100 Tage Regierung Lula da Silva: Chancen und Herausforderungen für „Einheit und Wiederaufbau“ in Brasilien

Eine Podiumsdiskussion mit Helena Palmquist, Elisabetta Recine und Natália Viana, vom 18.04.2023
| von Tilia Götze
100 Tage Regierung Lula da Silva: Chancen und Herausforderungen für „Einheit und Wiederaufbau“ in Brasilien
Screenshot der Veranstaltung 100 Tage Regierung Lula da Silva am 18.04.2023

Im Rahmen einer Online-Podiumsdiskussion sprachen Helena Palmquist, Elisabetta Recine und Natália Viana über die neue Regierung unter Lula seit dem 01.01.2023: Was sind die aktuellen politischen Herausforderungen, sowohl für die neue Regierung, als auch für soziale Bewegungen und die Bevölkerung? Die Moderation von Stefan Öfteringer und Camila de Abreu eröffnete die Veranstaltung mit Fragen zu drei Themenblöcken: Dem Stand der Demokratie, dem Kampf gegen den Hunger und dem Schutz der Wälder und Rechte der Indigenen und traditionellen Völker und Gemeinschaften. Die drei Referentinnen sprachen jeweils ca. 10 Minuten über einen der Themenblöcke und im Anschluss begann eine Podiumsdiskussion mit Fragen aus dem Publikum und der Moderation.

 

Die erste Frage ging an Natália Viana, welche Journalistin und Geschäftsführerin der Agência Pública (Agentur für investigativen Journalismus) ist: Was ist der Stand der brasilianischen Demokratie nach dem Angriff auf den Kongress im Januar? Was ist zu tun?

Als größte Bedrohung für die brasilianische Demokratie nennt Viana den Bolsonarismus, als erste digitale rechtsextreme Bewegung Brasiliens. Der Bolsonarismus sei eine Bewegung, die sich durch gezieltes setzen von Algorithmen, die Falschnachrichten in sozialen Medien verbreiten, in Teilen der Bevölkerung tief verwurzelt hat. Hier wurden Themen im gesellschaftlichen Diskurs platziert, die Angst und Schrecken verbreiten. Bolsonaro ist, mit Unterstützung seiner Söhne, durch diesen Missbrauch digitaler Medien an die Macht gekommen und die Bewegung überlebt seine Präsidentschaft. Durch die Falschnachrichten wurden Identitäten geschaffen. Massen haben sich über Jahre hin radikalisiert und viele Menschen wurden zu Putschist*innen gemacht. Umfragen ergaben, dass sich 22 Prozent der Bevölkerung als Bolsonarist*innen bezeichnen und den Angriff auf die Demokratie am 8. Januar 2023 für legitim und für spontanen Widerstand halten, der durch eine gut organisierte Medienkampagne möglich wurde.

Viana beschreibt, dass es schwierig sei, die genauen Strukturen der Netzwerke und die Taktiken der Verbreitung von Falschnachrichten zu durchschauen. Dennoch forscht die Agência Pública intensiv und erarbeitet Handbücher zur Entlarvung von Fake News. Außerdem gehen sie in Schulen und versuchen, dem Bolsonarismus durch Bildung entgegen zu wirken.

Wichtig sei zum Thema, dass dieses Kommunikationsnetz mit Bundesmitteln aufgebaut wurde und auch Mittel für die Pressearbeit der Regierung in den Aufbau einer sozialen Infrastruktur zur Verbreitung von Falschnachrichten geflossen ist. Parlamentarier*innen und Abgeordnete haben sich finanziell beteiligt und viele rechtsextreme Senator*innen und Abgeordnete halten sich damit an der Macht – vor allem auf Landes- und Bundestaatenebene. Auch das Agrobusiness unterstützt die Medienkampagnen, zum Beispiel zur Organisation des 8. Januars, finanziell. Zum Aufbau dieser sozialen Infrastruktur hat das Institut von Eduardo Bolsonaro mit Initiator*innen des Sturms auf das Kapitol in den USA zusammengearbeitet und sogar einen Think Tank gegründet, um die Prozesse aus den USA nach Brasilien zu bringen. Das heißt, hier spielen auch internationale Verbindungen eine große Rolle.

Als zwei aktuelle Hauptaufgaben des Journalismus nennt Natália, zu erforschen, was hier genau geschichtlich passiert ist und die Verantwortlichen für die Verbreitung von Falschinformationen zur Rechenschaft zu ziehen, um zu verhindern, dass es zu einer Amnesie, ähnlich der Militärdiktatur, kommt. Außerdem müssten alternative Akteur*innen gestärkt werden und soziale Medien, also auch die Unternehmen dahinter, kontrolliert und verantwortlich gemacht werden.

Hierfür muss sich auch die Regierung einsetzen und die Justiz muss aktiv werden. Die Bedrohung der brasilianischen Demokratie sei keineswegs mit der Wahl Lulas vorüber. Die Presse und die Wissenschaft brauchen weiterhin einen analytischen Blick auf die Situation des Landes.

 

Unter dem Gesichtspunkt, dass Brasilien wieder auf der Welthungerkarte der UN erschienen ist, ging die zweite Frage an die Präsidentin des CONSEA (Nationaler Rat für Lebensmittel- und Ernährungssicherheit), Elisabetta Recine. Der CONSEA wurde am 28.02.2023 von der Regierung wieder ins Leben gerufen und hat eine Geschichte der erfolgreichen Hungerbekämpfung in Brasilien. Was ist in den ersten 100 Tagen der neuen Regierung zur Bekämpfung des Hungers im Land passiert und welche Herausforderungen stellen sich der brasilianischen Regierung noch?

Recine spricht zunächst über die Geschichte der Hungerbekämpfung: Vor 10 Jahren, als Proteste gegen die Regierung Dilma Roussef laut wurden, begannen die Errungenschaften zur Hungerbekämpfung zu bröckeln. Seitdem wurden unter der Regierung Temer konsequent Gelder gestrichen; das Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung wurde abgeschafft, ebenso wie essentielle Programme für die Ernährungssicherheit. Die Rückkehr des Hungers begann hier und führte mit zur Wahl Bolsonaros. Die Pandemie war schließlich der letzte Tropfen, der das Fass das Hungers zum Überlaufen brachte, denn die Situation war schon zuvor für viele Menschen prekär. Die öffentliche Politik im Bereich der Ernährungssouveränität wurde unter Bolsonaro aktiv destrukturiert und Personen, die für Ernährungssicherheit gearbeitet haben wurden ersetzt, bzw. Stellen abgebaut und Teams geschwächt. Mit dem Regierungswechsel wurde durch eine provisorische Maßnahme ein neuer Haushalt verabschiedet, wodurch Programme zur Herstellung der Ernährungssicherheit wieder in Gang gebracht werden können. Dennoch müssen die alten Strategien des „Fome Zero“ (Null Hunger) Programms, wie beispielsweise „Bolsa Familia“, an die aktuelle Situation und die neuen Herausforderungen angepasst werden. Dazu gehört zum Beispiel die schnell voranschreitende Klimakrise, die stark mit dem Hunger verbunden ist. Recine spricht hier von einem Wandel der Lebensmittelproduktion mit Fokus auf einer nachhaltigen und ausgeglichenen Nahrungsversorgung der gesamten Bevölkerung. Es brauche Prozesse, die Ungleichheit und somit auch die Wurzeln des Hungers abschaffen. Das beinhaltet Genderfragen, Rassismus und die Gewährleistung von Landrechten. Der CONSEA erweitert hierfür zum Beispiel das Programm „Bolsa Familia“ um Bildungsprogramme und eine soziale Assistenz. Auch das Schulspeisungsprogramm und ein Programm zum Lebensmitteleinkauf würden neu gedacht und organisiert werden. Existenziell ist bei diesen Programmreformen die Beteiligung der Zivilgesellschaft, um die Prioritäten der Regierungspolitik neu zu setzen.

 

Über den dritten Themenblock, den Schutz der Wälder und die Rechte Indigener und traditioneller Völker und Gemeinschaften, sprach Helena Palmquist. Sie ist Journalistin und Kulturanthropologin und arbeitet bei Observatório dos Direitos Humanos dos Povos Indígenas (Beobachtungsstelle für die Menschenrechte indigener Völker): Was wird getan um das Amazonasgebiet und die Indigenen, traditionellen Völker und Gemeinschaften zu schützen?

Zunächst, erklärt Palmquist, muss anerkannt werden, wie gravierend die aktuelle Situation der Bevölkerung im Amazonasgebiet ist. Der Umgang mit den Menschen auf dem Gebiet der Yanomami stelle einen Genozid aus dem Lehrbuch dar. Das Ziel der Bolsonao-Regierung war, diese Völker zum Aussterben zu bringen und das trifft nicht nur auf die Yanomami zu, sondern auch auf viele andere. Schon vorhandene Konflikte durch illegalen Bergbau und Holzabbau wurden verschärft und kartelliert. Es handelt sich um eine Praxis der Destrukturierung und des verbrannten Landes. Wichtige Stellen in Institutionen zum Schutz der Wälder und der Menschenrechte wurden abgeschafft – Die Stellen der Kontrolleur*innen der Umweltbehörde IBAMA wurden beispielsweise von 7000 auf 500 gekürzt. Auch die Haushalte von IBAMA und FUNAI (Bundesbehörde für indigene Völker) zum Beispiel, wurden enorm abgebaut. Das heißt, wir arbeiten jetzt mit dem Erbe einer Regierung, die organisiertes Verbrechen im Amazonasgebiet gefördert hat, was uns vor große Herausforderungen stellt, beschreibt Palmquist.

Die Schutzstrukturen wieder aufzubauen, hänge an finanziellen Haushalten, die vermutlich erst nächstes Jahr zur Verfügung stehen. Dennoch wird viel gemacht, zum Beispiel hat die Politik der vergangenen Jahre dazu geführt, dass der APIB (Zusammenschluss Indigener Völker Brasiliens) sich enorm vergrößert hat. Gleichzeitig wurden Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID in indigenen Territorien durch den Obersten Gerichtshof erkämpft. Mit diesem wird auch die FUNAI in Zukunft zusammenarbeiten müssen.

Eine Sorge, die Palmquist einbringt, ist dass die Verantwortung für den Genozid nicht aufgedeckt und bearbeitet wird. Es gab Todesfälle, die in direkter Beziehung zur Bolsonaro-Regierung stehen. Außerdem sind Projekte von der neuen Regierung in Planung, welche Territorien von Indigenen und traditionellen Völkern und Gemeinschaften bedrohen. Sei es Straßenbau oder die Erdölbeschaffung – das alles bedroht den Schutz des Amazonasgebietes, die Territorien, Flüsse und Gewässer.

Der Gouverneur von Belém zum Beispiel, reist durch Europa und spricht darüber, den Klimawandel zu bekämpfen. Gleichzeitig führt er Projekte wie den Bau von Bundesstraßen durch demarkierte Gebiete durch. Auch internationale Projekte gefährden das Amazonasgebiet, zum Beispiel in Kooperation mit China. In jedem Falle müsse genau beobachtet werden, was die Regierung plant und umsetzt und hierbei darf auch die Kolonialgeschichte nicht außer Acht gelassen werden.

In der anschließenden Diskussion zeigen sich alle drei Referentinnen hoffnungsvoll und kritisch gegenüber der neuen Regierung. Natália Viana verdeutlicht, dass auch das Militär eine Rolle in der Demokratiefrage Brasiliens spielt und hier tiefgreifende Veränderungen stattfinden müssten, die nach ihrer Einschätzung auch unter der neuen Regierung nicht passieren würden. Helena Palmquist betont, dass Brasilien es schaffen kann, Entwaldung zu verhindern, wenn Lula tatsächliche, nicht nur metaphorische Maßnahmen ergreift. Zudem bräuchten wir ein Entwicklungsmodell, welches sich von der kolonialen Perspektive, auch im internationalen Kontext, abgrenzt. Elisabetta Recine betont das große Wissen der Agrarökologie und die Stärke des Netzwerks von ökologischer Landwirtschaft in Brasilien. Ein Wandel des Produktionsmodells sei notwendig - mit Fokus auf Mitbestimmung der Bevölkerung.

 

Eine gemeinsame Veranstaltung im Rahmen der Berliner Brasiliendialoge von:
Brasilien Initiative Berlin (BIB), Brot für die Welt, Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V., Friedrich-Ebert-Stiftung, Heinrich-Böll-Stiftung, KoBra e.V., Lateinamerika-Forum Berlin e.V. (LAF), Misereor, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Hier gehts zur Veranstaltungsankündigung