"Atom für Carioca und Caramba". Brasiliens Ausbau des Atomprogramms - Teil 1
Mehr als 20 Jahre nach Einstellung der Bauarbeiten für Brasiliens drittes Atomkraftwerk, Angra 3, wird nun im September 2008 der Bau wieder aufgenommen. Trotz Protesten von Umweltgruppen ist die Fertigstellung für 2014 geplant. Seit den großen Stromausfällen des Jahres 2001, dem so genannten "apagão", wird von den jeweils Regierenden und der Stromwirtschaft unisono die Notwendigkeit des Atomstroms zur Schließung der "wachsenden Energielücke" betont. Doch dahinter stehen weitere Interessen, mutmaßen KritikerInnen des brasilianischen Atomprogramms.
Proteste gegen Angra 3
Mit Großpuppen demonstrierten UmweltaktivistInnen von Greenpeace Ende Juli dieses Jahres vor dem Sitz der brasilianischen Umweltbehörde Ibama an ihrem Sitz in Brasília gegen die Erteilung der vorläufigen Baugenehmigung für Angra 3. Dabei schien es noch einen Tag zuvor, als ob der Streit um die Wiederaufnahme des Baus des dritten Atomreaktors, Angra 3, im Atomkomplex Almirante Álvaro Alberto in Angra dos Reis im Bundestaat Rio de Janeiro, zunächst in eine neue Runde des Schlagabtauschs zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen gehen würde.
Der neue Umweltminister Carlos Minc - seit vielen Jahren erklärter Atomkraftgegner, aber als Mitglied der Regierung Lula gebunden an deren Entscheidungen - hatte einen Tag vor Veröffentlichung der Auflagen der ihm unterstellten Umweltbehörde Ibama zum Bau von Angra 3 angekündigt, dass die vorläufige Baulizenz "mit brutalen Anforderungen" einhergehe. In dieser lang erwarteten vorläufigen Baulizenz für Angra 3 hat die Ibama 60 Bedingungen aufgestellt, die die staatliche Eletronuclear zum Erhalt der Baulizenz vorab zu erfüllen habe, darunter die Auflage, "eine definitive Lösung für die radioaktiven Abfälle zu finden". Diese Forderung nach einer Lösung für das Problem der Endlagerung wies der Minister für Bergbau und Energie, Edison Lobão, umgehend als "unangemessen" zurück, da nicht einmal 'entwickelte Länder' eine Lösung für dieses Problem gefunden haben. "Der Umweltminister, Carlos Minc, sagt uns, dass er brutale Anforderungen stellt, und wir leisten eine tierische Anstrengung, um diese Forderungen zu erfüllen", sagte Lobão. Aber Brasilien brauche die Energie - und der Bau werde beginnen, bekräftigte er. Dieser müsse wegen der Regenzeit bald begonnen werden.
Atommüll: Streit um "End"-Lagerung
Auch aufgrund des Drucks seitens der Atomkraftbefürworter aus der Regierung schwächte Minc daraufhin die Auflagen ab: "Mit der definitiven Lösung muss vor der Betriebsgenehmigung in vier Jahren begonnen werden", räumte er ein. Bislang wurde eine solche Lösung noch nicht gefunden, ergänzte Minc. Der jüngste Vorschlag der Regierung sieht die Verbringung des Atommülls in einer Stahlkapsel bei einer Lagerungszeit von bis zu 500 Jahren vor.
Der teils schwer radioaktive Müll der bereits laufenden Atomreaktoren Angra 1 und 2 lagert unter Wasser in den so genannten 'blauen Schwimmbecken'. "Der Abfall kann nicht 100 Meter entfernt vom einem Strand lagern, der Itaorna heißt, was 'fauler Stein' bedeutet, und obendrein über einer Erdspalte", sagte Minc. Dass diese küstennahe Lagerung von etwas mehr als zweitausend Kubikmetern hochradioaktiven Materials nicht einmal als Zwischenlager taugt, davon zeugen die 22.000 Liter radioaktiven Wassers, die am 28. Mai 2001 unkontrolliert ausliefen - die staatliche Betreiberfirma Electronuclear hielt es erst Monate später für notwendig, die lokalen Behörden über den Vorfall zu informieren.
Es ist vor allem auch die küstennahe Lage, die die Atommeiler von Angra so gefährlich machen. Veranschaulicht man sich alleine die noch konservativen Berechnungen des Weltklimarates IPCC zum Meeresspiegelanstieg von einem Anstieg um 18 bis 59 cm bis zum Jahr 2100, ist die Bedrohung für den Zwischenlagerstandort und das AKW am Strand des 'faulen Steins' leicht einzusehen.
Der grüne Abgeordnete Fernando Gabeira kritisiert die Regierungsentscheidung zu Angra 3 scharf, da weder eine Lösung für den Strahlenabbfall noch ein genereller Notfallplan für einen Atomunfall existiere. Und ergänzt: "Da baut man etwas, das bis 2040 oder 2050 laufen soll, aber der drohende Meeresspiegelanstieg wird in der Umweltfolgenstudie nicht einmal erwähnt."
Umweltminister Minc räumte ein, dass zwar eine Endlagerung für Nuklearmüll noch nicht gefunden sei, aber: "Zwischen dem Ideal und dem Prekären gibt es eine vermittelnde Lösung, die sicherer ist als ein Schwimmbecken wenige Meter vom Strand", sagte Minc, um darauf die Erfahrungen Frankreichs und Deutschlands zu zitieren, in denen der radioaktive Müll in Minen gelagert werde - die gerade absaufende Asse II in Niedersachsen läßt grüßen.
Der Direktor von Greenpeace in Brasilien, Sérgio Leitão, kritisiert, dass Brasilien seit Jahren zwei laufende Atomkraftwerke hat und nie eine Lösung für die Lagerung gefunden hat. "Und Brasilien wird es auch bei Angra 3 nicht lösen können", urteilt er. Für den Atomkomplex Angra rechnet die Umweltfolgenstudie (EIA-RIMA) bei einer Betriebsdauer von 40 Jahren für Angra 1 mit hochradioaktivem Müll von 6.589 kg Uran235 und 3.957 kg Plutonium, und für Angra 2 und 3 mit 10.880 kg Uran235 und 12.640 kg Plutonium.
Atom: Risiken und Kosten oder: wie man aus Staatsgeldern radioaktiven Müll macht
Und auch die weiteren bereits bestehenden Zwischenlager in Brasilien stehen im Sperrfeuer der Kritik. So hat das brasilianische Institut für Geographie und Statistik IBGE in seinem Bericht zu Indikatoren Nachhaltiger Entwicklung im Juni dieses Jahres darauf hingewiesen, dass Brasiliens Zwischenlager "nicht adäquat" sind - das einzige vom Bericht als "angemessen" eingestufte Lager sei das in Abadia de Goiás, in dem das radioaktive Cäsium-137 aus dem weltweite Schlagzeilen erregenden Nuklearunfall von Goiânia aus dem Jahre 1987 lagert. Den anderen Zwischenlagern in den Bundesstaaten Rio de Janeiro, São Paulo und Minas Gerais, in die 13,7 Tausend Kubikmeter leicht bis mittelstark strahlende Reste aus Arztpraxen, Universitäten und Krankenhäusern verbracht wurden, attestiert der Bericht eine unangemessene Lagerung.
Ungeachtet all dessen wird im September mit dem Fundament und der Zementierung des Sockels für Angra 3 begonnen. Den Auftrag dafür hat die Baufirma Andrade Gutierrez seit dem Jahr 1984, der im Jahre 2002 bereits einmal neu verhandelt und nun von der Regierung - unter dem Zeitdruck des Baustart im September - neu verhandelt werden musste. Des weiteren verhandelt die Eletronuclear dreißig weitere Verträge mit Zulieferern und Dienstleistern, die alle bereits Anfang der 1980er Jahre geschlossen worden waren. Darunter befindet sich auch der Vertrag über die Lieferung der Atomtechnik mit der französischen Atomfirma Areva, an der Siemens 34 Prozent der Anteile hält. Areva hatte die Atomgeschäftssparte der KWU von Siemens übernommen, die den Reaktor Angra 2 gebaut hatte.
Unklar ist derzeit noch, ob der Bau des Reaktor Angra 3 durch Areva mit Exportkrediten aus Frankreich, durch die Exportkreditagentur COFACE, oder durch die im Auftrag des Bundes arbeitende Euler Hermes, Tochter der deutschen Allianz Gruppe, abgesichert werden soll. Auf Anfrage von FDCL / LN hat Euler Hermes am 21.August versichert, dass "aktuell kein Antrag" vorliege und "auch keine Kenntnis über eine Beteiligung von COFACE" bestehe.
Klarer hingegen ist die Rolle der Allianz in Fragen der Direktversicherung des Atommeilers. Seit 1984 überprüft die Allianz regelmäßig die gelagerten Bestandteile für den Reaktor und erhält dafür von Brasilien 20 Millionen Dollar pro Jahr. Des weiteren - so berichtet die Gazeta Mercantil in ihrer Ausgabe vom 4. August dieses Jahres - hat die Allianz den Vertrag über die Bausicherung in den Händen. Laut Auskunft des Assistenten des Präsidenten der Eletronuclear, Leonam dos Santos Guimarães, hat Angra 3 seit 1982 anderthalb Milliarden Reais gekostet. Davon beliefen sich 39 Prozent auf Produktausgaben und 61 Prozent auf Kreditlinien und Versicherungskosten, wie u.a. die der Allianz. VertreterInnen der Allianz standen der Reporterin der Gazata Mercantil diesbezüglich nicht zu einem Interview zur Verfügung.
Doch die eigentlichen Kosten stehen noch aus: Die brasilianische Regierung schätzt die Baukosten für Angra 3 auf 7,3 Milliarden Reais, von denen 70 Prozent in Real, 30 Prozent in Fremdwährungen anfallen werden. Darin noch nicht enthalten sind die Kosten für die zukünftige Versicherung des Atomkraftwerks und seiner Risiken - ebenso wenig, wie keine Auflistung über die anstehenden Kosten für die "Endlagerung" für den hochradioaktiven Müll der Anlage in den nächsten paar Tausend Jahren vorliegt.
Greenpeace Brasilien hatte bereits im März dieses Jahres einen Bericht vorgelegt, in dem Angra 3 als Milliardengrab gebrandmarkt wird. Darin wird vorgerechnet, dass zu den von der Regierung veranschlagten 7,3 Milliarden Reais weitere 2,3 Milliarden an Zinszahlungen hinzukämen. Rechne man die Einnahmen durch den zu erzielenden Strompreis dagegen, so stünden Brasiliens SteuerzahlerInnen vor einem Defizit von 4 Milliarden Reais. Die Koordinatorin der Anti-Nuklear-Kampagne von Greenpeace in Brasilien, Beatriz Carvalho, spricht von einer regelrechten Plünderung öffentlicher Kassen für Angra 3. "Indem in diese Technologie investiert wird, macht die brasilianische Regierung aus öffentlichen Geldern radioaktiven Abfall", kritisiert Carvalho.
Angesichts all dieser Probleme und bekannten Risiken hat Greenpeace nun zwei Klagen vor Gericht gegen Angra 3 eingereicht. "Die Verfassung von 1988 verlangt, dass jedweder Bau von Nukleareinheiten in Brasilien ausschließlich nach Autorisierung durch den brasilianischen Kongress erfolgen kann. Und die Bundesregierung hat den Kongress schlicht überfahren, indem sie eine Genehmigung gegeben hat, die amoralisch, irregulär, illegal und nicht verfassungsgemäß ist. Das Land hat andere, viel bedeutendere Prioritäten als Geld in eine überholte Fabrik, in eine alte und unsichere Technik zu stecken", urteilt der Direktor von Greenpeace Brasilien, Sérgio Leitão, im Interview mit der Nachrichtenagentur Radioagência NP.
Leitão vermutet hinter den Ausbauplänen des brasilianischen Atomprogramms handfeste wirtschaftliche Interessen. "Damit wird Geld verdient. Wer davon profitiert, sind die großen Baufirmen, die Zulieferfirmen für das Kraftwerk." Und ergänzt: "Sektoren der brasilianischen Regierung, der Streitkräfte und unserer Diplomaten haben nie den Traum aufgegeben, dass Brasilien sein Programm zur Produktion von Nuklearwaffen reaktivieren würde". Zumindest die Option auf ein solches, stellt Leitão klar: "Was zur Debatte steht ist zweifelsohne, ob Brasilien wieder die Option haben wird, die Atombombe zu bauen."