruppe des MST sind die landlosen Bauern, also ungefähr 15 Millionen Brasilianer. Das entspricht weniger als 10% der brasilianischen Bevölkerung. Der Großteil des ausgeschlossenen brasilianischen Volkes lebt jedoch in den Ghettos der Favelas der Großstädte. Und dort sind es gerade die städtischen Volksbewegungen der CMP, welche trotz aller Schwierigkeiten versuchen, den Teufelskreis der Armut und des Elends zu durchbrechen.
Die drei beschriebenen Tendenzen (Rückzug der Kirchen aus der sozialen Bewegung, Pragmatisierung der Gewerkschaftsbewegung und das Fehlen einer strategischen Referenz der Volksbewegungen) führen zu einer klaren Stagnation der Mobilisierungskraft der sozialen Bewegungen. Die vierte und wohl entscheidende Tendenz ist Konsequenz dieser Stagnation. Die Arbeiterpartei als politischer Ausdruck der sozialen Bewegung Brasiliens verwandelte sich immer stärker und immer klarer in eine regelrechte Wahlmaschine. Die Arbeiterpartei entschied sich klar für die Flucht nach vorne. In diesem Sinne war die Botschaft von Lula seit dem Wahlkampf von 1998 deutlich: "Wir alleine haben nicht genug Kraft, meine Wahl zum Präsidenten zu ermöglichen: Wir haben keine Alternative, wir müssen uns mit anderen Parteien verbinden".
Ab diesem Moment zentrierte sich das Vorgehen der Arbeiterpartei absolut um das Ziel, die Wahlen zu gewinnen: koste es, was es wolle. Zuerst wurde eine Wahlallianz beschlossen, die sich jedoch nicht um das Einverständnis eines gemeinsamen Weges für die Zukunft Brasiliens zentrierte, sondern ausschließlich um die Wahlen 2002 zu gewinnen. Und Lula hat die Wahlen gewonnen. Er übernahm die Regierung, nicht unbedingt jedoch die Macht. Im Universum von mehr als fünfhundert Nationalräten erreichte die Arbeiterpartei gerade knapp sechzig Sitze. Um die Regierungsfähigkeit zu sichern, musste Lula also seine Allianz mit anderen Parteien weiter öffnen. Die Sozialdemokratische Partei von Fernando Henrique Cardoso (trotz der theoretisch relativen Nähe zur Arbeiterpartei, ausgehend von gemeinsamen geschichtlichen Wurzeln in der Resistenz gegen die Militärdiktatur) wurde radikale Opposition. Was übrig blieb, waren traditionelle "Mietsparteien", welche sich für persönliche Vorteile mit jeglicher Regierungspartei verbinden. Und die Arbeiterpartei hat sie gemietet.
Der Preis, auf diese Weise die Regierungsfähigkeit zu garantieren, (das wissen wir heute) war zu teuer. Trotz wichtiger und interessanter Initiativen ist die Regierung Lula zu einem Verband gegensätzlicher, ja widersprüchlicher Interessen geworden: einerseits die Weiterführung der neoliberalen Wirtschaftspolitik, andererseits der Ansatz struktureller Veränderungen; einerseits die Stärkung des Agrobuisness, andererseits die Landreform als historisches Ziel. Tatsache ist, dass in den knapp drei Jahren der Regierung Lula die "Revolution der sozialen Prioritäten" nicht statt gefunden hat.
Noch schlimmer ist die Bilanz der Mittel, die gebraucht wurden, um nicht das Gewünschte, sondern das Mögliche zu verwirklichen. Auf Kosten des historischen Legates der Ethik in der Politik machte die Arbeiterpartei immer mehr Gebrauch der alten, konventionellen und traditionellen Politik der brasilianischen Eliten. Ein Skandal nach dem andern hat die Regierung Lula bloßgestellt. Die scheinheilige Opposition zieht moralisch über Lula her und klagt ihn eines Giftes an, das sie selber während Jahrzehnten gebraut haben.
Die Regierung Lula und die Arbeiterpartei stecken in einer tiefen Krise. Trotzdem hat sich Lula - aus meiner Sicht - nicht jetzt als Präsident verändert, er ist weder korrupt noch ein Verräter. Doch er und die Arbeiterpartei zahlen den absurden Preis ihrer eigenen Entscheidung, auf alle Kosten die Wahlen zu gewinnen: ganz klar ein strategischer Fehler.
Die strukturellen Veränderungen Brasiliens hängen nicht in erster Linie vom Gewinnen spezifischer Wahlen ab. Sie bedingen einen Umbruch im Ungleichgewicht der Interessenvertretung in der brasilianischen Gesellschaft. Die Kraft einer politischen Partei ist zuwenig. Die Mobilisierung der brasilianischen Zivilgesellschaft und die Überwindung der Stagnation der sozialen Bewegungen sind wesentliche Bedingungen.
Im Französischen heißt "je suis" sowohl "ich bin" als auch "ich folge". Meine Identität festigt sich also auf dem Weg, den ich wähle, und streckt sich nach dem Ziel, dem ich folge. Die Arbeiterpartei hat das Ziel eines anderen Brasiliens aus der Sicht verloren und hat deshalb seine eigene Identität aufs Spiel gesetzt. Mit den Worten von Frei Betto ist das Dilemma der Arbeiterpartei klar bezeichnet: "Die Arbeiterpartei lebt das Dilemma von Hamlet: sein oder nicht sein; eine Partei sein, die Wahlen gewinnen will, oder Werkzeug sein am Bau eines historischen Projektes für ein anderes Brasilien."
Regierungen kommen und gehen, doch die Zivilgesellschaft und die sozialen Bewegungen bleiben. Sie arbeiten weiter am "historischen Prozess", welcher Lula als Präsident hervorgebracht hat. Dieser "historische Prozess" braucht heute einen landesweiten Dialog, der verbindende Linien eines neuen Brasiliens hervorbringen muss: ein anderes Brasilien, gebaut von unten nach oben, von innen nach außen; eine Entwicklung, die soziale Gerechtigkeit ermöglicht und das Gleichgewicht mit der Natur sichert; eine Wirtschaft, welche Arbeit und Einkommen für alle gewährt und die abartige Ungleichheit verkleinert; eine Politik, die auf Ethik und Partizipation baut und so Ort der Strukturierung der kollektiven Interessen des brasilianischen Volkes ist. So ist Lula weder Anfang noch Ende des "historischen Prozesses". Damit Lula und die Arbeiterpartei jedoch an diesem "historischen Prozess" erneut mitarbeiten können, müssen sie entschieden den Weg zurückfinden zu ihrem eigenen, größten politischen Kapital: den sozialen Bewegungen.

Beat Wehrle, Co-Direktor des Kinderrechtszentrums
von Interlagos und Koordinator des Brasilienprogrammes
von E-CHANGER