Stichtagsregelung Marco Temporal verstößt gegen internationales Recht
In Brasiliens zweiter Kammer des Nationalkongresses wird der legislative Prozess zur sogenannten Stichtagsregelung des Marco Temporal bislang noch immer als zu behandelnd in den entsprechenden Kommissionen geführt. Dies geschieht dort unter der Vorgangnummer PL 2903. Zuvor war am 30. Mai dieses Jahres der Gesetzentwurf über die Stichtagsregelung Marco Temporal in der Gesetzesinitiative PL 490/07 mit 283 Ja-Stimmen bei 155 Nein-Stimmen in der ersten Kammer des Nationalkongresses, dem Abgeordnetenhaus, verabschiedet worden. Möglich wurde diese erdrückende Mehrheit für den Marco Temporal durch die parteiübergreifende Fraktion der sogenannten „ruralistas“ der FPA (Frente Parlamentar da Agropecuária). Diese FPA stellt 300 der 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus, und in der zweiten Kammer des Nationalkongresses, dem Senat, zählt die FPA nach eigenen Angaben 47 der 81 Senator:innen. Die FPA stellt somit derzeit die mächtigste parteiübergreifende Fraktion im Nationalkongress dar. Und während auch Brasiliens Oberster Gerichtshof sich mit der Verfassungskonformität der Stichtagsregelung Marco Temporal beschäftigt und es dort derzeit bei den abgegebenen Stimmen bislang 2 Gegenstimmen bei einer Dafürstimme eher auf ein Ablehnen der Stichtagsregelung Marco Temporal hinauszulaufen scheint, so schreitet der Nationalkongress, diesmal in Gestalt des Senats, munter weiter voran, um den Marco Temporal legislativ abzusegnen.
Dieses Vorgehen des Senats aber verstößt nach Ansicht des zivilgesellschaftlichen Zusammenschlusses Coletivo RPU Brasil gegen internationales Recht und gegen Brasiliens Verfassung. Denn internationales Recht steht über nationalem Recht, sofern ein Staat sich internationalen Abkommen und Rechtsnormen unterworfen hat. Und im Falle der Stichtagsregelung Marco Temporal ist es so, dass genau diese Regelung im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen von Norwegen im November 2022, während des 4. Zyklus der allgemeinen regelmäßigen Überprüfung, der sich periodisch alle Mitgliedsstaaten unterziehen müssen, kritisiert wurde: "Schließen Sie die noch ausstehenden Landabgrenzungsprozesse ab, verwerfen Sie die Stichtagsregelung Marco Temporal und stellen Sie sicher, dass indigene Völker vor Bedrohungen, Angriffen und Zwangsräumungen geschützt werden." Im Originalwortlaut hieß es unter "150.17 Complete pending land demarcation processes, reject the marco temporal thesis and ensure that Indigenous Peoples are protected from threats, attacks and forced evictions (Norway)".
Brasilien nahm diese Empfehlung während der 52. ordentlichen Sitzung des Menschenrechtsrates in offizieller Anwesenheit des Ständigen Vertreters Brasiliens bei den Vereinten Nationen an. So geschehen auf der Ordentlichen Tagung des UN-Menschenrechtsrates zu Beginn des Jahres 2023. Dadurch habe sich Brasilien auf der Ebene internationalen Rechts dazu verpflichtet, die Stichtagsregelung abzulehnen. Dies erklärte das Coletivo RPU Brasil, hier in der Erklärung auf der Internetseite der RPU Brasil-Mitgliedsorganisation Justiça Global.
Laut dem Coletivo RPU Brasil sei die Senatorin Soraya Thronicke, Berichterstatterin des PL 2903/2023 in der Kommission für Landwirtschaft und Agrarreform, aber weiterhin dabei, den legislativen Prozess in Bezug auf die Stichtagsregelung Marco Temporal als PL 2903/2023 fortzusetzen. Die Senatorin hätte also die Empfehlung des Menschenrechtsrates nicht berücksichtigt, eine Empfehlung, die Brasiliens Regierung Anfang 2023 aber schon rechtskräftig innerhalb des UNO-Menschenrechtssystem akzeptiert hätte, so das Coletivo RPU Brasil. "In Anbetracht dessen fordert das Coletivo RPU Brasil den Nationalkongress und den Obersten Gerichtshof auf, die vom brasilianischen Staat durch die RPU und die Ratifizierung internationaler Menschenrechtsverträge und anderer Instanzen und Mechanismen des UN-Systems und des Interamerikanischen Systems eingegangene Verpflichtung strikt einzuhalten", so das Kollektiv.