Das Comeback von Privatisierungen in Brasilien: der Fall der Erdölindustrie
Joao Dória Jr., der frisch gewählte Bürgermeister von Sao Paulo, hatte während der Wahlkampagne mit viel Erfolg die Idee vermarktet, dass Privatisierungen von öffentlichen Einrichtungen wie des Pacaembu-Stadions, des Anhembi-Sambodroms, oder der Interlagos-Rennstrecke DIE Lösung für die Probleme der Stadt wären. Ein paar Monate zuvor, als Dilma Rousseff noch nicht definitiv von ihrem Amt enthoben worden war, hat Michel Temer angedeutet, dass in seiner Regierung das Pendel zwischen Staat und Markt zur Seite des Marktes umschwingen würde. Und tatsächlich bekam ein alter Bekannter der cariocas, der ehemalige Gouverneur vom Bundesstaat Rio, Moreira Franco, dann von Temer den Job, das “Programa de Parcerias de Investimentos” zu koordinieren, um privaten Investoren - vorzugsweise aus dem Ausland -, Investitionsmöglichkeiten wie in Autobahnen, Flughäfen, Wasserkraftwerken, Eisenbahnen, usw. anzubieten.
In Argentinien, unter Mauricio Macri, hörte sich die Geschichte, die nach einem knappen Jahr nicht mal ansatzweise ein Happy End hat, gar nicht so anders an.
Wie kommt es dazu, dass im südamerikanischen Kontinent, und gerade in Brasilien, wo es unter der Regierung von Lula möglich war, ein Entwicklungsmodell wo der Staat und staatliche Konzerne eine wichtigere Rolle in der Wirtschaft und in der Gesellschaft spielte, neoliberale Politik und Privatisierungen jetzt mit aller Kraft wieder zurück sind?
Es stimmt schon, dass die Regierung von Dilma den Kurs der Privatisierungen bereits vorgegeben hatte, allerdings viel diskreter und unsystematischer. In Zeiten mit sehr hohen Zinsraten versuchte die abgesetzte Präsidentin schon vergeblich, durch die Vergabe von Nutzungsrechten der Autobahnen, Flughäfen und Häfen die “animal spirits” von privaten Investoren zu erwecken, und so die brasilianische Investitionsrate zu steigern. Doch dagegen sind Temers und Dorias Pläne extrem viel “Business freundlicher” als Dilma es je gewagt hätte. Wie konnte es zu diesem Kurswechsel kommen, wenn z.B. der IWF oder die Weltbank gerade erst vor kurzem so hart mit neoliberaler Wirtschaftspolitik abrechneten, und sie vor allem auch Privatisierungen überaus kritisch betrachten? Dieser Artikel wirft einen Blick auf diese Fragen am beispielhaften Fall der Erdölwirtschaft in Brasilien.
Ein historischer Exkurs
Die Liberalisierung der Erdölindustrie wurde ab dem Jahr 1995 in Brasilien durchgesetzt. Dem damaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso gelang es, die Verfassung zu verändern, um das staatliche Monopol des Erdölabbaus zu flexibilisieren. Nach Tolmasquim und Pinto Junior (2012) war ausschlaggebend für die damaligen institutionellen Veränderungen vor allem die Dominanz und Attraktivität neoliberaler Ideen, die niedrigen Erdölpreise, die geringen inländischen Ressourcen für Investitionen in diesem Sektor, und die mangelnde inländische Verfügbarkeit von Technologien zur Gewinnung von Erdöl - Ressourcen (die meistens 1.000-3.000 m unter dem Meeresspiegel liegen).
Zwei Jahre später hat die Cardoso-Regierung das Gesetz 9.478/1997 erlassen, welches in Brasilien auch “Lei do Petróleo” genannt wird. Bis zum Jahr 2008 hat die frisch gegründete staatliche Agencia Nacional do Petróleo (ANP) fast jährlich Bieterrunden mit Erdölfirmen entsprechend dem sogenannten “Konzessionsvertrag” organisiert. Dieser sieht vor, dass diese Firmen den brasilianischen Staat für den Aufwand, der ihm durch “externe Kosten” bei der Erdölförderung entsteht (Umweltschaden, die nötige staatliche Infrastruktur, usw.), mit Royalties und anderen Steuern entschädigen müssen. Seitdem haben sich weit über 50 Erdölfirmen der Welt in Brasilien niedergelassen, wie z.B. Shell, Statoil, Chevron, und das in den 1950er Jahren gegründete Brasilianische Erdölinstitut gewann als Lobbyverband der “International Oil Companys” (IOCs) an Bedeutung. Allerdings wurde Petrobras, der staatliche Erdöl- Mammut Brasiliens, aus politischen Gründen nicht privatisiert, obwohl die Cardoso-Regierung eine Zeit lang sogar daran “gebastelt” hat, das Unternehmen in Petrobrax umzubenennen. Die Cardoso-Regierung begnügte sich damit, einen höher als 50%-igen Anteil der staatlichen Aktien zu verkaufen, wobei der Staat aber die “golden Share” (Entscheidungsrecht) beibehielt. In dieser Zeit stiegen die Investitionen und die Produktion von Erdöl und Erdgas in Brasilien sehr rasch an.
Die Entdeckung des “Pré-Sal”, die im Jahr 2007 der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurde, führte die Regierung Lulas dazu, im Jahr 2010 das 12.351/2010 Gesetz zu erlassen, auch als “Lei da Partilha” bekannt. Das „Pré-Sal ist“ eine “Erdölprovinz”, die etwa 200 km von der Küste der Bundesstaaten Rio de Janeiro und Sao Paulo entfernt im Meer liegt, mit vermuteten Erdölvorkommnissen bis zu 100 Milliarden Barrels.
Eine große Welle weitere institutioneller Veränderungen lässt sich erklären durch angestiegene Erdölpreise in den 2000er Jahren, aber auch durch weltweite Schwierigkeiten, wertvolle neue Erdölvorkommnisse zu finden, sowie durch die verbesserte interne wirtschaftliche Lage Brasiliens (vgl. Tolmasquim und Pinto Junior, 2012). Gemäß dem “Lei da Partilha” sollte Petrobras auch der alleinige Betreiber der “Pré-Sal” - Blöcke (mit einem Minimum von 30% der Anteile an den Betreiber- Konsortien) in “Production sharing agreements” werden. Sehr stark von der erfolgreichen Erfahrung Norwegens inspiriert, schrieb dieses Gesetz auch die Gründung von PPSA vor, einem staatlichen Unternehmen, das den Anteil der Regierung in den Konsortien verwalten sollte. Außerdem wurde ein Sozialfonds gegründet, dessen Aufgabe es ist, die staatlichen Einnahmen zu verwalten, und auch zu ermöglichen, dass das “Natur-Kapital” in Human- und Physikalisches Kapital gemäß der “Hartwick Regel” verwandelt wird.
Nach einer fünfjährigen Pause ohne Bieterrunden für Konzessionsverträge organisierte 2013 die ANP gleich 3 solcher Runden, eine davon nach den neuen Regeln des “Lei de Partilha”. Der Ölblock “Libra”, der zwischen 8 und 12 Milliarden Barrels förderbaren Öls enthält, wurde durch ein Angebot eines Konsortiums, bestehend aus Petrobras (40%), Royal Dutch Shell (20%), Total (20%), CNOOC (10%) und CNPC (10%), erworben.
Trotz des großen Anstiegs an neuen Erdöl-Explorationsgebieten und des weiterhin großen Andrangs der IOCs in Brasilien, fiel die brasilianische Erdölwirtschaft ab dem Jahr 2014 in eine große Krise. Entscheidend dafür waren der brutale Sturz des Erdölpreises, finanzielle Schwierigkeiten des Erdölgiganten Petrobras, und der Korruptionsskandal, welcher durch die “Operacao Lava Jato” aufgedeckt wurde. Letztere führte auch noch zur Unterbrechung der Waren- und Dienstleistungslieferkette der Erdölindustrie, was die finanzielle Lage von Petrobras zudem deutlich verschlechterte.
Wie es auch schon davor die Militärdiktatur geschafft hatte, hat während seiner Amtszeit Präsident Lula sehr viel „symbolisches Kapital“ mobilisiert, um das staatliche Entwicklungsprojekt seiner Arbeiterpartei PT durchzusetzen, in dessen Zentrum Petrobras stehen sollte. Durch die Milliarden an Investitionen in Erdöl- und Erdgasexploration und die Steuereinnahmen, die durch den Erdölabbau in den öffentlichen Kassen fließen würden, wollte es Brasilien gleichzeitig schaffen, die Wettbewerbsfähigkeit seiner Industrie zu verbessern und seine Sozialausgaben zu erhöhen.
Der Plan ging in dieser Form aber nicht auf, denn nach dem “Coup” gegen die PT- Regierung Rousseff gelang es dem privatwirtschaftlichen Brasilianischen Erdölinstitut IBP in Verbindung mit liberalen und rechtspopulistischen Parteien sowie den großen Medienkonzernen, das „Lei de Partilha“ von 2010 zu verändern. Das Ziel war, Petrobras “von der Last zu befreien, alleiniger Betreiber der Pré-Sal - Ölfelder zu sein.” Der Korruptionsskandal wurde von dieser Gruppe von Akteuren instrumentalisiert, um das öffentliche Image von Petrobras und vom Staat zu verschlechtern, um damit die Gesetzesänderung durchzukriegen. (Dabei wurde immer auch bewusst übergangen, dass Petrobras in Wirklichkeit schon seit vielen Jahrzehnten mit Korruption zu tun hatte, dass aber dabei die Effizienzverluste trotzdem nicht so hoch sind. So erklärt es z.B. Alexander Busch in seinem Buch “Wirtschaftsmacht Brasilien” von 2009). Formal wurde die Initiative, das Gesetz zu ändern, vom Senator von Sao Paulo, Jose Serra, angeführt. Der psdbista Serra, der - wie von Wikileaks veröffentlicht- den US- Amerikanischen Konzern Chevron diese Gesetzesänderung bereits 2010 versprochen hatte, konnte somit sein Wort halten. Ungefähr zur gleichen Zeit hat Pedro Parente, von Präsident Temer neu ernannter Vorstandsvorsitzender von Petrobras (und der bereits unter Präsident Cardoso Privatisierungen in der Energiebranche gesteuert hatte) angekündigt, dass der Erdölkonzern etliche zu ihm gehörende Gas-Pipelines, Anteile in Petrochemie-Firmen und Ölfelder verkaufen werde, um so durch Schuldenabbau das „Vertrauen der Märkte” wiedergewinnen zu können.
Fazit
Bei dem aktuellen Kräfteverhältnis ist es wahrscheinlich, dass weitere Teile des “Petrobras-Systems” nach und nach verkauft werden. Man kann auch erwarten, dass in den nächsten Bieterrunden Petrobras eine kleinere Rolle als bisher spielen wird, auch wenn in einer möglichen zukünftigen linken Regierung das Pendel zwischen Staat und Markt in der Erdölindustrie wieder mehr in Richtung Staat schwingen sollte.
Durch die vielen seit 1995 aufeinanderfolgenden institutionellen Veränderungen hat sich die brasilianische Erdölwirtschaft stark “hybridisiert”, d.h. es ist ein Mix zwischen Staat und Markt entstanden. Dadurch gewann der Markt immer mehr an politischer Bedeutung, vor allem durch die Interessensvertretung des privaten Brasilianischen Erdölinstituts IBP. In dieser Hinsicht, und obwohl die jetzigen Erdölreserven von Petrobras weltweit noch immer erstklassig sind, werden die privaten IOCs einen immer größeren Anteil der Erdöl- und Erdgasproduktion liefern, die sie in den nächsten Bieterrunden problemlos erwerben können. Sollte aber wider Erwarten die Leitung von Petrobras in einer dieser Bieterrunden „aggressiv bieten“, kann nun die Zentralregierung Brasiliens immer noch ihr Veto einlegen.
Das staatliche Entwicklungsmodell, welches von Getúlio Vargas konzipiert wurde, von den Militärs ausgebaut und von der PT wiederbelebt, wird wohl in Zukunft eine viel kleinere Rolle in der brasilianischen Wirtschaft und Gesellschaft spielen.
----
Busch, A. (2009): Wirtschaftsmacht Brasilien. Carl Hanser Verlag: München.
Tolmasquim, M., Pinto Jr., H. (2012): Marcos regulatórios da indústria mundial do petróleo. Synergia: Rio de Janeiro.