„Zurück in eine grauenhafte Zeit“
Dies ist die Langversion eines Interviews, das die Lateinamerika Nachrichten in ihrer Ausgabe 561, März 2021, veröffentlicht haben.
// Interview: Julia Ganter
Bereits während seines Wahlkampfes vertrat Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro die paradoxe Strategie, mit Lockerungen der Waffengesetzgebung Kriminalität und Gewalt zu verringern. Seit seinem Amtsantritt im Januar 2019 wurde das Waffengesetz immer weiter aufgeweicht. Am 12. Februar dieses Jahres veröffentlichte die Regierung vier neue Dekrete zum Waffenbesitz. Im Interview ordnet Bruno Langeani, der seit 2012 für die Nichtregierungsorganisation Instituto Sou da Paz zu den Themen öffentliche Sicherheit und Gewaltprävention arbeitet, die Neuerungen ein.
Am 12. Februar veröffentlichte die brasilianische Regierung vier neue Dekrete zur Waffengesetzgebung – welche sind die wichtigsten Neuerungen?
Die Erlasse des Präsidenten vereinfachen sowohl den Kauf als auch das Tragen von Waffen. Nach der Gesetzgebung von 2003 dürfen nur Angehörige der Polizei oder des Militärs Waffen tragen, Bürger erhalten dieses Recht nur in Ausnahmefällen, die sie begründen müssen. Mit den neuen Dekreten kehrt Bolsonaro diese Logik um. Jetzt muss die Polizei begründen, warum sie den Bürger*innen das Tragen einer Waffe nicht erlaubt. Sportschützen können jetzt 60 Waffen besitzen, vorher waren es 16. Und auch der Besitz von automatischen Waffen ist jetzt zulässig. Nach Bolsonaros Dekreten gilt ein Waffenschein nicht mehr nur für eine bestimmte, sondern für jede Handfeuerwaffe, die eine Person besitzt und auch die örtliche Begrenzung ist aufgehoben. Mit den jüngsten Änderungen ist ein Waffenschein in ganz Brasilien gültig. Zuvor war außerdem für Gruppen, wie Sportschützen, eindeutig geregelt, dass sie ihre Waffe nur auf direktem Weg von ihrem Zuhause zum Ort der Benutzung mit sich führen dürfen. Das ist jetzt nicht mehr klar geregelt. Zwischen den Zeilen erlaubt Bolsonaro mit dem Erlass das ständige Tragen einer Waffe. Da das offensichtlich der bestehenden Gesetzgebung widerspricht, steht das so ausdrücklich natürlich nirgendwo.
Der Zeitpunkt, zu dem die Dekrete veröffentlicht wurden, spät abends und vor dem verlängerten Karnevalswochenende, scheint nicht zufällig gewählt. Was erhofft sich Bolsonaro davon?
Der Moment der Veröffentlichung wurde bewusst gewählt, weil man weiß, dass die öffentliche Aufmerksamkeit geringer sein wird. Wegen der Pandemie gab es dieses Jahr keinen Straßenkarneval aber die Menschen verreisen dennoch, Journalist*innen arbeiten in Schichten und NGOs gar nicht. Um diese sehr technischen Neuerungen zu analysieren, waren beispielsweise in unserem Team mehrere Personen gleichzeitig und für viele Stunden beschäftigt. Der Zeitpunkt war kein Zufall, er wurde ganz bewusst gewählt.
Viele fürchten auch den zukünftig möglichen Einsatz von „Phantom-Munition“ (munição fantasma). Was hat es damit auf sich?
Bisher registrierte das Militär die Hersteller, Verkäufer und Käufer von Munition sowie die Maschinen zur Herstellung. Munition aus Fabriken erhält einen Code, eine Chargennnummer. So hat der Staat eine gewisse Kontrolle über Produkte, die vor allem im kriminellen Milieu benutzt werden, und es besteht die Möglichkeit der Rückverfolgung. Erlaubt man jedoch die private Herstellung von Munition, hat der Staat keinerlei Information über Hersteller, Verkäufer und Käufer oder die produzierte Menge.
Wer profitiert davon, wenn der Staat hier den Überblick verliert?
Das organisierte Verbrechen und Kriminelle im Allgemeinen. Zum einen, weil bei den endlosen Schusswechseln – wie zum Beispiel in Rio de Janeiro zwischen Drogenkartellen, Polizei und Milizen – die Versorgung mit Munition zukünftig möglich sein wird, ohne weite Lieferwege zurückzulegen. Bei diesen besteht immer das Risiko, von der Polizei gefasst zu werden. Man muss Munition nicht mehr von São Paulo nach Rio de Janeiro transportieren, sondern produziert einfach dort, wo die Munition auch zum Einsatz kommt. Zum anderen führt nicht-registrierte Munition dazu, dass Verbrechen noch seltener aufgeklärt werden können. Das ist bereits ein großes Problem in Brasilien. Man verwandelt einen möglichen Beweis für die Verbrechensaufklärung in etwas, das keine Spuren mehr liefert, weil die Munition schon illegal und ohne Kontrolle hergestellt wurde.
Kriminelle profitieren auch von der gestiegenen Anzahl an Waffen, die eine einzelne Person nun besitzen darf. Eine Person wird rekrutiert und erhält die Erlaubnis, 60 Waffen zu kaufen, die sie danach verteilt. Das wird zu einem Riesenproblem für die öffentliche Sicherheit.
Zwischen 2019 und 2020 ist die Zahl der Sportschützenvereine von 151 auf 1.345 gestiegen. Im vergangenen Jahr wurden rund 180.000 neue Waffen in Brasilien registriert, ein Anstieg von über 90 Prozent zu 2019. Wie erklären Sie sich das?
Besonders auffällig war der Anstieg der Registrierung von Waffen für Zivilisten, die beispielsweise im Schießsport, als Waffensammler oder in der Jagd aktiv sind. Diese Gruppe von Waffenbesitzern ist in Brasilien historisch gesehen immer sehr klein gewesen. Bei uns gibt es im Gegensatz zu anderen Ländern keine ausgeprägte Jagdtradition, nur bestimmte invasive Arten dürfen überhaupt gejagt werden. Da für diese Gruppe die Möglichkeit des Waffenbesitzes aber immer weiter gelockert wurde, wuchs sie sprunghaft an. Inzwischen zählen ungefähr 400.000 Waffenbesitzer zu dieser Gruppe. Die privaten Waffenkäufe nahmen auch in allen anderen Gruppen zu, zum Beispiel bei Personen, die Polizei und Feuerwehr angehören und die vor allem im Norden Brasiliens, aber auch in Rio de Janeiro, einen Großteil der Milizen stellen.
Lassen sich bereits Folgen dieser Entwicklungen erkennen?
Es gibt konkrete Zahlen, dass häusliche Gewalt gegen Frauen gestiegen ist. Da mehr Menschen erlaubt wurde, zu Hause eine Waffe zu lagern, sehen wir hier einen Zusammenhang. Aber diese Entwicklungen sind sehr neu und müssen noch genauer analysiert werden. Gewalt ist ein multikausales Phänomen.
Auffällig ist allerdings, dass die Mordrate in Brasilien während der Pandemie gestiegen ist, obwohl es weniger gewöhnliche Verbrechen, wie Diebstähle und Raubüberfälle, gab. Liegt das daran, dass die Polizei während der Pandemie anderen Aufgaben nachgehen musste? Diese und andere Entwicklungen müssen wir erst genau untersuchen, um zu verstehen, wie es dazu kommt.
Präsident Bolsonaro versprach in seiner Wahlkampagne, dass er die öffentliche Sicherheit in Brasilien verbessern wolle. Wie unterscheidet sich die Politik seiner Regierung von der seiner Vorgänger*innen?
Während der Regierungen von Lula da Silva, Dilma Rousseff und Michel Temer gab es ein gutes Waffengesetz und es haperte an der Umsetzung. Unter Lula passierte viel im Bereich der Gewaltprävention und unter Temer wurde das Einheitliche System für die Öffentliche Sicherheit (Lei da SUSP) geschaffen. Was wir jetzt erleben, ist die Zerstörung eines an sich guten Gesetzes. Was den Bereich der öffentlichen Sicherheit angeht, hat die Regierung Bolsonaro keine Projekte auf den Weg gebracht. Es gibt mit „Vorwärts Brasilien” ein kleines Projekt zur Verringerung der Mordrate in fünf Städten, in denen zusammengenommen drei Prozent der Morde in Brasilien passieren. Nach zwei Jahren befindet sich dieses Projekt immer noch in der Pilotphase. Es gibt diesen Diskurs, dass man hart vorgehen wolle, aber umgesetzt wird nichts. Um wenigstens einen positiven Punkt zu benennen: Bolsonaro hat die personellen Kapazitäten der Bundes- und Verkehrspolizei aufgestockt. Das war dringend nötig.
Welchen Einfluss hat die Liberalisierung des Waffengesetzes unter Bolsonaro auf die Landkonflikte?
Auf dem Land ist es noch schlimmer. Die einzige Änderung, die Bolsonaro bisher durch das Parlament gebracht hat, die also per Gesetz und nicht nur per Dekret festgehalten wurde, besteht darin, dass Landbesitzer ihre Waffe jetzt auf ihrem gesamten Grundstück mit sich führen dürfen und nicht mehr nur in ihrem Haus. Bereits in der Vergangenheit war die Zahl der Ermordungen im Zusammenhang mit Landkonflikten sehr hoch. Jetzt wird es nun noch einfacher: Die Großgrundbesitzer und ihre Angestellten müssen ihre Waffen nicht einmal mehr verstecken.
Eine Umfrage von Datafolha aus dem Jahr 2019 zeigt, dass zwei Drittel der Brasilianer*innen gegen die Liberalisierung des Waffengesetzes sind. Außerdem ist die Zustimmung für den Präsidenten zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 von 41 Prozent auf 33 Prozent gesunken. Warum weicht Bolsonaro ausgerechnet jetzt die Waffengesetzgebung weiter auf?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen zieht sich die Regierung Bolsonaros immer in ihren Komfortbereich zurück, wenn sie in der öffentlichen Meinung schlecht dasteht. So kann sie ihre Basis aktivieren, die zumindest in den Sozialen Medien sehr laut ist. Zum anderen ist der Präsident ein großer Waffenfanatiker. Anfangs begründete Bolsonaro seine Absicht, den Zugang der Bevölkerung zu Waffen zu erleichtern, mit dem Argument, dass die Bevölkerung sich gegen die vielen Kriminellen und die starke Gewalt verteidigen müsste. Seit der Veröffentlichung des Videos der Ministerkonferenz im April 2019 ist klar, dass Bolsonaro andere Absichten verfolgt, die er seither auch immer deutlicher öffentlich ausspricht: Er will die Bevölkerung bewaffnen, damit sie seine persönlichen Feinde angreifen. Seine Rhetorik ist der von Donald Trump sehr ähnlich. In Brasilien verbietet es die Verfassung, bewaffnet an Demonstrationen teilzunehmen. Aber am Ende ist es das, was Bolsonaro will – eine bewaffnete Bevölkerung, die auf die Straße geht. Weltweit war er einer der wenigen Staatschefs, die den Sturm auf das Kapitol in den USA nicht verurteilt haben. Er sprach sogar davon, dass es sein kann, dass in Brasilien bei den nächsten Präsidentschaftswahlen das Gleiche passieren wird.
Wollen Sie damit andeuten, dass Präsident Bolsonaro mit der Lockerung der Waffengesetzgebung bereits jetzt seinen Machterhalt nach 2022 vorbereitet?
Wir denken, er verfolgt aktuell das Ziel, eine Basis aus Unterstützern aufzubauen, die bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Falle einer Niederlage für große Instabilität sorgt, während er gleichzeitig von Wahlbetrug spricht. Bolsonaro hat das bereits öffentlich verkündet. Die Strategie besteht darin, vier Jahre lang den Wahlprozess zu delegitimieren und gleichzeitig diese bewaffnete Basis von Unterstützern aufzubauen. Das ist Teil eines autoritären Projekts, das Brasiliens Demokratie gefährdet. Und zu ersten Vorfällen kam es ja bereits.
Sie beziehen sich vermutlich auf die Demonstration auf der Avenida Paulista in São Paulo letztes Jahr, als ein Anhänger Bolsonaros einer Frau ins Bein schoss?
Das war nur einer von drei Vorfällen. Es gab letztes Jahr im April auch ein Video von Sportschützen, die beim Schießen den Namen des Präsidenten rufen und gleichzeitig den Gouverneur von São Paulo, Joao Doria, beschimpfen. Das geschah kurz bevor Bolsonaro in einer Sitzung forderte, dass sich die bewaffnete Bevölkerung gegen die Maßnahmen wehre, die Doria im Zuge der Pandemiebekämpfung angeordnet hatte. Bolsonaros Sohn teilte das Video in den Sozialen Medien. Der dritte Vorfall war der Angriff auf das Gebäude des Obersten Gerichtshofs in Brasilia. Die Anführerin der Besetzer*innen, Sara Winter, erklärte, dass einige der Teilnehmer*innen bewaffnet an der Besetzung teilnehmen würden. Alle drei Vorfälle sind im Kontext dieser Rhetorik der Gewalt und Bewaffnung zu sehen.
Einige Abgeordnete in beiden Parlamentskammern versuchen gegen die Dekrete vorzugehen und bezeichnen sie als verfassungswidrig. Ist dieser Vorwurf berechtigt?
Es gibt sehr verschiedene Formen der Verfassungswidrigkeit. Eine ist, dass Dekrete ein Gesetz genauer ausführen sollen, es aber nicht konterkarieren dürfen. Das ist aktuell der Fall. Ein Beispiel: Das Waffengesetz verbietet Zivilist*innen das Tragen einer Waffe. Die Dekrete ermöglichen das de facto nun aber für diverse Gruppen. Wenn etwas an den Anforderungen für Zugang zu Waffen geändert wird, müsste das eigentlich durch den Kongress. Wird dieser einfach ausgelassen, überschreitet die Regierung ihre Kompetenzen. Eine weitere ist, dass unsere Verfassung der Polizei die Aufgabe überträgt, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Die Liberalisierung der Gesetzgebung hat das Ziel, dass die Bürger*innen diese Aufgabe selbst übernehmen. Auch schreibt die Verfassung das Recht auf Leben fest, das durch die Liberalisierung ebenfalls gefährdet wird. Zwei weitere Beispiele für die Verletzung der Verfassung. Wir sind überzeugt, dass die Regierung versucht per Dekret die Gesetzgebung zu verändern und damit gegen das Gesetz verstößt.
Wie hat die brasilianische Zivilgesellschaft auf die neuen Dekrete reagiert?
Wegen der Pandemie sind die Leute nicht auf die Straße gegangen und es gab keine Demonstrationen. Im Internet laufen aber einige Kampagnen, um Abgeordnete und Richter dazu zu bewegen die Dekrete zu blockieren.
Haben Sie die Hoffnung, dass sich noch etwas zum Positiven verändern könnte?
Meine einzige Hoffnung ist eine institutionelle Vollbremsung durch den Obersten Gerichtshof. In seinen ersten zwei Jahren im Amt hat Bolsonaro die Waffengesetzgebung bereits mit mehr als 30 Bestimmungen gelockert. Er wird damit in den nächsten zwei Jahren weitermachen, wenn das niemand verhindert. In den 1990er-Jahren ist die Mordrate explodiert, nachdem das Kaufen und Tragen von Waffen erleichtert wurde. Wir brauchen also keine großen Prognosen – wir befinden uns bereits auf dem Weg zurück in eine grauenhafte Zeit.
Wie bewerten Sie die Chancen, dass es zu einer solchen institutionellen Vollbremsung kommt?
Aktuell laufen verschiedene Verfahren am Obersten Gerichtshof, unter anderem zu dem Vorhaben der Regierung, die Einfuhrsteuern für Waffen auf Null zu setzen, aber auch zu den im Februar veröffentlichten Dekreten. Wir erwarten im März einige richtungsweisende Entscheidungen. Anfang des Monats erklärte ein Gericht in São Paulo beispielsweise schon einen Beschluss von April 2020 für nichtig, in dem die erlaubte Munitionsmenge für Waffenscheinbesitzer von 200 auf 600 erhöht wurde. Die Chancen dafür, dass die Regierung auch in anderen Verfahren verliert, stehen momentan nicht schlecht. Dann würden wir zum Zustand des Waffengesetzes von Januar 2019 zurückkehren und wären in der Lage einen Teil des Schadens zu reduzieren.
// Interview: Julia Ganter