Bolsonarismo ohne Bolsonaro
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Bolsonarismo ohne Bolsonaro: Kommunalwahlen in Brasilien zeigen neue politische Tendenzen
Die Kommunalwahlen am 5. Oktober 2024 in Brasilien haben erneut die politische Spaltung des Landes offengelegt. Am 27. Oktober ist es in einigen Gemeinden zu Stichwahlen gekommen (siehe Kasten). Im rechtsextremen Lager gibt es viel Bewegung und neue Akteure ringen um die Vorherrschaft dort. Gleichzeitig sind die langfristigen Auswirkungen des Bolsonarismus weiterhin spürbar, auch wenn Jair Bolsonaro selbst nach einem Urteil des Obersten Wahlgerichts von 2023 für die nächsten acht Jahre nicht gewählt werden darf. Die Wahlen gelten als Testlauf für die Popularität des Lagers von Präsident Lula mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2026.
Obwohl Lulas Regierung in den ersten Jahren einige Maßnahmen erfolgreich durchsetzen konnte, etwa die Wiederherstellung sozialer Programme, die lang erwartete Steuervereinfachung, die Stabilisierung des Staatshaushalts, eine sinkende Inflationsrate und ein unerwartetes Wirtschaftswachstum von 3 Prozent im Jahr 2023 (der Internationale Währungsfonds hatte nur 0,8 Prozent prognostiziert) und eine ähnliche Prognose für 2024 existiert, bewerteten unmittelbar vor den Kommunalwahlen nur 38 Prozent der Wähler*innen die Regierung Lula positiv. Demgegenüber stehen 31 Prozent negative und 31 Prozent neutrale Bewertungen (Datafolha vom 14. September). Und laut dem brasilianischen Meinungsforschungsinstitut Quest bewerteten am 2. Oktober lediglich 38 Prozent der Bevölkerung die Lula-Regierung besser als die von Jair Bolsonaro.
Die Parteien PSD, MDB, PP und União Brasil, die den sogenannten Centrão (das „Große Zentrum“, siehe Erläuterung weiter unten) bilden, dominierten die Kommunalwahlen und gewannen zusammen 54 Prozent der Rathäuser des Landes. Die PL, Bolsonaros Partei, sowie die Republikaner, ebenfalls dem bolsonaristischen Lager zuzurechnen, legten stark zu und belegten die Plätze fünf und sechs. Die PT, Lulas Partei, konnte ebenfalls leicht zulegen, landete aber nur auf Platz sieben.
Parteien, die auf Posten und Ämter abzielen
Der Aufstieg des Centrão zeigt eindrucksvoll, wie sich diese Parteien als mächtige politische Akteure etablieren. Unterstützt werden sie durch die sogenannten „emendas parlamentares“ (parlamentarische Änderungsanträge), die im kommunalen Wahlkampf eine entscheidende Rolle spielten. Die massive Zuteilung von Bundesmitteln an Bürgermeister*innen mit Hilfe von Abgeordneten führte zu einer außergewöhnlich hohen Wiederwahlquote. In den 100 Gemeinden mit den meisten „emendas“ lag die Wiederwahlquote bei unglaublichen 98 Prozent. Diese „emendas“ sind das Hauptinstrument des Centrão im Parlament. Sie wurden Bolsonaro abgerungen und ermöglichen, dass bis zu 30 Prozent des Staatshaushalts über Anträge einzelner Parlamentarier oder Fraktionen vor allem an Kommunen fließen.
Lulas Arbeiterpartei PT konnte nur in 217 der 3123 Städte siegen, in denen er bei den Präsidentschaftswahlen 2022 gewonnen hatte. Das sind lediglich 7 Prozent der Gemeinden, die bei den letzten Wahlen überwältigend für Lula gestimmt hatten. Zählt man alle progressiven Parteien zusammen (PT, PSB, PDT, PV, PCdoB, Rede), erreicht das linke Spektrum insgesamt 709 Rathäuser, was etwa 20 Prozent entspricht. Im linken Spektrum hat ein neuer Star Akzente gesetzt: Der junge Bürgermeister von Recife, João Campos von der sozialistischen Partei PSB, wurde im ersten Wahlgang mit dem Rekordergebnis von fast 80 Prozent der Stimmen wiedergewählt und gilt für die Zukunft auch auf nationaler Ebene als Hoffnungsträger.
Zweite Wahlrunde und Ausblick
In Städten mit mehr als 200 000 Einwohner*innen, in denen im ersten Wahlgang kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht hat, hat am 27. Oktober eine Stichwahl stattgefunden. Dies betrifft 51 Städte. Umfragen vor den Wahlen deuteten auf eine Führung von MDB und União Brasil mit jeweils fünf Kandidaten hin. Sieben Kandidaten der PL, Bolsonaros Partei, stehen in einem technischen Gleichstand mit ihren Gegnern. Die sechs PT-Politiker, die in die zweite Runde gegangen sind, hatten nur geringe Chancen auf einen Sieg.
Obwohl Jair Bolsonaro selbst von einer Kandidatur ausgeschlossen ist, bleibt der „Bolsonarismus“ eine starke politische Kraft. Neue politische Figuren wie Pablo Marçal, der in der ersten Runde der Bürgermeisterwahl in São Paulo 28,1 Prozent der Stimmen erhielt, treten in den Vordergrund. Begriffe wie „Bolsonarismus ohne Bolsonaro“ und „Bolsonarismus 2.0“ werden immer häufiger in politischen Analysen verwendet. Dies liegt daran, dass nicht nur Politiker*innen der traditionellen Rechten extrem rechte Positionen übernehmen, sondern auch neue, medienaffine und aggressive Figuren bei diesen Wahlen erfolgreich waren.
Ihre Agenda umfasst Forderungen nach Verteidigung des Waffenbesitzes, einer harten Polizeipolitik und der sogenannten „agenda de costumes“ (Werteagenda) gegen Wokeness, „Genderideologie“, Abtreibung und Drogenkonsum. Die Basis dieser Agenda sind evangelikale Werte.
Das Phänomen Pablo Marçal
Pablo Marçal, ein selbsternannter Coach ohne traditionelle Wahlkampfmittel wie Zeit im Fernsehen für Wahlspots oder staatliche Parteienfinanzierung, überraschte in São Paulo. Er verpasste nur knapp die Stichwahl. Sein Erfolgsrezept: Er setzt auf soziale Netzwerke und kontroverse mediale Auftritte und plant bereits, 2026 für die Präsidentschaft zu kandidieren. Marçal steht für einen wachsenden Vertrauensverlust der Wählerschaft in das politische Establishment, sowohl im linken als auch im rechten Lager. Seine Auftritte in den sozialen Medien verzeichneten über 600 Millionen Aufrufe, während alle anderen Kandidat*innen zusammen nur 80 Millionen erreichten.
Mit Marçals Aufstieg könnte sich ein „Bolsonaro 2.0“ abzeichnen: jung, charismatisch, „unpolitisch“, rechts und christlich. Seine Rhetorik vom sozialen Aufstieg, die sich an der Theologie des Wohlstands evangelikaler Kirchen orientiert, hat ihm viele Anhänger*innen verschafft. Allerdings stellt seine medienbasierte Fanbasis auch eine Gefahr für das Geschäftsmodell der großen evangelikalen Kirchen dar.
Parteien und Politiker*innen aus dem gesamten politischen Spektrum sowie die Presse berichten von einem nie dagewesenen Ausmaß an illegaler Parteienfinanzierung („caixa dois“), von Stimmenkauf und Versuchen der organisierten Kriminalität, die Politik zu unterwandern. Es geht dabei um den Zugang zu öffentlichen Geldern in Milliardenhöhe, die im Wahlkampf bewegt werden. Im Jahr 2024 flossen über die „emendas parlamentares“ über 50 Milliarden R$ (knapp 10 Milliarden Euro) an die Kommunen.
Centrão: Ein unersättlicher Machtfaktor?
Der Begriff Centrão bezeichnet eine informelle Gruppe von Parteien, die keine klare ideologische Ausrichtung haben und traditionell die Exekutive im Austausch für Ressourcen und Machtpositionen unterstützen. Sie sind mit etwa 200 bis 300 Abgeordneten im brasilianischen Parlament vertreten und sind bekannt für ihre Nähe zur Staatsmacht und deren Ressourcen. Sie handeln in erster Linie zum eigenen Vorteil, ohne Rücksicht auf Ideologien oder das öffentliche Interesse.
In São Paulo, der größten und wirtschaftlich wichtigsten Stadt des Landes, stand in der zweiten Wahlrunde ein Duell zwischen dem amtierenden, gemäßigten Bürgermeister Ricardo Nunes und dem von Lula unterstützten linken Herausforderer Guilherme Boulos an. Obwohl Lula die Präsidentschaftswahlen in São Paulo gewonnen hatte, lag Boulos bereits Mitte Oktober deutlich zurück.
Die Kommunalwahlen 2024 zeigen ein polarisiertes Brasilien. Während das Centrão seine Macht weiter festigt, bleibt der Bolsonarismus eine starke Kraft, möglicherweise bald in neuer Form. Der Ausgang der Stichwahlen, insbesondere in São Paulo, liefert entscheidende Hinweise auf die politische Zukunft des Landes. Innerhalb des linken Lagers wird die Diskussion intensiver darüber geführt werden müssen, warum sich eine erfolgreiche fortschrittliche Regierung in Wahlen politisch nicht auszahlt und die Erfolgsaussichten für 2026 erneut von der alles überragenden Figur Lula abhängen.