Brasilianische Zivilgesellschaft kämpft gegen den Rückbau von sozialen Errungenschaften

Die politischen Umbrüche in Brasilien führten zu einer RekordteilnehmerInnenzahl beim Runden Tisch Brasilien 2016 (RTB) in Bonn. Uta Grunert analysiert für den eNewsletter Wegweiser Bürgergesellschaft die Situation und resümiert die Diskussionen beim RTB.
| von Uta Grunert, KoBra e.V.
Brasilianische Zivilgesellschaft kämpft gegen den Rückbau von sozialen Errungenschaften
Umbruch in Brasilien

Die Fachtagung Runder Tisch Brasilien bringt seit über 20 Jahren Akteure der brasilianischen sozialen Bewegungen mit der in Deutschland existierenden Solidaritätsbewegung mit Brasilien zusammen. Die Kooperation Brasilien - KoBra e.V. organisiert diesen zivilgesellschaftlichen Austausch zusammen mit zwölf Nichtregierungsorganisationen aus dem deutschsprachigen Raum wie Brot für die Welt, Misereor, die Heinrich-Böll-Stiftung, u.a. gemeinsam mit Partnerorganisationen in Brasilien unterstützen sie zivilgesellschaftliche politische Prozesse, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit und der Einhaltung von Minderheitenrechten in Brasilien führen. Der Erhalt natürlicher Ressourcen und die Überwindung postkolonialer und patriarchaler Strukturen sind weitere wichtige Aspekte. Brasilien hat nach der Ära der Militärdiktatur eine aktive Zivilgesellschaft hervorgebracht. Der internationale Austausch darüber ist wichtig für beide Seiten. Die Begleitung und Einflussnahme z.B. in Menschenrechtsfragen über EZ-Partner-Organisationen wird als unverzichtbar eingestuft. Gleichzeitig ist klar, dass es auch um Verantwortung in den Industriestaaten gehen muss, um unseren Lebensstil und seine negativen Auswirkungen auf die Länder des Südens.

Da das größte Land Lateinamerikas im zurückliegenden Jahr einen eklatanten politischen Umbruch erlebt hat, waren Mitte November in Bonn viele Brasilianer*innen unter den über 130 Teilnehmenden, die über Menschenrechte, Umweltrecht und Demokratie in Brasilien diskutieren wollten.

Parlamentarischer Putsch oder demokratisch saubere Amtsenthebung?

Brasilien durchlebte 2016 nach einem umstrittenen Amtsenthebungsverfahren gegen die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma Rousseff  der linken Arbeiterpartei PT im Laufe des Jahres ein politisches Erdbeben. Die Auswirkungen davon treiben die Zivilgesellschaft und die sozialen Bewegungen immer noch auf die Straße. “Fora Temer – Präsident Temer muss weg!“ fordern sie. In São Paulo demonstrierten Ende November 40.000 Menschen gegen den Entwurf einer  Verfassungsänderung (PEC 55), die die staatlichen Sozialausgaben für Gesundheit, Rentenversicherung und Bildung für 20 Jahre einfrieren soll. Mitte Dezember will Michel Temer, der als ehemaliger Koalitionspartner und Vizepräsident DIlma Rousseff ins Präsidentenamt gefolgt ist, darüber abstimmen lassen. Auch eine Amnestie für Politiker, die von weiteren  Korruptionsenthüllungen im Skandal um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras belastet werden, ist in diesem Zusammenhang im Gespräch. Kritiker*innen halten die Furcht vor diesen Enthüllungen als ursächlich für das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff.  Sie musste ihr Amt nach Abstimmungen in Parlament und Senat niederlegen, obwohl man ihr bis zuletzt keine Korruptionsbeteiligung nachweisen konnte. Ungenauigkeiten bei der Haushaltsführung bzw. die Verschleierung von Haushaltsdefiziten brachten die Präsidentin zu Fall. Der Initiator der Amtsenthebung Eduardo Cunha wurde inzwischen aller politischen Ämter enthoben und verurteilt, weil auch er Teil des Korruptionssumpfes war.

Mitregieren oder unabhängig sein – das Dilemma der sozialen Bewegungen

Dilma Rousseff hatte zuletzt mit dem Rücken zur Wand regiert. 2014 konnten sie und die Arbeiterpartei PT sich noch auf die Fahnen schreiben, 40 Millionen Menschen aus der Armut geholt und in eine neue Mittelschicht integriert zu haben. Soziale Wohnungsbauprogramme, Absatzförderung für Produkte aus kleinbäuerlicher Landwirtschaft im Rahmen der Schulspeisung, Quotenregelungen für den Zugang zur Universität für Menschen aus bildungsfernen Gruppen sowie eine Sozialhilfe über ein Familienförderprogramm waren ein wichtiger Anfang, der Anerkennung verdient. Soziale Gerechtigkeit schien ein erreichbares Ziel, es war die erfolgreiche soziale Seite einer Politik, die an anderer Stelle viele Zugeständnisse gegenüber unantastbaren Machtkonstellationen gemacht hatte. Das Kürzel BBB (Bulle, Bibel, Blei) steht im brasilianischen Parlament für die ungebremste Gewalt von Agrarlobby, evangelikalen Sekten und fehlender Rechtsstaatlichkeit. Manche heiße Eisen konnten die linken Regierungen der zurückliegenden 16 Jahre gegen diese politische Übermacht nicht aus dem Feuer holen: die Agrarreform, ein Neuzuschnitt der Landverteilung, die Überwindung von Eigentumsstrukturen, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, die Absicherung von indigenen Territorien gegen den Rohstoffhunger durch Konzerne, ein wirksamer Schutz für Umwelt- und Biodiversitätsfragen. Die sozialen Bewegungen befanden sich zunehmend in einem Dilemma. Sie sahen sich als Unterstützer*innengruppe für die soziale Seite der Arbeiterpartei und waren partizipativ in politische Räte eingebunden. Gleichzeitig konnten sie mit dem Erreichten nicht zufrieden sein und fühlten sich in den Kämpfen an der Basis oft verraten vom politischen Machtapparat.

Nur mit knapper Mehrheit wurde Dilma Rousseff 2015 wiedergewählt, Verbündete in der politischen Landschaft schien sie am Ende wenige zu haben. Auch passte sie ihren Regierungskurs – zum Entsetzen der sozialen Bewegungen – neben dem brasilianischen Entwicklungsmodell zusätzlich neoliberalen Forderungen der politischen Koalitionspartner*innen an. Das Entwicklungsmodell setzt auf Neoextraktivismus, also den Abbau und Export von agrarischen und mineralischen Rohstoffen, und den Bau von Großprojekten. Sehr umstritten war in diesem Zusammenhang der Ausbau der Wasserkraft in Amazonien (besonders der Staudamm Belo Monte) und  die damit einhergehende Verdrängung von Indigenen, traditionellen Gemeinschaften und lokaler Bevölkerung. Die Spielräume für soziale Kämpfe waren eng geworden.

Dennoch: Mit der Amtsenthebung wurde ein juristischer Vorgang ins Rollen gebracht und  angewendet, dessen Folgen für das Land und den lateinamerikanischen Kontext noch nicht absehbar sind. Die entmachtete PT und viele linke Sympathisant*innen sehen in dem Vorgang einen parlamentarischen Putsch. Ob die Argumente für die Absetzung ausreichend waren und inwieweit die Demokratie durch  den Vorgang  Schaden genommen habe – darüber wird in Brasilien und international bis heute gestritten. Man wurde die unliebsam gewordene Präsidentin und ihrer Politik los. Ihr wurden zuletzt die ökonomische Talfahrt des Landes, die steigende Arbeitslosigkeit, steigende Lebenshaltungskosten sowie fehlende Unterstützung im Kampf um Kernbereiche der sozialen Bewegungen angelastet. Das brasilianische Medienmonopol um den politisch rechts angesiedelten Sender Globo inszenierte den Abgang, - auf der Straße gab es Demonstrationen der Rechten, die mit Parolen aus den Zeiten der Militärdiktatur warben und Märsche gegen die Amtsenthebung Contra o golpe von der Linken – beide Lager hatten starken Zulauf und mussten bisweilen von der Polizei auseinander gehalten werden. Ein Riss geht durch die brasilianische Bevölkerung. Die Heile-Welt-Inszenierungen rund um WM und Olympia haben dies nicht aufhalten können. Zu viele Probleme hatten sich aufgestaut, zu wenige integre Persönlichkeiten unter den Volksvertreter*innen schienen noch vertrauenswürdig.

Korruption als Teil des politischen Systems

Dass Korruptionsvorwürfe juristisch bis zur Strafanzeige kommen, ist eine Errungenschaft der linken Regierung, auch wenn bei den Untersuchungen herauskam, dass Politiker*innen aller Parteien in Schmiergeldzahlungen, Stimmenkauf und Bestechungen verwickelt waren. Das Ansehen eines ganzen politischen Systems hat Schaden genommen. Man spürt daher eine große Lähmung und Frust bei Aktivist*innen, die für eine gerechtere Gesellschaft in Brasilien gekämpft haben. Ein klassisches „Weiter wie bisher!“ kann der aktuellen Politikverdrossenheit keinen Ausweg bieten. Die Flucht in vermeintlich einfache Lösungen, wie sie derzeit Politiker*innen des evangelikalen reaktionären Lagers den Wähler*innen z.B. bei den Kommunalwahlen in Rio de Janeiro erfolgreich verkaufen, bringt rückschrittliche Kräfte an die Macht. Dass sie zur Lösung beitragen, darf angezweifelt werden. Befürchtet wird hier zunächst ein Rückschritt in Sachen Toleranz und der Wahrung der Werte einer pluralistischen Gesellschaft.

Der amtierende Präsident Temer will dem Land, das seit 2014 eine heftige Rezession erlebt, einen rigorosen Sparkurs verordnen. Er setzt auf Privatisierungen und neoliberale Maßnahmen. Die sozialen Bewegungen befürchten nun, dass damit soziale Errungenschaften und erkämpfte Maßnahmen für mehr soziale Gerechtigkeit über Bord geworfen werden. Michel Temer gehört einer politischen Elite an, ihr fühlt er sich verpflichtet – ob dabei demokratische Partizipation geopfert wird, scheint keine Rolle zu spielen. In der von ihm ernannten neuen Regierung waren zunächst weder Frauen, noch Afrobrasilianer*innen oder Indigene vertreten. Das politische Entscheidungsgremium bestand aus älteren Männern, die zwei Dinge gemeinsam hatten: Sie waren weiß und sie waren reich. Nachdem die ersten Minister aus der Runde wegen Ermittlungen im Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras zurücktreten mussten, wurde schließlich – als Antwort auf die heftigen Proteste aus den sozialen Bewegungen – eine Frau nachnominiert. Inzwischen haben sechs Minister wegen Korruptionsvorwürfen ihr Amt wieder aufgeben müssen und selbst der Stuhl des Präsidenten scheint erneut zu wackeln. Die linke PSOL, eine Absplitterung der PT hat ein Amtsenthebungsverfahren gegen Michel Temer angestrengt, über dessen Annahme noch entschieden werden muss.

Wer sind die neuen zivilgesellschaftlichen Akteure für die Zukunft?

Die Referent*innen beim Runden Tisch Brasilien machten deutlich, dass die aktuelle Situation für zivilgesellschaftliche Kämpfe deutlich schwieriger geworden ist, da der Dialogfaden zur Regierung derzeit abgerissen ist. Partizipative Mitgestaltung von Politik durch die sozialen Bewegungen weicht mehr und mehr einer Kriminalisierung von Aktivist*innen, die von Übergriffen des Sicherheitsapparats begleitet wird.  Diese Entwicklung wurde als sehr bedrohlich skizziert. Beispielhaft wurde der schwerbewaffnete Überfall durch Beamte der Zivilpolizei von Anfang November auf eine renommierte Schule der Landlosenbewegung MST in der Nähe von São Paulo angeführt, bei dem zwei Personen festgenommen und eine Frau von einem Querschläger getroffen wurden. Nach Einschätzung der Referent*innen wolle die Regierung Temer mit ihrem neuen Profil  soziale autonome NGOs auslöschen. Dies wird auf allen Ebenen vorangetrieben, auch durch die Streichung von Fördergeldern (Z.B. in den Bereichen Agrarökologie, solidarisches Wirtschaften, regionale Wirtschaftskreisläufe).

Es bleibt die Frage, wie es weitergehen soll – und mit wem. Diese Frage nach dem Ausweg aus der Krise hätten viele gerne schnell beantwortet. Ein neues Gesicht, eine neue Partei – neue Hoffnungsträger*innen ohne Altlasten. Ist es die junge Generation, die in den zurückliegenden Monaten in vielen Bundesstaaten Schulen besetzt hat, um für mehr Gerechtigkeit im Bildungswesen zu protestieren? Klar ist, dass es keine Lösung außerhalb der Demokratie gibt. Es bräuchte allerdings eine Radikalisierung der Demokratie. Eine Aktivistin des Bündnisses der Staudammvertriebenen MAB mahnte an, Demokratie werde derzeit banalisiert. Bei den Kommunalwahlen sind in Brasilien Menschen an die Macht gekommen, die über wenig politische Erfahrung verfügen (ähnlich wie in den USA). Die Erarbeitung einer tragfähigen Perspektive wird also noch eine Weile dauern.

Weitere Informationen finden Sie unter www.kooperation-brasilien.org oder im Tagungsreader zum Runden Tisch Brasilien.

Dieser Artikel erschien im eNewsletter Wegweiser Bürgergesellschaft 12/2016.