Neue Studie: Degradierte Flächen Amazoniens bisher übersehener Faktor. Kipppunkt wohl schon überschritten

In der neuen Ausgabe der Wissenschaftszeitung „Science“ haben Wissenschaftler:innen anhand der Landsat-Daten errechnet, dass während zwischen 1992 und 2014 die Rodungszahlen in Amazonien sich auf 308.311 km² erstreckten, die in Amazonien im gleichen Zeitrum degradierten Flächen aber bereits auf 337.427 km² kamen.
| von Christian.russau@fdcl.org
Neue Studie: Degradierte Flächen Amazoniens bisher übersehener Faktor. Kipppunkt wohl schon überschritten
Grafik: Blog do Pedlowski

Schon lang wird vor dem drohenden Kipppunkt Amazoniens gewarnt, der Moment, wenn 20-25 % des amazonischen Regendwaldes gerodet sein werden. Denn dann droht das System zu kippen und ein nicht mehr aufzuhaltender Proess der Versteppung und sich systemisch ausweitende Dürren wären die Folge. Bislang hat die Politik dazu die Zahlen der Wissenschaftler:innen im Blick, die sich der Rodung, Abholzung und der Brandrodung widmen. Dies ist in der Tat ein äußerst gewichtiger Indikator, nicht zuletzt angesichts der seit Amtsantritt des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro rapide steigenden Brandrodungen in Amazonien. Doch nun machen Wissenschaftler:innen in einer neuen Studie auf ein bisher deutlich zu wenig beachtetes Phänomen aufmerksam: Das der bereits degradierten Flächen Amazoniens. In der neuen Ausgabe der Wissenschaftszeitung Science haben die Wissenschaftler:innen Eraldo Aparecido Trondoli Matricardi, David Lewis Skole, Olívia Bueno Costa, Marcos Antonio Pedlowski, Jay Howard Samek und Eder Pereira Miguel1 anhand der Landsat-Daten errechnet, dass während zwischen 1992 und 2014 die Rodungszahlen in Amazonien sich auf 308.311 km² erstreckten, die in Amazonien im gleichen Zeitrum degradierten Flächen bereits auf 337.427 km² kamen.

Ausgehend von diesen Zahlen konstatiert der Universitätsprofessor Marcos Pedlowski im Gespräch mit KoBra, dass die Aussage „20 Prozent Amazoniens“ seien „erst gerodet, „noch 80%“ seien intakt, so nicht haltbar ist. „Anhand unserer neuen Erhebung können wir – selbst bei konservativer Interpretation“ sagen, dass bereits jetzt„ mindestens rund 30% Amazoniens gerodet und degradiert sind.“ Wegen der bisherigen weitestgehenden Nicht-Beachtung der Bedeutung der degradierten Flächen Amazoniens, könnte dieser Anteil - bei weniger konservativer Schätzung - bereits dazu geführt haben, dass bereits jetzt nur noch an die 65% Amazoniens als intakt gelten dürften, so Pedlowski im Gespräch mit KoBra.

Kipppunkte in Amazonien und das drohende Ende der Fliegende Flüsse Amazoniens und was das für die Millionenmetropelen im Süden und Südosten des Landes in Zukunft bedeutet

Laut den Wissenschaftlern Thomas E. Lovejoy and Carlos Nobre2 stehe Amazonien kurz vor dem Kipp-Punkt, ab dem es kein Zurück mehr gebe: „Wir glauben, dass negative Synergien zwischen Entwaldung, Klimawandel und weit verbreitetem Einsatz von Feuer darauf hindeuten, dass das Amazonas-System bei einer Abholzung von 20-25 % auf Nicht-Waldökosysteme im östlichen, südlichen und zentralen Amazonien umkippen wird.“

Um zu verstehen, was es bedeuten würde, wenn aus der Landschaft des tropischen Regenwaldes Amazoniens eine Trockensavanne wird, muss der Begriff der flying rivers erklärt werden.

Der Begriff der flying rivers wurde von dem Meteorologen beim brasilianischen Raumforschungsinstitut INPE und Mitglied des Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC, José Antonio Marengo Orsini, geprägt.3 Marengo und seine über 50 Kolleg/innen aus acht Ländern hatten 2002-2003 700 Ballone, mit Sensoren ausgestattet, in Amazonien starten lassen und konnten so die vorherrschenden Luftströmungen je Jahreszeit nachvollziehen. Das Ergebnis: In den Sommermonaten driften die in Amazonien durch Evaporation entstehenden Wolken in einer Höhe von unter dreitausend Metern und mit einer Geschwindigkeit von durchschnittlich 50 km/h zunächst gen Westen, wo sie an den Anden geblockt werden und dann gen Süden/Südosten abgelenkt werden – bevor sie über dem Südosten und Süden Brasiliens, über Uruguay, Paraguay und dem Norden Argentiniens sich abregnen. „Diese Strömungen sind wie fliegende Flüsse, die Feuchtigkeit vom Norden nach Süden tragen“, erklärte damals José Marengo. Seine Forschungskollegin Carolina Vera, von der Universität von Buenos Aires ergänzte, „besonders im Sommer, da sind diese Luftströme eine der Hauptursachen für die starken Regenfälle“. Denn die nach Süden treibenden Wolken erhöhen dort die Luftfeuchtigkeit, so die Forscher/innen um Marengo bereits 2003, um 20-30%, in einigen Fällen gar um 60%.4

Antonio Nobre vom nationalen Forschungsinstitut für Raumfragen INPE erklärte bereits im Jahr 20095 den Zusammenhang der Wasserknappheit im Süden mit der Rodung Amazonien anders: In Amazonien verdunsten jeden Tag 20 Milliarden Tonnen Wasser. Zum Vergleich: Der weltgrößte Fluss der Welt, der Amazonas, speist täglich 19 Milliarden Tonnen Wasser in den Atlantik. Im amazonischen Regenwald bietet das vielschichtige, in die Höhe von bis zu 40 Meter reichende Blattwerk der Pflanzenwelt auf einem Quadratmeter Regenwaldbodens das Acht- bis Zehnfache an potentieller Verdunstungsfläche. Während ein Baum bis zu 300 Liter Wasser je Tag verdunsten könne, liege die Rate bei Weideland nur bei einem Achtel dieses Werts, so Nobre. Der Begriff der Fliegenden Flüsse meint demnach den Vorgang der täglichen Verdunstung zu Wolken von 20 Milliarden Tonnen Wasser durch Amazoniens Blattwerk, von dem 50 Prozent sich in Amazonien selbst wieder abregnen und zehn Milliarden Tonnen gen Westen ziehen und an den sechstausend Metern hohen Anden blockiert und von dort nach Süden getrieben werden und sich über dem Wassereinzugsgebiet auch des Großraums São Paulos abregnen. Werde die Verdunstung in Amazonien durch Inwertsetzung, sprich: Rodung der Region und Umnutzung durch industrielle Landwirtschaft gemindert, so mindert dies auch die Regenfälle für das Wassereinzugsgebiet von São Paulo.

In den letzten 40 Jahren wurden in Amazonien im Durchschnitt drei Millionen Bäume je Tag gerodet. Daraus errechnet sich die erschreckende Zahl von 2.000 Bäumen je Minute oder einer Gesamtzahl von 42 Milliarden Bäumen.6 Versiegen die fliegenden Flüsse Amazoniens, so sitzen der Süden und Südosten Brasiliens mit seinen Millionenmetropolen, Nordargentinien ebenso wie Uruguay und Paraguay auf dem Trockenen.

1Siehe https://science.sciencemag.org/content/369/6509/1378

2https://advances.sciencemag.org/content/4/2/eaat2340

3Revista pesquisa, Fapesp, August 2005, http://revistapesquisa.fapesp.br/2005/08/01/o-mapa-dos-ventos/ Zugriff 4. August 2015

4Revista pesquisa, Fapesp, August 2005, http://revistapesquisa.fapesp.br/2005/08/01/o-mapa-dos-ventos/ Zugriff 4. August 2015

5Daniela Chiaretti: "Sem chuva da Amazônia, SP vira deserto. Entrevista com Antonio Nobre, pesquisador do Inpe", Valor Econômico, 12.01.2009

6Antonio Donato Nobre: "O Futuro Climático da Amazônia. Relatório de Avaliação Científica", São José dos Campos – SP, Edição ARA, CCST-INPE und INPA, S.30, http://www.ccst.inpe.br/wp-content/uploads/2014/10/Futuro-Climatico-da-Amazonia.pdf Zugriff am 12. August 2015