Das Amazonien der Waldvölker
Globale Erwärmung, Abholzung der Wälder und große Projekte zur Verbesserung der Infrastruktur sind Themen, die Amazonien in der letzten Zeit national und international auf die Tagesordnung gesetzt hat. Aber die Perspektive der Bewohner dieser Region, der Indigenen, der Gummizapfer, der Flussanrainer, der SammlerInnen und weiterer traditioneller Völker – der „Waldvölker“, wie sie sich selber nennen – hat offenbar vonseiten der brasilianischen Gesellschaft und der internationalen Öffentlichkeit noch nicht die ihr zustehende Beachtung gefunden. Aber das muss sich ändern. 20 Jahre nach Gründung der „Aliança dos Povos da Floresta“ (Allianz der Waldvölker) – ein Zusammenschluss von Indigenen und Gummizapfern im Bundesstaat Acre, hervorgegangen aus der von Chico Mendes angeführten Bewegung zur Durchsetzung der Rechte traditioneller Gemeinschaften – haben sich deren Akteure in Brasília zum Zweiten Nationalen Treffen der Waldvölker versammelt. Dieses Treffen hat inzwischen die Debatte und den Kampf um die Rechte dieser Völker auf Bewohner anderer Naturregionen des Landes ausgedehnt, um dadurch seinen Positionen national Nachdruck zu verleihen.
Auf der anderen Seite wurde im Mai dieses Jahres Belém do Pará als Sitz für das nächste Weltsozialforum ausgewählt, das im Dezember 2009 stattfinden soll. Über diese beiden Prozesse hat Adilson Vieira, der Generalsekretär der Arbeitsgruppe Amazonien (GTA), Mitglied des Internationalen Rats des Weltsozialforums und einer der Koordinatoren der drei Panamazonischen Sozialforen (die 2002, 2003 und 2004 stattfanden), mit der Online-Agentur Carta Maior gesprochen. Im Folgenden haben wir die wichtigsten Auszüge aus dem Interview abgedruckt.
Carta Maior: Was hat sich seit dem Ersten Nationalen Treffen der „Waldvölker“, das vor 20 Jahren noch überschattet durch den Mord an Chico Mendes stattfand und auf dem die Aliança dos Povos da Floresta geschaffen wurde, für die traditionellen Gemeinschaften Amazoniens geändert?
Adilson Vieira: Vieles hat sich geändert. In den vergangenen 20 Jahren war der große Fortschritt für die traditionelle Bevölkerung Amazoniens die Eroberung des politischen Raums in der brasilianischen Gesellschaft. Man sollte sich immer daran erinnern, dass noch vor 20 Jahren diese Bevölkerungsgruppen als Bestandteil der brasilianischen Folklore angesehen wurden. Gummizapfer, Indianer und Paranusssammler waren folkloristische Gestalten. Seit dem Ersten Treffen der Waldvölker haben sich diese folkloristischen Gestalten in gesellschaftliche Akteure gewandelt. Heute gibt es eine Reihe von Schutzgebieten zur nachhaltigen Nutzung (reservas extrativistas) und wir haben die Einrichtung von Naturschutzgebieten und Indianerreservaten durchgesetzt, die alle durch Positionierung im brasilianischen politischen Raum erkämpft wurden. Dieses war unser größter Erfolg.
Carta Maior: Trotz der Anerkennung und Berücksichtigung vieler Forderungen der sozialen Bewegungen Amazoniens gibt es im Moment eine große Unzufriedenheit in Bezug auf einige Infrastruktur-Projekte der Regierung in der Region. Wie bewertet die politische Vertretung der Waldvölker dieses Problem?
Adilson Vieira: Aus genau diesem Grund haben wir das zweite Treffen ins Leben gerufen. Beim ersten Treffen hatten wir dieselben Probleme, große Straßenprojekte waren geplant, und Staudämme wie das Wasserkraftwerk Tucuruí. Dies alles geschah auf Bestreben großer, vor allem asiatischer, Holz verarbeitender Betriebe. Aber damals wurden wir relativ wenig beachtet. Heute wird die Diskussion um die großen Bauvorhaben in Amazonien anders geführt. Gegen einige dieser Bauvorhaben haben wir nichts einzuwenden, gegen andere schon. Wir befürworten den Bau der BR-163, der Verbindungsstraße zwischen Santarém und Cuiabá, solange dieser organisiert abläuft und Investitionen in die Region stattfinden – wir sind nicht gegen den Fortschritt Brasiliens. Aber wir wollen an ihm teilhaben. Wir sind zum Beispiel gegen das Wasserkraftwerk am Rio Madeira, auch wenn wir verstehen, dass Brasilien Energie benötigt. Aber statt große Wasserkraftwerke zu bauen, sollte man zuerst daran denken, traditionelle Gemeinschaften der Waldregion, die wie im 18. Jahrhundert leben und keine elektrische Energie besitzen, ins 21. Jahrhundert zu versetzen, und zwar über eine Reihe von alternativen Maßnahmen zur Energiegewinnung auf lokaler Ebene. Viele Kinder aus diesen Bevölkerungsgruppen können nicht geimpft werden, weil es in ihren Siedlungen keine Möglichkeit gibt, den Impfstoff zu kühlen. Diese grundsätzlichen Probleme müssen erst gelöst werden. Ein Programm zur Beschleunigung des brasilianischen Wachstums ist bestimmt interessant, aber wir wollen Teil dieses Wachstums sein. Es reicht nicht aus, lediglich große Bauwerke für das Wirtschaftswachstum in den großen Zentren zu planen, während wir weiterhin in Armut leben. Wir wollen zwei Dinge klar voneinander trennen: Wir sind für den Bau der BR-163, solange die gesamte Bevölkerung davon profitiert. Wasserkraftwerke am Rio Madeira lehnen wir jedoch ab, da deren Bau für uns keinen Nutzen hat.
Carta Maior: Im Moment ist die globale Erwärmung eines der dringlichsten Themen der internationalen Debatte um die Zukunft des Planeten, und es ist erwiesen, dass die Entwaldung für ca. 70% des brasilianischen Anteils an diesem Problem verantwortlich ist. In diesem Zusammenhang stellt die Kontrolle über die Entwaldung Amazoniens eine große Herausforderung für die Regierung und die brasilianische Gesellschaft dar. Wie gehen die im Wald lebenden Bevölkerungsgruppen mit diesem Thema um?
Adilson Vieira: Die Waldvölker, die am wenigsten zur globalen Erwärmung beitragen, sind am stärksten von diesem Problem betroffen. Das hat sich an der Dürrekatastrophe gezeigt, die Amazonien 2005 traf. Die Indigenen und die Flussanwohner, die in ihrem gesamten Leben mit nicht einmal einer Tonne CO2 an der globalen Erwärmung beteiligt sind, waren von der Außenwelt abgeschnitten, ohne Wasser und ohne Transportmöglichkeit. Diese Menschen sind die Opfer eines in den Städten praktizierten Konsummodells. Das muss sich ändern. Wir wollen über eine nationale Maßnahme zum Schutz der Wälder diskutieren. Brasilien muss sich in Richtung einer sehr viel geringeren Abholzungsquote bewegen, trotz der bereits stattgefundenen Verringerung. Wir wollen, dass das Ziel tatsächlich aus einem kompletten Abholzungsstopp besteht. Aber zusätzlich müssen wir mit der Stadtbevölkerung eine Änderung in ihrem Konsumverhalten aushandeln. Es ist für uns Waldbewohner unhaltbar, dass wir unseren Teil erfüllen und die Abholzung einschränken, während die Städter weiterhin in dicken Autos herumkutschieren. Die brasilianischen Städte müssen ebenfalls ihren Teil erfüllen.
Carta Maior: Der Umweltschutz wird zunehmend als fundamentaler Dienst am Planeten angesehen. Wie sehen Sie die Debatte über eine Vergütung für diese Art Dienst?
Adilson Vieira: Dieses ist ein Vorschlag der sozialen Bewegungen Amazoniens. Vor sechs Jahren haben wir z.B. die Schaffung eines so genannten „Pro-Ambiente-Programms“ vorgeschlagen. Hierbei handelt es sich um wirtschaftliche Anreize für Dienstleistungen im Umweltschutzbereich. Ebenso wie Fabrikbesitzer Anreize erhalten, um Alkohol zu produzieren, und eine Anzahl von umweltschädlichen Industrien staatlich subventioniert wird, wollen auch wir für unsere nachhaltige Produktionsweise eine staatliche Vergütung bekommen. Dieses kann in Form eines Rabatts bei Krediten erfolgen oder tatsächlich in Form einer Bezahlung für Umweltdienste. Es kann nicht sein, dass wir, die wir einen so hohen Beitrag zum Umweltschutz leisten, manchmal dadurch in schwierige Situationen geraten und nichts dafür bekommen. Dieser Problematik muss sich die Gesellschaft stellen. Wenn
sie weiterhin ihre Dieselautos mit hohem Schadstoffausstoß benutzen aber gleichzeitig wollen, dass wir die Abholzung des Tropenwaldes einschränken, müssen wir dafür einen Ausgleich in irgendeiner Form erhalten. Wir benötigen irgendeine Form der Vergütung für unseren Dienst.
Carta Maior: Waren die Dringlichkeit der Umweltdebatte und der Visualisierung der von den traditionellen Bevölkerungsgruppen Amazoniens diskutierten Fragen wichtige Faktoren bei der Entscheidung, Belém do Pará als Ort für das nächste Weltsozialforum im Januar 2009 vorzuschlagen?
Adilson Vieira: Die Umweltfrage wird inzwischen von niemandem mehr ignoriert. Aber das Weltsozialforum in Amazonien stattfinden zu lassen, bedeutet, das größte noch erhaltene Tropenwaldgebiet des Planeten und eine multiethnische und multikulturelle Region ins Zentrum der internationalen Debatte zu setzen. Die Völker Amazoniens haben viel beizutragen zum Kampf der sozialen Bewegungen weltweit. Wir können z.B. unsere Erfahrungen mit der Verwaltung von Naturgebieten durch traditionelle Gemeinschaften einbringen. Hierzu gehören die Schutzgebiete für SammlerInnen (Reservas Extrativistas/ Resex) und die Projekte zur nachhaltigen Entwicklung (Projetos de Desenvolvimento Sustentável/ PDSs), beides rein amazonische Erfahrungen, die inzwischen bereits in anderen Regionen Anwendung finden.
Carta Maior: Es fehlen noch fast anderthalb Jahre bis zum Weltsozialforum 2009. Wie wird sich der Mobilisierungsprozess in der Region Amazonien bis dahin fortsetzen?
Adilson Vieira: Wir werden versuchen, auf dem Weltsozialforum der Methode zu folgen, die für das Panamazonische Sozialforum entwickelt wurde, wie z.B. für die Anreise der Teilnehmer Omnibus- und Bootskarawanen zu organisieren. Wir streben eine „partizipative“ Methode an, d.h. wir wollen die Bevölkerungsgruppen, die aus finanziellen Gründen nicht nach Porto Alegre reisen konnten, alle indigenen und anderen traditionellen Gruppen, in großer Anzahl anreisen lassen. Es sollen nicht ein, sondern hundert Tikuna teilnehmen und nicht zwei, sondern zweihundert Yanomami. Die 2009 stattfindende Veranstaltung wird vielen unserer Häuptlinge und Wortführer die Gelegenheit bieten, an einem Weltsozialforum teilzunehmen.