Die Halbzeit der Bolsonaro-Regierung ist erreicht. Das erste Mal lehnt aktuell mehr als die Hälfte der Brasilianer ihren ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro rundheraus ab: "50 bis 60 Prozent der Bevölkerung sind gegen ihn", informiert Annette von Schönfeld, Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro.
Auf der Online-Frühjahrstagung von KoBra spricht sie über "Perspektiven im Kampf gegen ein autoritäres System". Zuvor waren die Umfrageergebnisse dreigeteilt: Ein Drittel war für Jair Bolsonaro, ein Drittel klar gegen ihn, ein Drittel hatte sich nicht positioniert. Doch Bolsonaros "ungeheuerliche" Corona-Strategie in einem maßlos überlasteten Gesundheitssystem und der "skandalöse" Umgang mit Covid-19 kostet den Präsident Zustimmung.
Die Rufe der Bevölkerung nach einem Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro werden lauter. Das Oberste Gericht prüft ein Impeachment. Eine Untersuchungskommission ist einberufen. Dennoch gibt es mit dem neuen Präsidenten der Abgeordnetenkammer Arthur Lira (PP), einem Bolsonaro-Unterstützer, wenig Hoffnung dafür.
Fest steht: Seit der Strafprozess gegen Ex-Präsident Lula da Silva im März annulliert worden ist, hat der Vorwahlkampf begonnen. "Ein Ruck ist durch die Linke gegangen. Auf einmal wurde klar: Bolsonaro ist nicht unbesiegbar". Lula und Bolsonaro seien die führenden Figuren In allen Stimmungsumfragen, sagt von Schönfeld. Bei einem Wahl-Szenario ohne Impeachment hatten geschätzt zwei Drittel "die Nase voll von der Regierung", ein Drittel der Brasilianer steht treu hinter Bolsonaro. "In einem zweiten Wahlgang würde er 30 Prozent der Stimmen bekommen", das ist die Prognose, die von Schönfeld vorstellt. Das Zentrum suche hektisch nach einem Präsidentschafts-Kandidaten.
Der ultrarechte Präsident schränkt die Beteiligungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft zunehmend ein. Menschenrechtsverletzungen häufen sich. "Bolsonaro hat eine Vielzahl von demokratischen Strukturen im Land entwertet", sagt von Schönfeld. Die kritische Zivilgesellschaft sei angeschlagen. Ihr wurde viel Aktionsspielraum genommen: Schwarzenbewegung, Peripheriebewegung, Landlosenbewegung (MST) oder die Obdachlosenbewegung, sie wollen das System kicken, müssen aber sehr kämpfen. "Die MST hat eine Vielzahl von Prozessen zu bewältigen gegen Landbesitzer, die ihr Land zurückwollen", erklärt von Schönfeld.
Unter Bolsonaros Agrar- und Wirtschaftspolitik leiden die Umwelt und die Bevölkerung. 19 Millionen Brasilianer hungern inzwischen. Dagegen seien im Jahr 2020 aus Brasilien elf neue Milliardäre verzeichnet worden."„Es ist unfassbar peinlich, dass ein Land wie Brasilien solche Armutszahlen hat", sagt von Schönfeld.
Zur Covid-19-Situation hakt Tilia Götze von der KoBra-Geschäftsstelle nach, wie es sein kann, dass Privatunternehmen Impfstoff kaufen können, den aber nur zum Teil an die Öffentliche Hand weitergeben müssen. Von Schönfeld erläutert: "Es ist ein Gesetz verabschiedet worden. Wer reich ist in Brasilien kann sich von jetzt an, an der Schlange vorbeimogeln und sich impfen lassen. Das ist erleichtert worden."
Wie sehr Korruption und Bestechung im Impfprozess virulent sind, erklärt sie an zwei Beispielen: In der Stadt Belo Horizonte sei bei Impfungen in den Nadeln ein Fake-Impfstoff gespritzt worden. Es gab den Piks, aber das Anti-Corona Vakzin war nicht enthalten. Teilweise seien Impfstoffe, die für Indigene gedacht waren, bei den Goldgräbern gelandet.
Die Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro beleuchtet die Rolle des Militärs, das in der Bolsonaro-Regierung die Hälfte der Minister stellt, sein Vize ist ein General. "Die Heeresführung steht nicht 100 Prozent hinter Bolsonaro und nicht hinter dem Konzept der Militärdiktatur", meint sie.
Ihr Fazit zum Thema "Keimzellen des Widerstands": Es gibt viele kleine Bewegungen gegen Bolsonaro: "Der Funke für eine große Bewegung ist noch nicht übergesprungen“. Die Bolsonaro-Regierung habe in Brasilien eine große Depression angeschoben. Die Frage ist: Wie kommt man dagegen an? "Es ist nicht nur der verrückte Präsident, es ist das gesellschaftliche Klima, das in den Alltag eingreift, und darüber lastet die Pandemie", so von Schönfeld.
Widerstand formiert sich im brasilianischen Norden, im großen Bundesstaat Pará. Ednilson Rodrigues von der Partei für Sozialismus und Freiheit (Partido Socialismo e Liberdade, PSOL) regiert nun als Bürgermeister die Amazonasmetropole Belém.
Wie in der Region Baixo Tocantins, im Bundesstaat Pará, traditionelle Gemeinschaften und Gemeinden der Situation trotzen, erläutert Jaqueline Felipe dos Santos von der Nichtregierungsorganisation FASE Amazônia.
Die Agraringenieurin und Pädagogin begleitet Frauengruppen von Landarbeiterinnen und fördert Prozesse der politischen Organisierung. Der KoBra-Tagung war sie virtuell aus Belém zugeschaltet. Ihre positive Beobachtung: Durch Corona sei die Solidarität größer geworden. Weil Märkte geschlossen waren, haben Kleinbauern Lebensmittelkisten gepackt und ausgeliefert. Bedürftige bekamen Spenden. "Das hat auch für neue Kontakte und Vernetzungen gesorgt. Wir sind auf dem Weg".
In ihrem Vortrag "Traditionelle Gemeinschaften in Pará: Der Kampf um ein gutes Leben für alle" , informiert die Agraringenieurin, dass drei neue Eisenbahnstrecken durch Para realisiert werden, um Soja aus Mato Grosso und Dende-Öl zu den im Bau befindlichen Exporthäfen zu transportieren: "Pará ist die Kirsche auf dem Kuchen der Umweltzerstörung", drückt sie das Problem aus. Indigene Gemeinschaften, Quilombolas und kleine Ufer-Gemeinden sind bedroht.
Sie wehren sich auch gegen das Eindringen von Bergbauunternehmen auf ihr Territorium mit Kundgebungen, wie der "Marcha das Margaridas". Diese seit dem Jahr 2000 regelmäßig stattfindende Kundgebung von Landarbeiterinnen erinnert an die Ermordung der Gewerkschafterin Margarida Maria Alves.
Einen eindringlichen Appell richtet sie an die internationale Gemeinschaft. "Es ist für uns sehr wichtig, der internationale Druck macht den Unterschied". Nur Länder die das ILO-Abkommen 169 zu den Rechten von Indigenen unterschrieben haben, sollten in Brasilien Produkte kaufen können. Das soll in den Industrieländern gefordert werden. Denn der übergroße Hunger auf Aluminium und auf Erze koste Leben: "Es lohnt sich nicht zu töten, um ein Türschloss aus Aluminium zu besitzen". Die Brasilianerin wendet sich an die deutschen Konsumenten: "Wer kauft soll wissen, ob er Leben oder Tod kauft". Über die KoBra-Tagung sagt sie: "Wir brauchen mehr solcher Events."
Eine Protestbewegung, die sich seit 2013 in den brasilianischen Großstädten verbreitet, ist die Bewegung "Passe livre" für einen kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr. "Diese starke soziale Bewegung, 2005 gegründet, leistet einen großen Beitrag zur Debatte über soziale Ungleichheit in Brasilien", sagt Thais Lamoza. Die Brasilianerin arbeitet bei einem Start-up für die digitale Verkehrswende und hat an der FU Berlin Lateinamerikanistik studiert.
Sie führt aus: "Mobilität ist ein Grundbedürfnis". 2015 wurde der Zugang zu Mobilität in Brasilien als soziales Recht bestätigt. Die Realität sehe aber anders aus. Die Bus- und Metrofahrten seien so teuer, dass Menschen Besuche bei Freunden und Verwandten unterlassen und angeben, sogar medizinische Untersuchungstermine auszulassen. "Wir verstehen gerade erst, wie essenziell dieses System ist. Ein Großteil der Bevölkerung hängt davon ab. Bewegungsfreiheit ist wichtig für ein demokratisches Leben und ein Leben in Würde. Das ist ein politischer Kampf", erklärt Lamoza bei ihrem Vortrag über die Krise des ÖPNV in Brasilien und das Protestpotential kommender Fahrpreiserhöhungen.
Während der Pandemie sind die ÖPNV-Fahrten im Land um 40 Prozent reduziert worden. Seit Januar 2021 ist der Preis für Diesel um 40 Prozent gestiegen. Den meisten Transportunternehmen steht das Wasser bis zum Hals. Preiserhöhungen scheinen unumgänglich, da sich die Transportunternehmen fast vollständig über Ticketpreise finanzieren. Sie bekommen kaum öffentliche Gelder, obwohl sie eine strategische Rolle spielen.
Brasilien erlebt im Moment die stärkste Krise des ÖPNV. Menschen werden entlassen, Linien und Haltestellen gestrichen, die Transportlage verschärft sich.
Die aktuelle Frage lautet: Gibt es einen nennenswerten Widerstand, der zum Sturz von Jair Bolsonaro führen könnte? Lamoza erklärt: "Es gibt genug Gründe für Protest. Es ist möglich, dass dies der letzte Tropfen sein wird, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das Fass ist auf jeden Fall voll.“
Originalbeitrag von Eva von Steinburg bei amerika21: https://amerika21.de/blog/2021/04/250003/stimmen-kobra-fruehjahrstagung-2021