Interview: Belegschaftsübernahmen insolventer Unternehmen

Im September 2015 findet in Berlin der Kongreß Solidarische Ökonomie 2015: www.solikon2015.org statt. Unter den Gästen wird auch Dr. Flávio Chedid vom Nukleus für technische Solidari­tät der Universität Rio de Janeiro sein. Hier ein Interview mit ihm über Belegschaftsübernahmen, Wiederingangsetzung der Unternehmen durch die Arbeiterinnen und Arbeiter und welche Schwierigkeiten, Herausforderungen und Chancen sich stellen.
| von Interview: Katrin Wiemer, Clarita Müller-Plantenberg und Gerald Hoffmann-Mittermaier
Interview: Belegschaftsübernahmen insolventer Unternehmen

Das Interview führten Katrin Wiemer, Clarita Müller-Plantenberg und Gerald Hoffmann-Mittermaier.

 

Belegschaftsübernahmen insolventer Unternehmen: Interview mit Dr. Flávio Chedid, Nukleus für technische Solidari­tät der Universität Rio de Janeiro

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Flávio Chedid. Photo: privat

Welche Unterstützung war für die Arbeiter bei Belegschaftsübernahmen unbedingt notwendig?

Viele Fälle von Wiederingangsetzung von Unternehmen fanden statt nach der Besetzung der Fabriken und ohne die Erlaubnis der alten Inhaber oder der Justiz. Der Kampf beginnt bei den Bedürfnissen der Arbeiter, die sich ohne vorherige Kenntnis dieses Prozesses zu organisieren beginnen.

Viele dieser Fälle zeigen, dass es absolut möglich ist, das Unternehmen in Gang zu setzen, ohne dass die alten Unternehmensleiter anwesend sind. Der Lernprozess findet in den meisten Fällen in der Praxis statt. Natürlich gibt es Fälle (setores), die die Gegenwart von Fachleuten erfordern, wie z.B. Ingenieuren, um einfach den Betrieb in Gang zu setzen, wie etwa eine Mine in Südbrasilien. Ingenieure, die bereit sind, mit den Belegschaftsübernahmen zu arbeiten, sind knapp. Im Falle dieses Bergbauunternehmens musste ein Beschäftigungsvertrag mit Fachleuten gemacht werden, die auf dem Markt verfügbar waren und deren Wertvorstellungen die des Marktes waren. Auf Grund der Asymmetrie, die zwischen Ingenieuren und Bergarbeitern existierte, optierten diese dafür, die Ingenieure nicht zu Mitgliedern des Unternehmens zu machen, sondern zu Angestellten der Bergarbeiter. Es ist ein interessanter Fall, um die gewählte Lösung zu verstehen. Es ging darum, die zuvor existierende Asymmetrie zu verringern.

Aber meiner Meinung nach ist die wichtigste Unterstützung für diese Erfahrungen die der Nachbarn und sozialen Organisationen, die bereit sind zu kämpfen, um zu ermöglichen, dass die Besetzung stattfindet und diese Arbeiter das Recht haben, ihre Tätigkeiten weiter auszuüben. In Argentinien gibt es sehr interessante Fälle von kleinen Unternehmen, die Hunderte, ja Tausende mobilisierten, um vor ihren Werkstoren gegen die Räumung zu kämpfen, wie der Fall des Grafikunternehmens Chilavert zeigt.

Gibt es Bildungskonzepte – jenseits der Lernprozesse und Gründungsberatung sowie Weiterbildung von Unternehmen – direkt für die Belegschaftsübernahmen? Welche Gruppen erhalten eine Ausbildung in der Solidarischen Ökonomie und wie wird dies durchgeführt?

Ein großer Teil der Fälle von wiederinganggesetzten Unternehmen in Brasilien und Argentinien in den Jahrzehnten von 1990, 2000 und 2010 sind nicht das Ergebnis eines vorherigen Bildungsprozesses. Sie entstanden zum großen Teil auf Grund der Bedürfnisse der Arbeiter, die ihre Arbeitsplätze erhalten wollten, was Julian Rebón den „Ungehorsam gegenüber der Entlassung“ genannt hat.

Bei der Entstehung der Bewegungen der Belegschaftsübernahmen in Argentinien und zum Teil in Brasilien griff man mit einer Beratung in einigen Fällen die Erfahrungen der Unternehmen auf, die bereits durch diesen Prozess gegangen waren.

Es gibt einige Bildungsaktivitäten, die von diesen Beratungen ausgehen, aber ich würde nicht sagen, dass sie für die Übernahme des Unternehmens ausschlaggebend waren. Weder zu Beginn, noch in der weiteren Führung der Unternehmens. Es gibt immer noch wenig Fortschritt in Kursen, die speziell für die Leitung der Unternehmen konzipiert sind, vor allem jener, die die Besonderheiten der Selbstverwaltung berücksichtigen.

Auf dem Feld der Solidarischen Ökonomie in Brasilien gibt es einen Fortschritt mit den Bildungszentren für Solidarische Ökonomie. Aber diese sind nicht auf die Belegschaftsübernahmen ausgerichtet und werden sehr wenig von diesen angefragt, da diese eine andere Realität darstellen. Es sind in ihrer großen Mehrheit Industrieunternehmen, während die Bewegung der Solidarischen Ökonomie zum Großteil aus Dienstleistungen und handwerklicher Produktion besteht.

In Argentinien hat die Offene Fakultät der Universität von Buenos Aires eine Reihe von Handbüchern mit dem Ziel entwickelt, die Wiederingangsetzungs- und Führungspraktiken der Unternehmen durch die Arbeiter zu systematisieren. Sie umfassen u.a. Themen zum Rechnungswesen, zur Wiederingangsetzung der Unternehmen, zum rechtlichen Rahmen. Aber auf dem Gebiet ist noch viel zu tun, da das heute existierende Wissen über die Unternehmensführung nicht in der Perspektive der Selbstverwaltung konzipiert war.

Sie haben als Ingenieur an Belegschaftsübernahmen teilgenommen mit Arbeitern von Unternehmen in Argentinien, Uruguay, Brasilien und Frankreich. Wo besteht ihrer Meinung nach die fortschrittlichste Politik gegenüber Belegschaftsübernahmen von Seiten der Kommunen/ staatlichen Behörden und wo von Seiten der Gewerkschaften?

Es ist schwierig, die Politiken der Regierung von denen der Gewerkschaften und von den Aktionen der anderen organisierten zivilgesellschaftlichen Akteure zu trennen. Im Allgemeinen reflektieren die Fortschritte auf diesen Gebieten die Organisation der Bewegung. Die Belegschaftsübernahmen in Argentinien haben auf Grund der Größe und Dauer ihres Bestehens die meisten Anhänger gewonnen, sei es von Seiten der Regierungen, sei es von den Gewerkschaften oder sei es von anderen Nicht-Regierungs-Institutionen. Das heißt nicht, dass es unter all diesen Akteuren nicht auch jene gäbe, die gegen die Interessen der Belegschaftsübernahmen arbeiten, was der Fall ist beim Chef der Regierung von Buenos Aires, Maurício Macri.

In Uruguay gibt es in Bezug auf die Finanzierung einen Fortschritt für die Belegschaftsübernahmen, das ist ein Entwicklungsfonds (FONDES) besonders für Selbstverwaltungserfahrungen. Er wurde unter der Regierung von Pepe Mujica eingerichtet und unter Tebaré Vásquez vor kurzem verändert und steht nun nicht mehr nur für diese Erfahrungen zur Verfügung.

Obwohl dieses letzte Beispiel den Eindruck vermitteln könnte, dass es die Regierungen sind, die die Unterstützung der Belegschaftsübernahmen definieren, meine ich, dass es die Mobilisierung ist, die mit diesen Erfahrungen einhergeht und ihre Organisation. Davon hängt ab, wie weit man mit diesem Thema vorankommt.

Wo tragen die Belegschaftsübernahmen zur regionalen Entwicklung bei?

In Argentinien, Brasilien und Uruguay habe ich Fälle kennengelernt, die sich nicht auf das Verhalten in der Fabrik reduzieren lassen: z.B. bei Zanón, der Solidarischen Union der Arbeiter von Chilavert oder bei Flaskô. Dort begannen die Arbeiter, an der Entwicklung der sie umgebenden Gemeinschaft teilzunehmen – sei es durch Öffnung der Fabrik für Kulturveranstaltungen und Workshops, sei es bei der direkten Aktion in den Territorien, beim Bau von Häusern, durch Teilnahme an Demonstrationen oder Radioprogrammen, beim Bau von Schulen und vielen anderen Aktionen, die ich in meinem Buch versucht habe zu systematisieren.

Welche Fachleute sind besonders wichtig bei der Wiederingangsetzung der Unternehmen: Ökonomen, Anwälte, Techniker, Psychologen, Soziologen?

Ich denke, dass viele Fachleute wichtig sind, sofern sie nicht von dem Prinzip ausgehen, dass sie das Wissen besitzen, dass den Arbeitern vermittelt werden muss. Die Unternehmensführung ist neu, es gibt kein akkumuliertes Wissen über dieses Thema. Das Modell der Selbstverwaltung, die mehr Autonomie der organisierten Arbeiter voraussetzt, würde nichts davon haben, wenn die Spezialisten eine Einstellung von Unternehmensberatern an den Tag legten. Es ist notwendig, dass auch sie von den neuen Organisationsmodellen lernen und mit den Erfahrungen ihre theoretischen und konzeptuellen Schemata überdenken, ebenso wie ihre Instrumente zur Unternehmensführung.

Mit dieser Herangehensweise sind Fachleute aus den Humanwissenschaften, der Technik und dem Gesundheitswesen natürlich in der Lage, viel zum Kampf um die Belegschaftsübernahme beizutragen. Es ist sehr wichtig, dass wir einen neuen legalen Rahmen für diese Erfahrungen bekommen, eine neue Technologie, die in der Lage ist, der neuen Form der Arbeitsorganisation und der Nachfrage nach Produkten zu entsprechen; auch sollten Aspekte der physischen und psychischen Gesundheit der Arbeiter berücksichtigt werden. Diese Fragen können nicht konkretisiert werden ohne eine interdisziplinäre Aktion, die die verschiedenen Wissenschaftsgebiete mit in Betracht zieht.

Gibt es Beispiele, wo nach einer Belegschaftsübernahme in Richtung auf Konversion gearbeitet wurde?

Ja, obwohl das nicht in der Mehrheit der Fälle geschah, da die Maschinen, die die Belegschaften besitzen, Grenzen auferlegen. Dennoch gibt es Beispiele von Unternehmen, die eine Umstellung auf andere Produkte vornahmen und das sogar auf Grund der Interessen eines neuen Publikums.

So zum Beispiel im Fall des Grafikunternehmens Chilavert, das zuvor Kunstbücher produzierte und dann stark von sozialen Bewegungen und linken Aktivisten aufgesucht wurde, um ihre Bücher zu drucken. Im Fall der Keramikfabrik FaSinPat Zanón sind die Arbeiter dazu übergegangen, besondere Keramik-Programme mit Gedichten zum Beispiel von Eduardo Galeano und zu Ehren der Indigenen der argentinischen Patagonien-Region aufzulegen.

Es ist ein wichtiges Thema, aber wir müssen uns darüber klar sein, dass es für Arbeiter ohne Mittel für Investitionen in neue Maschinen und Ausbildung nicht einfach ist, den Produktionsprozess zu verändern.

Terminhinweise:

Kongreß Solidarische Ökonomie 2015: www.solikon2015.org

TU – Technische Universität; Straße des 17. Juni Nr. 136
11.September 9-10:30 Uhr
Workshop: Können wir etwas gegen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung tun?
Ja – wir können vom Süden lernen: z.B. von Caritas Brasilien
Pioniere beim Aufbau von solidarischen Initiativen und Wirtschaftsunternehmen

Im Workshop können wir von Rosangela Alves de Oliveira lernen, wie die Gründungsberatung (Inkubation) von solidarischen Wirtschaftsunternehmen durch die Caritas Brasilien durchgeführt wurde. Sie hat unter Arbeitslosen und Unterbeschäftigten nach der Methode Paulo Freires Gruppen auf Augenhöhe beraten, die erkannten, dass sie selbstverwaltet eine wirtschaftliche Aktivität in ihrer Gemeinschaft aufnehmen könnten.

11. September 2015 18:30 Uhr
Podium: Aus dem Globalen Süden Lernen
Thema für das Podium ist die Bewegung der Solidarischen Ökonomie in Brasilien. In Brasilien geht der Aufbau Solidarischer Ökonomie aus vom Forum Solidarische Ökonomie, sowie von den geforderten politischen Rahmenbedingungen über das Nationale Sekretariat für Solidarische Ökonomie im Ministerium für Arbeit und Beschäftigung. Die Fragen richten sich auf die Organisationsstruktur, die Vernetzung und Durchsetzungsfähigkeit sowie auf die politischen Rahmenbedingungen und davon ausgehend auf Perspektiven der Trans­formation.

12. September 2015 11:00-12:30 Uhr
Forum: University Solidarity Economy Networks – Exchanging experiences
With this workshop, we would like to invite scholars to share their experiences and to collectively think about possible avenues of cooperation, such as common calls for action and the formation of an international university network around the theme of building solidarity economies. Brazilian universities play an important role in incubating solidarity economy enterprises. Two university networks exist comprising around 40 universities each, which explicitly promote such incubation processes.

12. September 2015 14:30-16 Uhr Forum
Forum: „Kommunen und Solidarische Ökonomie“

Wir wollen Akteure einladen, die Kommunen und andere Gebietskörperschaften im Interesse der Bewohner verwalten wollen, die solidarische, regionale, alternative Wirtschaftskreisläufe fördern und wir wollen uns von guten Praktiken inspirieren lassen..
Zielsetzung der Veranstaltung ist, anhand guter Praxis zu zeigen, wie solidarisch wirtschaftende Unternehmen und Gemeinwesen von einer Zusammenarbeit profitieren können.