Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollen nicht mehr durch das Amnestiegesetz geschützt werden
Seit 1979 gilt in Brasilien das Amnestiegesetz, das die Täter von Menschenrechtsverbrechen vor Strafverfolgung schützt. Nun unternimmt die brasilianische Bundesstaatsanwaltschaft MPF einen neuen Versuch, das Amnestiegesetz aus dem jahre 1979 zu kippen. Dazu argumentiert sie, dass das Amnestiegesetz nicht auf Fälle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit angewendet werden dürfe, die während des Militärregimes (1964-1985) begangen wurden. Diese These hat die Bundesstaatsanwaltschaft vor wenigen Tagen dem Obersten Justizgerichtshof TSE vorgelegt. Der stellvertretende Generalstaatsanwalt der Republik, Mario Bonsaglia, unterzeichnete die Erklärung, in der das MPF argumentiert, dass die in den von Brasilien ratifizierten internationalen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte vorgesehenen Normen Vorrang vor den nationalen Vorschriften - einschliesslich der Verfassung - haben sollten, um sicherzustellen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit ordnungsgemäß untersucht und strafrechtlich verfolgt werden.
Aktueller Anlass ist die unlängts erfolgte Weigerung des Bundeslandesgerichts der 3. Region (TRF3), das die Annahme der Klage gegen einen ehemaligen Agenten der Diktatur und zwei Gerichtsmediziner wegen Beteiligung am Tod der politischen Aktivistin Neide Alves dos Santos verweigerte. Neide Alves dos Santos starb am 7. Januar 1976 im Gewahrsam von Mitgliedern des berüchtigten Folterzentrums DOI-CODI. Die Anklageschrift, die vom Bundeslandesgericht abgwiesen worden war, sieht es als erwiesen an, dass der Kommandeur des Einsatz- und Informationskommandos der II. Armee (DOI-Codi), Audir Santos Maciel, an der Operation beteiligt war, die zur Ergreifung und Ermordung des Opfers führte und beschuldigte diesen des qualifizierten Mordes an Neide Alves dos Santos. Die zugleich wegen Falschaussage angeklagten Mediziner Harry Shibata und Pérsio José Ribeiro Carneiro waren für die Fälschung eines Autopsieberichts verantwortlich, der die wahren Umstände des Todes verschwieg. Das Bundeslandesgericht TRF3 hatte diese Klage zurückgewiesen, da nac wie vor das Amnestiegesetz von 1979 gelte und von daher keine Strafverfolgung des Falles möglich sei.
Das MPF weist nun in der Berufung darauf hin, dass der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte Brasilien im Jahr 2010 während der Verhandlung im Fall der Araguaia-Guerilla dazu verurteilt hat, das Amnestiegesetz nicht mehr anzuwenden. So müsse erreicht werden, dass das Amnestiegesetz nicht länger die Untersuchung von Fällen verhindere, die als schwere Menschenrechtsverletzungen gelten. Die MPF weist außerdem darauf hin, dass Interamerikanische Gerichtshof im Jahr 2018 im Fall des Journalisten Vladimir Herzog (der während der Militärdiktatur inhaftiert, gefoltert und getötet wurde) das Vorliegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit bestätigte und die Auffassung vertrat, dass Instrumente des brasilianischen Rechts, wie das Amnestiegesetz und die Verjährungsfrist, die Verfolgung von Verbrechen nicht länger verhindern dürften. In seiner Stellungnahme vertritt der stellvertretende Generalstaatsanwalt der Republik, Mario Luiz Bonsaglia, die Auffassung, dass der Schutz der Menschenrechte Vorrang haben sollte, wenn Entscheidungen auf internationaler Ebene mit brasilianischen Gesetzen in Konflikt geraten.
Seit 2012 unternehmen Bundesstaatsanwälte in Brasilien vermehrt Versuche, das Amnestiegesetz zu kippen. Um der Täter von damals noch juristisch habhaft zu werden, versuchen Staatsanwälte und Angehörige, das Amnestiegesetz durch einen juristischen Schachzug auszutricksen: Sie argumentieren, da in den Fällen der Verhaftet-Verschwundenen die Opfer nie aufgetaucht seien, halte die Entführung an und ein fortwährendes Verbrechen müsse bestraft werden und falle nicht unter die Bestimmungen des Amnestiegesetzes. Doch bislang wurden diese Versuche von den zuständigen Gerichten bislang stets abgewiesen. 2010 hatte der Oberste Gerichtshof STF das Amnestiegesetz für gültig erklärt, wogegen die Rechtsanwaltskammer aber Berufung einreichte, ein Gerichtsverfahren, das also noch nicht vollkommen abgeschlossen ist. Nur im Zivilrecht war es bisher gelungen, einen Folterer zu verklagen: Die Familie Teles gewann vor Jahren den Zivilprozess gegen ihren Folterer Carlos Alberto Brilhante Ustra letztinstanzlich und erhielt dabei das Recht, den Folterer öffentlich als Folterer bezeichnen zu dürfen.