„Kanaillen! Kanaillen! Kanaillen!“
Am 31. August entzog der brasilianische Senat Präsidentin Dilma Rousseff ihr Amt: 61 Senator*innen votierten für ihre Absetzung, 20 dagegen. Das monatelange „Impeachment“-Verfahren gegen Rousseff hat damit einen vorläufigen Abschluss erreicht, auch wenn weitere juristische Schritte gegen die Amtsenthebung möglich sind. Seither reißen die Proteste auf der Straße, bei Kulturevents und vor laufenden Fernsehkameras nicht mehr ab: „Weg mit Temer“ und „Neuwahlen jetzt“ lauten die Forderungen, um die nicht durch Wahlen legitimierte Regierung von Michel Temer zum Rücktritt zu zwingen. Diese bringt seit Mai ein Gesetzesvorhaben nach dem anderen auf den Weg, um die Programme für mehr soziale Gerechtigkeit der PT-Regierungen schnellstens auszusetzen.
War es ein Putsch? Eine „Farce“ sei es gewesen, heißt es immer wieder, in den sozialen Netzwerken, bei Protesten auf Straße und in Interviews. Ein abgekartetes Spiel, dessen Ausgang von Anfang an feststand. Das aber formal korrekt durchgeführt wurde, um dem „kalten Putsch“ durch Parlament, Senat und Oberstem Gerichtshof einen demokratischen Anschein zu geben. Andere betrachten die Amtsenthebung vor allem als „Schurkenstück“: Einige wenige Oberschurken – allen voran der inzwischen wegen Korruptionsverdacht suspendierte Parlamentspräsident Eduardo Cunha – bedienten sich geschickt aller institutionellen und konstitutionellen Mechanismen, um die missliebige Serie der PT-Regierungen endlich zu beenden und sich selbst vor der Verurteilung wegen Korruption zu retten.
Viele sehen in der Entmachtung der gewählten Präsidentin und der Aussetzung ihres Regierungsprogramms allerdings ein echtes Drama in mehreren Akten, in dem bereits das Vertrauen in die Demokratie in Brasilien verloren gegangen ist. Ebenso wie sehr viel Geld für Sozialprogramme aus dem Staatshaushalt gestrichen wurde. Aber folgt auf das Impeachment zwangsläufig der Tod der „Neuen Republik“? Das Ende der Vision von mehr sozialer Gerechtigkeit, Transparenz und Teilhabe, die in der Verfassung von 1988 formuliert wurde?
Ob Farce, Schurkenstück oder Drama - im letzten Akt der Amtsenthebung der 2014 gewählten Präsidentin Dilma Rousseff wurde im Senat jedenfalls nicht gespart an Emotionen, persönlichen Stellungnahmen und der Betonung der historischen Bedeutung der Entscheidung. Bereits am 25. August begann die Sitzung des zuständigen Senats, unter der Leitung von Ricardo Lewandowski in seiner Funktion als Präsident des Obersten Gerichtshofes (STF), die sich bis zur Entscheidung am 31. August hinzog. Nach der Verlesung der Anklage am Donnerstag wurden bis zum Samstag sechs Zeugen der Verteidigung gehört. Am Montag hatte die Präsidentin erstmals seit ihrer Suspendierung am 12. Mai die Möglichkeit, sich zu den Vorwürfen gegen sie im Kongress zu äußern. Sie nutzte dies eine Dreiviertelstunde für eine politische Stellungnahme. Immer wieder warnte sie vor einem Putsch: „Für eine Amtsenthebung ist zwingend vorgeschrieben, dass eine kriminelle Handlung nachgewiesen werden kann. Wenn es keine kriminelle Handlung gibt, dann darf es kein Impeachment geben. Wir sind nur einen Schritt von einem echten Staatsstreich entfernt.“
In den folgenden dreizehn Stunden beantwortete Rousseff Fragen von Senator*innen, darunter auch zu den technischen Details der drei Haushalts-Dekrete und des „Plano Safra“, ein Förderprogramm für die Landwirtschaft, auf die sich die Anklage wegen „krimineller Haushaltstricks“ bezog. Sie war ausgezeichnet vorbereitet, sprach teils ruhig und sachlich, teils kämpferisch, und zeigte auch am Ende des Redemarathons keine Erschöpfung oder Konzentrationsschwächen. Über weite Strecken wirkte die Befragung, als wären einigen Senator*innen die Regeln und Strukturen bei der Umsetzung von Regierungsprogrammen völlig unbekannt. Intellektuell dürften sehr wenige Dilma Rousseff auch nur ansatzweise Paroli bieten können. Sie verließ den Senat nicht als Opfer, sondern erhobenen Hauptes, und wurde von PT-Anhänger*innen und der Frauenbewegung im Präsidentenpalast begeistert empfangen.
Am darauffolgenden Dienstag sprachen zunächst die Jurist*innen der Verteidigung und der Anklage, bevor 71 der 81 Senator*innen bis tief in die Nacht hinein persönliche Stellungnahmen abgaben. Klarer Tiefpunkt des Sitzungstages war die Rede der Juristin und Ko-Autorin der Anklage, Janaína Paschoal, die als Evangelikale auch während ihrer juristischen Ausführungen nicht ohne den Verweis auf Gott auskam. Wer solche Juristinnen unter Vertrag nimmt – Paschoal hat sowohl bestätigt als auch bestritten, dass sie von der Partei PSDB 45.000 R$ für ihre Arbeit erhalten hat – disqualifiziert sich im Grunde selbst. Am Ende ihrer Rede bat sie die Präsidentin unter Tränen um Entschuldigung „für die Schmerzen, die ich ihr sicher zugefügt habe“. Gleichzeitig drückte Paschoal ihre Hoffnung aus, „dass sie eines Tages verstehen wird, dass ich dies auch für ihre Enkel tun musste.“ Eine Erklärung, die wiederum den Juristen der Verteidigung, José Eduardo Cardozo, völlig außer Fassung brachte. Im anschließenden Interview bezeichnete er Paschoals Statement als „inakzeptabel“ und verglich sie mit einem Folterer, der gegenüber seinem Opfer behauptet, die Folter sei „nur zu seinem Besten“ geschehen.
Unter den Senator*innen sorgte Roberto Requiao für Furore, als der Senator seine Rede mit den Worten „Kanaille! Kanaille! Kanaille!“ begann. Ein historisches Zitat von Tancredo Neves, gerufen während der Parlamentssitzung, in der Präsident Joao Goulart 1964 unter dem Vorwand der Landesflucht abgesetzt wurde – der Beginn der 21 Jahre andauernden Militärdiktatur. Requiao ist Mitglied der Partei von Michel Temer (PMDB), stellte sich jedoch gegen das Impeachment. Das Zitat wurde später von Senator Lindbergh Farias (PT), als Form einer zugelassenen Beschimpfung des Senats, im Plural wieder aufgegriffen. Nur zwei Beispiele von vielen, die Bezüge zur Militärdiktatur herstellten und thematisierten, dass in dem Prozess des Impeachments der Demokratie irreparabler Schaden zugefügt werde.
Zweierlei wurde vor der Abstimmung im Senat sehr deutlich: Zum einen bestätigte sich, dass die Präsidialdekrete für zusätzliche Kredite ohne ausdrückliche Zustimmung des Parlaments seit langem Regierungspraxis waren, die niemals juristisch verfolgt wurde. Der ehemalige Finanzminister Nelson Barbosa betonte, dass allein im Jahr 2009, unter Präsident Lula, insgesamt 32 zusätzliche Kredite dekretiert wurden, ohne Vorbehalte des brasilianischen Bundesrechnungshofes. Juristisch war dieses Verfahren möglicherweise nicht korrekt oder nicht verfassungsgemäß – diese Frage ist komplex und nicht einfach zu beantworten. Sie blieb letztlich strittig. Dilma Rousseff betonte immer wieder, dass die zusätzlichen Kredite das Gesamtdefizit des Haushalts nicht erhöht hätten, da durch das Gesetz zur Haushaltsdeckelung von 2001 Mehrausgaben eines Postens durch Minderausgaben an anderer Stelle ausgeglichen werden müssen. Sie fragte, ob ihre Absetzung wirklich gerechtfertigt sei, „weil ich Dekrete unterzeichnet habe, die zusammengenommen nicht dazu geführt haben, wie die Akten belegen, dass ein einziger Centavo über das Haushaltsziel hinaus ausgegeben wurde?“ Dass darüber hinaus durch die Dekrete der Haushalt im Wahlmonat Oktober 2014 vermutlich besser aussah als ohne zusätzliche Kredite, war sicher kein unerwünschter Nebeneffekt. In Deutschland wird dies als „Kanzlerbonus“ bezeichnet.
Zum „Plano Safra“ argumentierten die suspendierte Präsidentin wie die ehemalige Landwirtschaftsministerin Katia Abreu (PMDB), dass es sich dabei niemals allein um ein Kreditprogramm gehandelt habe, sondern um ein Programm zur Subventionierung der Landwirtschaft „wie es in jedem Land der Welt notwendig ist“. Es wurde bereits 1992 von dem konservativen Präsidenten Fernando Collor aufgelegt und seither von den Regierungen Lula und Dilma substantiell ausgeweitet.
In beiden Fällen, die zur Anklage führten, folgte die Regierung von Dilma Rousseff also einer langen parlamentarischen Tradition. „Kriminelle Handlungen“, konnten der Präsidentin nicht nachgewiesen werden. Persönliche Bereicherung oder Korruption wurden ihr niemals vorgeworfen und waren auch nicht Gegenstand des Verfahrens. Stattdessen wurde in den Reden vieler Senator*innen deutlich, dass Rousseffs Regierungsführung, vor allem in Bezug auf die sich ab Ende 2014 verschärfende wirtschaftliche Krise, von den damaligen Koalitionspartnern grundsätzlich infrage gestellt wurde. Die Rohstoffpreise, insbesondere der Ölpreis, fielen deutlich und führten zu steuerlichen Mindereinnahmen. Zahlreiche Senator*innen warfen Dilma Rousseff vor, aus politischen Gründen die Staatsausgaben erst viel zu spät angepasst zu haben. Diese kritisierte ihrerseits ihre ehemaligen Koalitionspartner, die alle Ausgabenanpassungen blockiert hätten, bis das Impeachment-Verfahren eröffnet wurde.
Bei der entscheidenden Abstimmung am Mittwoch fiel das Ergebnis überraschend deutlich aus: 61 Senator*innen stimmten für das Impeachment, 20 Senator*innen dagegen, es gab keine Enthaltungen. Bis zum Schluss hatten die Unterstützer*innen von Dilma Rousseff gehofft, ausreichend Senator*innen zu überzeugen, damit die notwendige Zweidrittelmehrheit von 54 Stimmen nicht erreicht würde. Doch auch die zweite Abstimmung des Tages war eine Überraschung: Mit 42 Ja-Stimmen, 36 Nein-Stimmen und 3 Enthaltungen kam die notwendige Zweidrittelmehrheit nicht zustande, um Dilma Rousseff bis 2026 die passive Wählbarkeit in alle öffentlichen Ämter zu entziehen. Diese, getrennte, Abstimmung wurde erst am Morgen des 31. August vom amtierenden Präsidenten des Senats, Ricardo Lewandowski, angesetzt, nachdem ein entsprechender Antrag der PT eingegangen war. Ob sie verfassungsgemäß ist, wird noch geprüft. Gegner*innen der Präsidentin schäumten öffentlich vor Wut; der Medienkonzern Globo, der eine aktive Rolle bei der Amtsenthebung gespielt hat, veröffentlichte Minuten später die Namen aller „Abtrünnigen“. Seither wird darüber spekuliert, warum 16 Senator*innen bei der zweiten Entscheidung anders votierten, acht von ihnen sind Mitglied der PMDB. „Mitleid mit der ehemaligen Koalitionspartnerin und ein schlechtes Gewissen“ vermuteten die einen, „ein Präzedenzfall für zukünftige Amtsenthebungen“ die anderen – auch wenn dieser Fall für Verurteilungen wegen Korruption nicht zutreffen kann.
Nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses sangen die Befürworter des Impeachments die Nationalhymne, während die Unterstützer*innen der Präsidentin mit Schildern wie „Dies ist ein Putsch“ und „Dies ist Betrug“ protestierten. Beides ließ Lewandowski zu. Zu turbulenten Szenen – wie der Einsatz einer Konfettikanone bei der Entscheidung des Abgeordnetenhauses am 19. April – kam es jedoch nicht. Die „Würde des Senats“ sollte gewahrt, ein desaströses internationales Presseecho wie nach der Abstimmung der Abgeordneten unbedingt vermieden werden. Dilma Rousseff veröffentlichte nach der Senatssitzung eine kämpferische Stellungnahme: „Sie denken, dass sie uns besiegt haben, aber sie irren sich. Ich weiß, dass wir kämpfen werden. Es wird gegen sie die stärkste, unermüdlichste und energischste Opposition geben, unter der eine Putsch-Regierung leiden kann.“
Unmittelbar nach der Senatsabstimmung wurde Interimspräsident Michel Temer in einer kurzen Sitzung von weniger als 15 Minuten als Präsident vereidigt. Temer hatte ausdrücklich um eine „bescheidene Zeremonie“ gebeten. Er ist bereits der dritte Präsident der PMDB, der als Vizepräsident an die Macht gelangt, während die Präsidentschaftskandidaten der Partei an den Wahlurnen bisher stets scheiterten. Viel Anerkennung hat er als Präsident allerdings bisher nicht erhalten. Obwohl er erst nach seiner offiziellen Amtsübernahme zum G20-Gipfel nach China reiste, taucht sein Name im gemeinsamen Abschlussdokument nicht auf; stattdessen wird er als „brazilian lider“ aufgeführt. Bolivien, Ecuador und Venezuela haben ihre Botschafter abberufen, El Salvador hat die Regierung Temer nicht anerkannt. Der Außenminister der USA, John Kerry, bekräftigte dagegen: „Als die zwei größten Demokratien der westlichen Hemisphäre wissen wir, dass wir stärker sind, wenn wir zusammenarbeiten können.“ Zur Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff erklärte Kerry: „Dies war eine Entscheidung, die von der brasilianischen Bevölkerung getroffen wurde, und offensichtlich respektieren wir dies.“
In Brasilien trifft Temer überall auf Widerstand. Nachdem er öffentlich gefordert hatte, nicht als Putschist bezeichnet zu werden, scheint sich die Tür zu kreativen Protesten weit geöffnet zu haben. Von der Umdichtung der Nationalhymne (es ist erstaunlich, wie häufig sich in den Originaltext die Worte „Fora Temer“ einfügen lassen), der Überklebung von Straßennamen mit täuschend echten „Rua Fora Temer“-Aufklebern, über den Protest von Künstler*innen während der renommierten Biennale in Sao Paulo, bis zu öffentlichen Veranstaltungen und Fernsehshows: Täglich fordern Menschen bei allen vorstellbaren Gelegenheiten den Rücktritt des nichtgewählten Präsidenten. Inzwischen reicht es schon, in ein Mikrofon das Wort „primeiramente“ (zuerst) zu sprechen, damit das Publikum lautstark „Fora Temer“ ergänzt. Oder wie Regisseur Guilherme Weber in einem Kulturprogramm von TV Globo am Ende des Interviews zu seinem neuen Film „Deserto“ sagte: „Ultimamente (zuletzt): Fora Temer!“ Er erhielt vor laufender Kamera lautstarken Beifall der Studiogäste.
Inzwischen, so scheint es, meidet Michel Temer die Öffentlichkeit. Weil er schon bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro ausgebuht wurde, war er zur Schlusszeremonie gar nicht erst erschienen. In der Eröffnungszeremonie der Paralympics gingen seine Worte komplett in den Buhrufen im Stadium unter. Selbst bei der Militärparade zum Unabhängigkeitstag am 7. September war er vor Aufforderungen zum Rücktritt nicht sicher: 80 Studenten eines Universitätsprogramms hatten, wie in jedem Jahr, Platzkarten für die Tribüne der Verwaltung. Eine Nähe zum Präsidenten, die sie durch lautstarke „Fora Temer“-Rufe nutzten. Dabei hatte Temer vorsichtshalber schon mit der brasilianischen Tradition gebrochen und war weder im offenen Wagen defiliert, noch hatte er die offizielle Schärpe des Präsidenten benutzt.
Auch Temers Kommentar aus China, in dem er versuchte, die Massenproteste klein zu reden („Mini-Manifestationen mit vielleicht 30 bis 40 Vandalen, die Autos zerstören“), fällt ihm regelmäßig auf die Füße. Die Demonstrationen nehmen an Stärke und Häufigkeit seit der Senatsentscheidung deutlich zu. In Sao Paulo demonstrierten am 4. September mehr als 100.000 Menschen. Am 7. September, dem brasilianischen Unabhängigkeitstag, fanden in zehn Bundesstaaten und in der Hauptstadt Brasília Demonstrationen mit tausenden von Teilnehmenden statt, darunter in Rio de Janeiro, Recife, Belo Horizonte und erneut in Sao Paulo. Aber auch in vielen kleineren Städten gab es erstaunlich große Demonstrationen, wie in Caruaru (Pernambuco), Foz do Iguacu oder in Sao Borja (Rio Grande do Sul). Am 8. September „besuchten“ rund 15.000 Menschen Temers Wohnhaus in Sao Paulo. "Ein Putschist wird in Brasilien niemals Frieden finden. Brasilien ist kein Ort, an dem das Volk Angst vor Repression hat. Es wird Widerstand geben. Wir werden die Straßen einnehmen und Fora Temer rufen“, sagte eine Vertreterin der bundesweiten Studentenbewegung (UNE) zu dieser Protestaktion.
Doch mit der steigenden Anzahl an Demonstrationen und Protesten, nimmt auch die Repression der Polícia Militar (PM) zu, vor allem in Sao Paulo. Die Abschlusskundgebung am 4. September wurde von der Militärpolizei gezielt mit Tränengasbomben und Gummigeschossen aufgelöst, ohne dass es dafür einen Anlass gegeben hätte. Die Polícia Militar ging dabei mit äußerster Brutalität vor, die auch vor Minderjährigen nicht halt machte. Eine junge Studentin verlor die Sehfähigkeit ihres linken Auges. Auch viele Journalisten wurden trotz Kennzeichnung von der PM geschlagen oder gewaltsam abgedrängt, darunter ein Reporter von BBC Brasil. Opfer der PM wurden auch der Senator Lindenbergh Farias (PT) und der ehemalige Minister Roberto Amaral (PSB), die beide mit Tränengas beschossen wurden. Eine Gruppe von 26 Studierenden und Minderjährigen wurde von der PM mehr als 24 Stunden in Vorbeugehaft gehalten, ohne dass sie Zugang zu Anwälten gehabt hätten oder ihre Eltern informiert wurden. Die Haft wurde vom zuständigen Gericht inzwischen als nicht regelkonform bezeichnet. Amnesty International hat wegen der Repression der Militärpolizei gegen Demonstrationen in Sao Paulo eine internationale Eilaktion unter dem Titel „Protest ist kein Verbrechen“ gestartet, die sich an die Regierung von Sao Paulo richtet.
Doch nicht nur die Quantität, auch die Qualität der Demonstrationen hat sich seit der Abstimmung im Senat verändert. In ihrem aktuellen Editorial hebt die Zeitschrift Carta Capital hervor, dass die Massendemonstration in Sao Paulo am 4. September nicht parteigebunden war. Die Slogans, die bisher fast ausschließlich gegen die Regierung Temer gerichtet waren, fordern jetzt „Diretas já“ (sofortige Präsidentschaftswahlen) und politische Reformen in Brasilien. Und in der Tat wären Präsidentschaftswahlen – der der sozialen Bewegungen ist sie zeitgleich mit den Kommunalwahlen im Oktober 2016 durchzuführen – der einzige demokratische Ausweg aus der politischen Krise. Zu schwammig und politisch motiviert waren die Anklagen, die zur Amtsenthebung der Präsidentin geführt haben. Zu groß ist die Kluft zwischen 54 Millionen Wähler*innenstimmen für Dilma Rousseff und 81 Senator*innen, die sie abgesetzt haben. Zu sehr belastet sind die Politiker*innen, die über das Impeachment entschieden haben: Gegen 330 von 513 Abgeordnete und 50 von 81 Senator*innen werden Ermittlungen wegen Korruption und anderer Delikte geführt. Zu sehr profitiert Michel Temer persönlich, denn als Präsident genießt er parlamentarische Immunität, die sich auf alle Verfahren außerhalb seiner Amtsführung bezieht.
Temer ist in verschiedenen Korruptionsermittlungen schwer belastet worden, zuletzt am 7. August von dem inhaftierten Unternehmer Marcelo Bahia Odebrecht wegen einer Zahlung von zehn Millionen Reais an die Parteikasse der PMDB im „Lava Jato“-Korruptionsskandal. Rund 93% von 190.000 Befragten würden inzwischen Neuwahlen befürworten, meldete die Zeitung Estadao online am 6. September; die genauen Zahlen kennt man nicht, weil die Umfragen immer wieder von der Website des Senats entfernt werden.
Doch Temer selbst kann sich in den nächsten acht Jahren nicht zur Wahl stellen, er wurde von einem Wahlgericht wegen illegaler Wahlspenden verurteilt. Davon abgesehen liegen seine Beliebtheitswerte unter 10%. Wenig Motivation also, um Neuwahlen durchzuführen. Aber wird der Druck der Straße ausreichen, um diesen parlamentarischen Putsch zu beenden? Oder werden Temer und seine Regierungsriege alter, weißer, konservativer Männer bis 2018 alle Errungenschaften der PT-Regierungen beseitigen können? „100 Tage Temer – 100 verlorene Rechte“ - listet die Website Alerta Social auf: Von der Verlängerung der Arbeitszeit, der Kürzung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau und die familiäre Landwirtschaft, über den Verkauf wertvoller Ölressourcen im Meeresgrund an private Investoren bis zur Beteiligung der Kirchen bei der gesetzlichen Regelung von Abtreibungen durch den Gesundheitsminister reicht die Bandbreite. Ein großer Teil dieses gesellschaftlichen Umbaus liegt erst in Form von Gesetzentwürfen vor – noch ließe er sich stoppen.
Die tiefe politisch Krise bietet aber auch Chancen: Chancen neuer linker Bündnisse, Chancen, sich intensiv mit den Versäumnissen der PT auseinanderzusetzen, Chancen, die politischen Reformen mit Leben zu füllen und Kandidat*innen für die Kommunal- und Landesparlamente zu gewinnen, die nicht der dominierenden politischen Klasse in Brasilien angehören.
Doch zuallererst: Fora Temer!
// Eine gekürzte Version dieses Textes erscheint auch in der September/Oktober-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten.