Offener Protestbrief gegen Volkswagen do Brasil: Für die Erinnerung der Arbeiterinnen und Arbeiter im Kampf gegen die brasilianische Diktatur
Quelle: Dachverband der Kritischen Aktionär:innen
Im Kampf um Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparationen in Brasilien fordern Menschenrechtsaktivist:innen, Gewerkschafter:innen und international renommierte Jurist:innen von Volkswagen do Brasil, dem 2017 erfolgten Eingeständnis der historischen Komplizenschaft mit der brasilianischen Militärdiktatur endlich Taten folgen zu lassen und der Einsetzung und Errichtung eines musealen Erinnerungsortes nicht weiter Steine in den Weg zu legen.
Seit 2015 wurde in São Paulo von drei Bundesstaatsanwaltschaften gegen Volkswagen do Brasil ermittelt, um zu klären, ob und inwieweit die brasilianische Tochterfirma von Volkswagen zur Zeit der brasilianischen Militärdiktatur mit den Repressionsorganen der Diktatur zusammengearbeitet hat und sich der Komplizenschaft an Menschenrechtsverletzungen wie illegales Verhaften und Foltern mitschuldigt gemacht habe. Ende 2017 starteten dann, nach Vorlage der zwei Historiker:innenberichte zur Kollaboration von VW do Brasil mit der Militärdiktatur, unter Aufsicht der drei Bundesstaatsanwaltschaften ein außergerichtliches Verfahren zwischen betroffenen Arbeiter:innen, Menschenrechtsgruppen und Menschenrechtsanwält:innen und Gewerkschaften auf der einen Seite und Volkswagen do Brasil auf der anderen Seite durchgeführt. Nachdem Ende Juni 2020 durchgesickert war, dass VW do Brasil um eine vorläufige Suspendierung des Verhandlungsprozesses wegen der Corona-Krise bat, davon aber nach öffentlicher Kritik wieder zurückruderte, melden neueste Presseberichte, einer der schwerwiegensten Knackpunkte, bei denen VW do Brasil sich querstellt, sei die Einsetzung und Errichtung eines musealen Erinnerungsortes.
Der Dachverband der Kritischen Aktionär:innen hat daher gemeinsam mit brasilianischen Menschenrechtsaktivist:innen, Menschenrechtsanwält:innen und Gewerkschaften eine gemeinsame Protestnote erstellt, die wir hier im Folgenden auf Portugiesisch (bitte weiter runterscrollen) und auf Deutsch zugänglich machen.
São Paulo, Berlin, Köln, 3. August 2020
Der Fall Volkswagen do Brasil: Für die Erinnerung der Arbeiterinnen und Arbeiter im Kampf gegen die brasilianische Diktatur
Brasilien durchlebt heute eine Phase schwerwiegender Rückschritte. Seit 2016 rollt ein konservativer Angriff durch das Land und unterminiert die zerbrechlichen Errungenschaften der brasilianischen Demokratie, sei es im Bereich politischer Freiheiten, sei es im Bereich sozialer Rechte oder im Arbeitsrecht. Dieser Prozeß ist durch den Aufstieg von Jair Bolsonaro zum Präsidenten des Landes verstärkt worden. Als erklärter Sympathisant der zivil-militärischen Diktatur (1964-1988), als Rassist und Frauenfeind vereint der Präsident in sich das Schlimmste, was die brasilianischen Eliten zu bieten haben. In der Covid-19-Pandemie hat Bolsonaros Corona-Leugnungspolitik Brasilien an die zweite Position der Länder mit den meisten Covid-19 Toten gebracht.
In diesem Kontext des Aufstiegs der extremen Rechten ist es umso bedeutender, dass es endlich einen Ort der Erinnerung geben muss, der unter geschäftsführender und inhaltlicher Leitung der beteiligten Institutionen und der Arbeiterorganisationen stehen muss und der die Geschichte des Widerstands der Arbeiterinnen und Arbeiter wiedergibt sowie über die schweren von Volkswagen und anderen Firmen begangenen Menschenrechtsverletzungen Zeugnis ablegt, die diese Firmen in Komplizenschaft mit dem brasilianischen Staat verübten.
Brasilien ist im Hinblick auf die traditional justice eines der rückständigsten Länder. Trotz der bedeutsamen Arbeiten der Nationalen Wahrheitskommission, der Kommissionen und Komitee für die Wahrheit, der Sonderkommission der Toten und Verschwundenen sowie der Kommission für Amnestie, bleibt festzuhalten, dass die Aufarbeitung der Wahrheit unzureichend war und dass die Konstruktion eines kollektiven Erinnerns als klarer Zurückweisung und Absage an jedweden Staatsterrorismus noch unzureichender ausfiel. Kein einziger Täter wurde für die systematische Verfolgung, die illegalen Verhaftungen, für die Folter und Ermordung Oppositioneller je bestraft.
Noch unbekannter ist das Vorgehen der Unternehmen beim Militärputsch von 1964. Regelmäßig wird die Rolle der Unternehmen bei der Verschwörung gegen die demokratisch gewählte Regierung von João Goulart (1962-1964) ignoriert, ebenso wie die Rolle der Unternehmen bei der Ausarbeitung der Wirtschaftspolitik der Militärdiktatur, bei der Finanzierung und der Ausrüstung der Politischen Polizei sowie bei der direkten Repression der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie der Opposition als ganzem ausgeblendet wird. Das damals dahinter stehende strategische Ziel war die Senkung der Lebensbedingungen der Erwerbstätigen, indem soziale Errungenschaften gekappt wurden, Gehälter gekürzt wurden und die Gewerkschaftsfreiheit beschnitten wurde, um sich dagegen organisieren zu können.
Diese Politik des Vergessens und Nicht-Bestrafung hat dazu beigetragen, dass die extreme Rechte, mit Unterstützung eines großen Teils der Unternehmerschaft, neue Kraft gewinnen und dies einen Demagogen an die Macht im Lande brachte, der offen für Folter und für die Ermordung Oppositioneller eintritt.
Die Bedeutung des Falls Volkswagen do Brasil
Aus diesem Grunde ist der Fall Volkswagen do Brasil von strategischer Bedeutung. Der Autobauer war eine der von der Arbeitsgruppe „Diktatur und Repression gegen die Arbeitenden und gegen die Gewerkschaftsbewegung (GT-13) der Nationalen Wahrheitskommission untersuchten Fälle, auch die Wahrheitskommission des Bundesstaates von São Paulo „Rubens Paiva“ sowie die Wahrheitskommissionen der Munizipen von Santo André, São Bernardo do Campo und São Caetano do Sul untersuchten den Fall. Die Untersuchungen ergaben, dass Volkswagen do Brasil gemeinsam mit den Repressionsorganen der Militärdiktatur einen stark militarisierten Überwachungs- und Repressionsapparat aufgebaut hat, um die Beschäftigten innerhalb und außerhalb der Firma zu überwachen; die Firma hat zudem an der illegalen Verhaftung und der Folter innerhalb des Werkgeländes Teil gehabt; die Firma hat systematisch Informationen über ihre Beschäftigten an die Politische Polizei weitergegeben; die Firma hat zudem die Koordinierungsrolle mit weiteren Firmen und den staatlichen Repressionsorganen zur Unterdrückung der Arbeiterbewegung übernommen.
Im September 2015, nach Abschluß der Nationalen Wahrheitskommission, wurde die Firma bei der Bundesstaatsanwaltschaft angezeigt. Die Anzeige wurde unterzeichnet von allen Gewerkschaftsdachverbänden, von renommierten Juristinnen und Juristen und Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern.
Es handelt sich dabei um die politische Initiative, eine Firma für die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen während der zivil-militärischen Diktatur Brasiliens zur Verantwortung zu ziehen. Es ist ein paradigmatischer Fall, der – sollte er juristischen Erfolg haben – ein neues Kapitel im Kampf um Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparationen in Brasilien aufschlagen könnte. Die im Rahmen der Untersuchung der Bundesstaatsanwaltschaft zu Tage geförderten Beweise haben die Firma zu Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft über Reparationen für die begangenen Verbrechen gezwungen.
Die notwendigen Reparationen
Seit der Aufnahme der juristischen Untersuchung wurde die Forderung nach der Einsetzung und Errichtung eines musealen Erinnerungsortes der Kämpfe der Arbeitenden und an die Unternehmenskollaborationen bei Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur. Volkswagen selbst hatte im Septmber 2015 gegenüber brasilianischen Medien erklärt, die Firma „prüfe, neben anderen Maßnahmen, die Einrichtung eines Erinnerungsortes“ (Siehe “Volks busca reparar apoio à repressão na ditadura”, Estado de S. Paulo, 1. November 2015).
Die Unternehmen versuchen immer, ihre Verbrechen zu kaschieren. Dazu setzen Konzerne weltweit ihre finanzielle Macht sowie ihren politischen Einfluss ein. Diese Art von Erpressung akzeptieren wir nicht. Die Einrichtung eines Erinnerungsortes als Referenz – der besucht werden kann, der bekannt ist und der auch dazu beitragen kann, das Wissen hergestellt und verbreitet wird – bedeutet, dass die Erinnerung der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die all jener, die gegen die zivil-militärische Diktatur gekämpft haben, unabdinglich ist und somit nicht verhandelbar ist.
Die Lösung des Falles Volkswagen do Brasil kann über eine Einigung erfolgen, die seit Jahren verhandelt wird und die seit Jahren durch die Firma verschleppt wird, oder aber sie kann erfolgen auf dem Gerichtswege. Egal welcher der beiden Wege zum Ziel führen wird, die Einsetzung und Errichtung eines Ortes der Erinnerung ist unumgänglich.
In einem Moment des Aufstiegs obskurer politischer Kräfte weltweit aber besonders in Brasilien, steht diese Forderung im Einklang mit dem weltweiten Kampf um die Verteidigung der Menschenrechte, der demokratischen Freiheiten und den Errungenschaften der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Damit nichts vergessen werde, damit dies nie wieder geschehe!
Unterzeichnende:
Adriano Diogo
Präsident der Wahrheitskommission des Staates São Paulo – Rubens Paiva (2012-2015)
Christian Russau
Vorstand Dachverband Kritische Aktionär:innen, Deutschland
José Luiz Del Roio
Ex-Senator Italien und Direktor des Instituto Astrojildo Pereira
José Sérgio Leite Lopes
Anthropologe und Professor des Museu Nacional – Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ)
Ivan Akselrud de Seixas
Koordinator der Wahrheitskommission des Staates von São Paulo – Rubens Paiva (2012-2015) und Sonderassistent der Nationalen Wahrheitskommission (2012-2014)
Pedro Henrique Campos
Professor der Geschichte an der Universidade Federal Rural do Rio de Janeiro (UFRRJ) und Mitglied der Arbeitsgruppe zu Unternehmenschaft und Diktatur in Brasilien
Rosa Cardoso
Mitglied der Nationalen Wahrheitskommission (2012-2014) und Koordinatorin der Arbeitsgruppe Diktatur und Repression gegen Arbeiter und gegen Gewerkschaftsbewegung (GT-13)
Sebastião Neto
Exekutivsekretär der Arbeitsgruppe Diktatur und Repression gegen Arbeiter und gegen Gewerkschaftsbewegung (GT-13) der Nationalen Wahrheitskommission (2013-2014) und Koordinator des IIEP
Wahrheitskommission der Arbeiter und der Gewerkschaftsbewegung von Minas Gerais. (COVET-MG)
Kommission Erinnerung und Wahrheit der Bundesuniversität UFRJ
Caso Volkswagen: em defesa da memória dos trabalhadores e das lutas contra a ditadura brasileira
São Paulo, 03 de agosto de 2020.
O Brasil vive hoje um momento de grave retrocesso. Desde 2016, uma ofensiva conservadora vem minando as frágeis conquistas da democracia brasileira, seja no campo das liberdades políticas, seja na esfera dos direitos sociais e trabalhistas. Esse processo foi potencializado pela ascensão de Jair Bolsonaro ao poder em 2018. Admirador confesso da ditadura civil-militar (1964-1988), racista e misógino, o presidente condensa o pior das elites brasileiras. Durante a pandemia da Covid-19, sua política negacionista levou o Brasil à marca de segundo país com mais mortos no mundo pela doença.
É nesse contexto de ascensão da extrema-direita que ganha ainda mais importância a construção de um espaço de memória que garanta o registro da história de resistência dos trabalhadores e das graves violações de direitos humanos pela Volkswagen e por outras empresas, sempre em parceria com o Estado brasileiro.
O Brasil é dos países mais atrasados do mundo no campo da Justiça de Transição. Apesar dos importantes trabalhos da Comissão Nacional da Verdade e de Comissões e Comitês da Verdade, da Comissão Especial de Mortos e Desaparecidos e da Comissão de Anistia, a recuperação da verdade foi insuficiente e a construção de uma memória coletiva de repúdio ao Terrorismo de Estado, ainda menor. Nenhum agente do Estado foi punido pela sistemática perseguição, prisão ilegal, tortura e assassinato de opositores.
É ainda menos conhecida a atuação empresarial no golpe de 1964. Frequentemente, ignora-se o papel das corporações na conspiração contra o governo democraticamente eleito de João Goulart (1962-1964), na formulação da política econômica da ditadura, no financiamento e aparelhamento da polícia política e na repressão direta a trabalhadores e à oposição em geral. Sua ação teve como objetivo estratégico o rebaixamento das condições de vida da população assalariada, atacando direitos conquistados, achatando salários e impedindo sua organização em movimentos reivindicatórios.
Essa política de esquecimento e não punição permitiu que a extrema-direita, com apoio de amplo setor do empresariado, ganhasse novo fôlego, levando ao poder um demagogo que prega abertamente a favor da tortura e do assassinato de opositores.
A importância do Caso Volkswagen
Por esse motivo, o Caso Volkswagen tem importância estratégica. A montadora foi uma das empresas investigadas pelo GT Ditadura e repressão aos trabalhadores e ao movimento sindical (GT-13) da Comissão Nacional da Verdade, pela Comissão da Verdade do Estado de São Paulo – Rubens Paiva e pelas Comissões da Verdade dos municípios do ABC paulista. As pesquisas concluíram que a empresa alemã montou, em estreita ligação com a repressão ditadura, um forte aparelho militarizado de vigilância e repressão para monitorar seus empregados dentro e fora de suas dependências; participou de ações de prisão ilegal e tortura dentro de suas unidades; repassou sistematicamente informações de seus empregados à polícia política; coordenou esforços junto com outras empresas e com o aparato de repressão estatal para reprimir o movimento operário; entre outras ações.
Em setembro de 2015, após o encerramento da CNV, a empresa foi denunciada ao Ministério Público Federal, em documento assinado por todas as Centrais Sindicais, juristas renomados e militantes dos direitos humanos.
Trata-se da primeira iniciativa política de responsabilização de uma empresa por graves violações de direitos humanos durante a ditadura civil-militar. É um caso paradigmático que, se bem-sucedido, pode abrir um novo capítulo na luta por memória, verdade, justiça e reparação no Brasil. As evidências levantadas no Inquérito forçaram uma negociação da empresa com o Ministério Público sobre a reparação pelos crimes.
A reparação necessária
Desde a abertura do inquérito foi levantada a reivindicação da construção de um lugar de memória das lutas dos trabalhadores e da participação empresarial em violações de direitos humanos na ditadura. A própria empresa, em setembro de 2015, afirmou à imprensa brasileira que “estuda, entre outras iniciativas, fazer um memorial” (“Volks busca reparar apoio à repressão na ditadura”, matéria no Estado de S. Paulo, 1º de novembro de 2015).
A ação padrão das empresas é agir para apagar seus crimes. Para isso, corporações por todo o mundo mobilizam seu poder financeiro e influência política. Não aceitaremos esse tipo de chantagem. Garantir um lugar de memória referência – que tenha em sua gestão e concepção as entidades envolvidas no caso e as organizações dos trabalhadores, que possa ser visitado e conhecido e, ainda, que atue na produção e difusão de conhecimento sobre o tema – é reafirmar que a memória dos trabalhadores e trabalhadoras, assim como de todas e todos que resistiram à ditadura civil-militar, não está à venda.
A resolução do Caso Volks pode se dar por um acordo, que é negociado há anos e sempre postergado por entraves colocados pela empresa, ou, se falharem tentativas de entendimento, pela judicialização. Seja qual for o encaminhamento, a construção de um lugar de memória é item incontornável.
Em um momento político de ascensão de forças obscurantistas em todo o mundo, e particularmente no Brasil, essa reivindicação se coloca no marco da luta mundial em defesa dos direitos humanos, das liberdades democráticas e das conquistas dos trabalhadores.
Para que não se esqueça, para que nunca mais aconteça!
Adriano Diogo
Presidente da Comissão da Verdade do Estado de São Paulo – Rubens Paiva (2012-2015)
Christian Russau
Diretoria da Associação dos Acionistas Críticos da Volkswagen – Alemanha
José Luiz Del Roio
Ex-Senador da República Italiana e diretor do Instituto Astrojildo Pereira
José Sérgio Leite Lopes
Antropólogo e professor do Museu Nacional – Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ)
Ivan Akselrud de Seixas
Coordenador da Comissão da Verdade do Estado de São Paulo – Rubens Paiva (2012-2015) e Assessor Especial da Comissão Nacional da Verdade (2012-2014)
Pedro Henrique Campos
Professor de História da Universidade Federal Rural do Rio de Janeiro (UFRRJ) e integrante do Grupo de Trabalho Empresariado e ditadura no Brasil
Rosa Cardoso
Comissionária da Comissão Nacional da Verdade (2012-2014) e coordenadora do Grupo de Trabalho Ditadura e repressão aos trabalhadores e ao movimento sindical (GT-13)
Sebastião Neto
Secretário-executivo do Grupo de Trabalho Ditadura e repressão aos trabalhadores e ao movimento sindical (GT-13) da Comissão Nacional da Verdade (2013-2014) e coordenador do IIEP
Comissão da Verdade dos Trabalhadores e do Movimento Sindical de Minas Gerais. (COVET-MG)
Comissão Memória e Verdade da UFRJ