Interessen von Multinationalen bewirken radikale Veränderungen in Rio de Janeiro
Doch die städtischen Veränderungen und die zahlreichen Baustellen und Projekte, die momentan das Stadtbild von Rio de Janeiro prägen, haben enorme sozio-ökonomische Auswirkungen. So bspw. die bewaffnete Besetzung der berüchtigten Favela „Complexo do Alemão“ durch Polizei und Militär Ende November 2010, welche große Aufmerksamkeit erzielte und der ein Zusammenhang mit den Vorbereitungen auf die Mega-Events nachgesagt wird. Die Favela „Complexo do Alemão“ liegt im Norden der Stadt und hat sich in den letzten Jahren über zahlreiche Stadtteile ausgedehnt. So ist eine der größten Armenregionen Rios entstanden, die sich laut Polizei und Regierungsvertreter_innen, unter dem Kommando der organisierten Kriminalität, in ein „freies Territorium“ verwandelt habe. Sie rechtfertigten die Besetzung somit als Maßnahme zur Bekämpfung des dortigen Drogenhandels und der Kriminalität. Kritiker_innen sprachen hingegen davon, dass das Ziel solcher Einsätze die „Säuberung“ gewisser Stadtteile Rios für die anstehende Fußball-WM und die Olympischen Spiele sei. Den Verantwortlichen wird ein naives Vorgehen vorgeworfen, das außer Acht lasse, dass solche Zustände niemals eintreten würden, wenn der Staat die sozialen Probleme nicht vernachlässigen und seinen Pflichten gerecht werden würde. Außerdem ignoriert das Vorgehen die Rolle von Mitgliedern der Militärpolizei von Rio de Janeiro und anderer Institutionen – die eigentlich die öffentliche Sicherheit gewährleisten sollten – die in vielen Fällen eine absolute Mitschuld an der Situation tragen, da sie Kriminalität und Drogenhandel dulden oder gar durch direkte Aktionen unterstützen. Diejenigen, die Rio kennen, wissen, dass in den Armenvierteln Rios kein Drogenverkauf ohne das Mitwissen oder irgendeine Verbindung mit der Polizei abläuft. Gleiches gilt für die unzähligen Lieferungen von Waffen und Munition in Favelas, durch die sich dort riesige Waffenarsenale bilden.
Es ist davon auszugehen, dass weitere mit der militärischen Besetzung des „Complexo do Alemão“ vergleichbare Maßnahmen folgen werden, die laut Verantwortlichen darauf abzielen die öffentliche Sicherheit zu erhöhen. Besser gesagt dienen diese Maßnahmen dazu, die Stadt zu einer Bühne für die Mega-Events umzufunktionieren, um so den internationalen Verbänden den Erfolg der geplanten Vorhaben garantieren zu können.
Ein weiteres Beispiel, das die Auswirkungen der Umgestaltung von Rio auf die Bevölkerung deutlich macht, ist die Gründung eines Projekts mit dem Namen „Porto Maravilha“ (Wunderbarer Hafen), welches eine Reihe städtebaulicher Maßnahmen und Investitionen zur Entwicklung von Rios Hafenregion vorsieht. Dieses Projekt soll mittels einer öffentlich-privaten Partnerschaft (Public Private Partnership PPP) zwischen Stadtverwaltung und dem Baukonsortium verwirklicht werden. Die Verantwortlichkeit für die Entwicklung soll dabei mittels Outsorcing an das Baukonsortium abgegeben werden. Dieses strebt eine Umwidmung des städtischen Gebiets an, um aus dem Projekt den größtmöglichen wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen. Verlassene Docks und Anlegestellen am Hafen sollen zu In-Vierteln mit Gastronomie und kulturellen Einrichtungen umgestaltet werden. Das betroffene Gebiet liegt zentrumsnah und umfasst mehrere Wohngebiete. Die Menschen, die in diesem Viertel leben, kämpfen mit der Ungewissheit, die angesichts einer auf wirtschaftliche Zwecke ausgerichteten Umstrukturierung ihres Lebensraums droht.
Der wohl heikelste Part der städtischen Baumaßnahmen spielt sich rund um die fragwürdigen Bauarbeiten der FIFA und des IOC ab. Alleine für die Modernisierung des Maracanã-Stadions wurden zu Beginn der Bauarbeiten Kosten von 700 Millionen R$ (~ 312 Mio. Euro) veranschlagt, neuste Hochrechnungen gehen dagegen von rund 1 Milliarde R$ (~ 450 Mio. Euro) aus. Erst im Jahr 2006 wurde das ehemals größte Fussballstadion der Welt für die Panamerikanischen Spiele 2007 baulich umgestaltet. Schon die Erfahrungen von damals zeigten, dass die zu Beginn der Bauarbeiten veranschlagten Kostenvorhersagen mit Vorsicht zu genießen sind. So wurden die Kosten für die Durchführung der Panamerikanischen Spiele sowie der Paralympischen Spiele Amerikas (Parapan) auf 400 Millionen R$ (~ 180 Mio. Euro) geschätzt, letztendlich stiegen sie auf die astronomische Summe von 4 Milliarden R$ (~ 1,8 Milliarden Euro).
Die enormen Kosten der Bauarbeiten werden mit den möglichen Vorteilen begründet, dem allgemein bekannten „Vermächtnis“, das die Großveranstaltungen den Austragungsorten hinterlassen. Im Falle der Panamerikanischen Spiele in Rio war die Modernisierung des Maracanã-Stadions, das durch die aktuellen Bauarbeiten seit Sommer 2010 und voraussichtlich bis Anfang 2013 unbrauchbar sein wird, eine der wenigen positiven Hinterlassenschaften für die Stadt. Zahlreiche andere Sportstätten sind dagegen ungenutzt und erleiden das Schicksal eines weißen Elefanten**.
Am Rande der Projekte, die im Zusammenhang mit den bevorstehenden Großveranstaltungen stehen, werden gegenwärtig auch andere strittige Projekte durchgesetzt. Paradoxerweise stehen diese im offenkundigen Widerspruch zu den festgesetzten Zielen und dem „neuen Selbstverständnis“ Rios, da diese Unternehmungen sowohl im Hinblick auf die sportlichen Ereignisse, als auch bezogen auf den Umweltschutz Besorgnis erregen.
Neben dem Aufbau des Petrochemiekomplexes Comperj in der Region Itaboraí, die rund 40 km östlich von Rio de Janeiro liegt, geht es hierbei hauptsächlich um die Errichtung und die Inbetriebnahme des Stahlwerks der ThyssenKrupp-Tochter CSA (Companhia Siderúrgica do Atlântico) im Stadtviertel Santa Cruz im Westen von Rio de Janeiro. In diesem Gebiet befindet sich auch die Bucht von Sepetiba, die aufgrund ihrer unberührten Natur eine Touristenattraktion ist.
Das Stahlwerk der CSA ist Teil der ausbeuterischen Logik, die – neben dem Agrobusiness – offenkundig auch von der Eisen- und Stahlindustrie verfolgt wird. Der Produktionsprozess beginnt in Brasilien und endet in Deutschland und den USA. Während in Brasilien der Teil der Produktion abgewickelt wird, welcher den höchsten Energiebedarf und die größten Auswirkungen auf die Umwelt verzeichnet, findet die Veredelung der Werkstoffe – die einen wesentlich größeren Gewinn generiert – in den Werken in Deutschland und den USA statt. Diese Form von Arbeitsteilung ist nicht hinnehmbar: Es ist die Fortschreibung der Ausbeutung, die rohstoffreiche, aber ökonomisch nicht voll entwickelte Länder seit Jahrzehnten erleiden.
Seitdem das Stahlwerk des ThyssenKrupp Tochterunternehmens CSA im Juni 2010 in Betrieb genommen wurde, sind bereits mehrere Geldstrafen gegen den Betrieb erlassen worden. Grund waren die durch das Stahlwerk produzierten Graphitstaub-Emissionen, sowie andere umweltschädigende Aktivitäten, die eine Gefährdung der Gesundheit der umliegenden Bevölkerung befürchten ließen. Die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates Rio de Janeiro sprach sich in einem Prozess um die vorübergehende Betriebserlaubnis für das Stahlwerk, gegen die Erteilung einer endgültige Umweltlizenz aus. Durch die vollständige Inbetriebnahme des Stahlwerks würde der Kohlendioxidausstoß der Metropolregion Rio de Janeiro um 80% steigen.
Neben ThyssenKrupp (73,13%) ist das Bergbauunternehmen Vale aus Rio de Janeiro – das zu den größten der Welt gehört – mit rund 27 % an der CSA beteiligt. Die wichtigsten Kontrollorgane von Vale sind Pensionsfonds, allen voran der Arbeiter_innen der Bank von Brasilien „PREVI“ und der Holding der brasilianischen Entwicklungsbank „BNDES Participações S.A“. Die brasilianische Entwicklungsbank BNDES finanziert nun das Projekt, welches zuvor von Chile und dem Bundesstaat Maranhão abgelehnt worden war, mit staatlich gestützten Zinsen und 1,5 Milliarden R$ (~ 645 Mio. Euro).
Die Landesregierung sowie die Stadtverwaltung garantierten der Unternehmung eine Steuerbefreiung und machen so abermals deutlich, das der Erfolg der Privatisierung im Grunde genommen stets vom Kapital der staatlichen und halbstaatlichen Einrichtungen abhängig ist.
Zusammen mit den Pensionsfonds der Arbeiter_innen der Bundessparkasse (Funcef), der Funktionär_innen des Mineralölunternehmens Petrobras und dem Pensionsfonds des Baukonzerns OAS kontrolliert die Previ gegenwärtig auch das Straßen- und Schienenbauunternehmen Invepar, welches Lizenzträger der Metrô in Rio ist. Vom momentanen Service der Metro kann, wegen des unlauteren Wettbewerbs von Zügen und Schiffen, nicht gesagt werden, dass es sich um den Schlechtesten der Stadt handele.
Abermals wird deutlich, dass Rio sich mit der Umsetzung der Mega-Events neu erfinden will. Doch die Frage ist, wer dabei alles auf der Strecke bleiben wird?
Die Bewohner_innen von Santa Cruz zum Beispiel, die täglich unter den Auswirkungen der CSA leiden, wurden diese Woche von der Regierung des Staates informiert, dass die Präfektur und das für Wasserver- und -entsorgung zuständige staatliche Unternehmen (CEDAE), die Privatisierung der Abwasserentsorgung, in einem 21 Stadtteile umfassenden Gebiet, genehmigt haben. Das Abwassersystem soll in Santa Cruz enden.
Betroffen sind vor allem Bevölkerungsschichten der unteren Klasse, welche ungefähr 30% der Stadtbevölkerung ausmachen. Die Begründung für die Privatisierung ist das Fehlen von Mitteln für notwendige Investitionen in die Erweiterung des Abwasserkanalsystems. Im Kontext der Verschwendung öffentlicher Mitteln angesichts der fragwürdigen Projekte für die Fussballweltmeisterschaft der Männer und die Olympischen Spiele kann diese Begründung nur als Dreistigkeit bezeichnet werden. Am selben Tag, an dem die Privatisierung des Abwassersystems bekannt gegeben wurde, verkündete die Präfektur die Finanzierung einer Show des ehemaligen Beatle Paul McCartney mit 2 Millionen R$.
Angesichts der starken Interessen von Großkonzernen, die die Umgestaltung der Stadt nach ihren eigenen Regeln vornehmen, sollten wir – um dem Geschehen nicht hilflos zuzusehen – einen Weg einschlagen, der den Geschehnissen entgegenwirken kann. Wir müssen fortfahren den Staat zu hinterfragen und der betroffenen Bevölkerung die politische und juristische Hilfe gewährleisten, die ihre elementaren Rechte schützt.
Mit der Enteignungswelle und den derzeitigen Bauarbeiten angesichts der Mega-Events, entwickelte sich das Zentrum für Flächen- und Wohnungswesen der Rechtsberatungsstelle des Bundesstaates Rio de Janeiro zu einer Art Epizentrum des Widerstandes, wo tausende Bürger_innen Unterstützung fanden. Durch die Arbeit des Zentrum für Flächen- und Wohnungswesen in den vergangenen Jahren, das im ständigen Dialog mit den Gemeinden stand, konnte viel Erfahrung im Kampf gegen die soziale Ausgrenzung gesammelt werden. Die Rechtsberatungsstelle gewann so stark an Glaubwürdigkeit und erwarb dadurch das Vertrauen seitens der Bevölkerung. Jedoch genau aus diesem Grund wurden von der Generaldirektion der Rechtsberatungsstelle Veränderungen in die Wege geleitet, die die Zerschlagung der Abteilung für Flächen- und Wohnungswesen zum Ziel hatte. Hierzu wurde die Entlassung genau der Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen veranlasst, die für die Beständigkeit der durch die Abteilung etablierten Arbeit verantwortlich waren. Darüber hinaus wurde kurzum allen Praktikant_innen, die in der Abteilung arbeiteten, gekündigt.
Durch die absolute Kontrolle über die momentane Situation lauert die Allianz, bestehend aus FIFA, IOC, der Regierungen von Bund, Ländern und Gemeinden, der Bauindustrie, Multinationalen und all den glücklichen Opportunisten – unternehmerischer oder parteilicher Natur – auf ihre große Chance. Das größte Bestreben ist dabei die gezielte und umfangreiche Privatisierung der staatlichen Macht, des öffentlichen Raumes und der öffentlichen Mittel, und dies innerhalb kürzester Zeit. Rio steht unter Beschuss. Und wie wir uns erinnern, ist Rio das Aushängeschild Brasiliens in der Welt.
Wie es schon bei den Panamerikanischen Spielen und bei den berühmten Olympischen Spielen von Athen gewesen ist, wird am Ende der ganzen Angelegenheit die Rechnung vom Volk bezahlt werden. Das Volk, dem momentan elementare Rechte verweigert werden, das schlecht behandelt und missachtet wird.
*Paulo Passarinho ist Ökonom und Mitglied des Regionalen Rats für Wirtschaft von Rio de Janeiro.
** Der Begriff „weißer Elefant“ bezeichnet eine nutzlose Schönheit, die zwar gesehen und angefasst werden kann, darüber hinaus jedoch keinen Nutzen für die Gesellschaft bietet. Obwohl ihr materieller Wert gigantisch ist, steht sie nur kurz im Mittelpunkt des Interesses.