Stichtagsregelung "Marco Temporal": Schlichtung und Streit, Beteiligung und Verfassungswidrigkeit

Schlichtungskammer des Obersten Gerichtshofes STF zur Stichtagsregelung "Marco Temporal" verlängert seine Dauer, während der Nationale Beirat für Indigenenpolitik vom STF fordert, das "Marco-Temporal"-Gesetz 14.701 als verfassungswidrig zu erklären.
| von Christian.russau@fdcl.org
Stichtagsregelung "Marco Temporal": Schlichtung und Streit, Beteiligung und Verfassungswidrigkeit
Keine Stichtagsregelung „Marco Temporal“ für indigene Territorien in Brasilien ! Foto: christian russau

Während der am Obersten Gericht Brasiliens STF für die Analyse der Frage der Verfassungskonformität oder -widrigkeit der Stichtagsregelung "Marco Temporal" zuständige Oberste Richter Gilmar Mendes im November bestimmte, dass die beim STF angesiedelte Schlichtungskammer zum Gesetz 14.701 bis Ende Februar kommenden Jahres weitergehen solle, gibt es weitere Kritik am Gesetz 14.701.

Die mächtigste Fraktion in beiden Kammern des brasilianischen Nationalkongresses, die sogenannte Parlamentarische Front der Agrarindustrie FPA, hatte im Oktober 2023 im Hauruck-Verfahren in beiden Kammern des Kongress das Gesetz 14.701 verabschiedet. Dies war eine direkte Reaktion auf die zuvor im September 2023 vom Obersten Gerichtshof erklärte Verfassungswidrigkeit der Stichtagsregelung "Marco Temporal", die durch das Gesetz 14.701 so wieder Rechtsgeltung bekam. Das Gesetz 14.701/2023 regelt die Anerkennung, Abgrenzung, Nutzung und Verwaltung von indigenem Land. Beim „Marco Temporal“ geht es um die Einführung einer Stichtagsregelung, nach der die juristische Anerkennung jedes indigenen Territoriums von dem Nachweis seiner Nutzung am 5. Oktober 1988, also dem Tag der Verkündung der heute gültigen Verfassung Brasiliens, abhängen soll. Die indigene Gemeinschaft oder das indigene Volk, das Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet erhebt, müsse nachweisen, dass sie an besagtem Stichtag auf genau diesem Land gelebt hat oder sich zu diesem Stichtag in einem gerichtlichen Streit um das Land oder in einem direkten Konflikt mit Eindringlingen befunden habe. Für die Indigenen ist klar: So sollen mit einem Handstreich 500 Jahre kolonialer Ausbeutung und Landraub legalisiert werden. Unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht erst 1988!“ versuchen die Zusammenschlüsse der indigenen Völker Brasiliens seit Jahren, auf die Absurdität der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ in Medien und Öffentlichkeit hinzuweisen. (siehe hierzu ausführlich das KoBra-Dossier)

Gegen das Gesetz 14.701 liegen gleich drei in Sachen Stichtagsregelung „Marco Temporal“ zentrale Klageschriften beim STF vor. Dabei handelt es sich um zwei Klagen zur Erklärung der Verfassungswidrigkeit (Ação Direta de Inconstitucionalidade – ADI) und eine zur Erklärung der Verfassungskonformität (Ação Declaratória de Constitucionalidade – ADC). Doch statt diese Verfassungsbeschwerden zur richterlichen Verhandlung zu bringen, hatte der zuständige Oberste Richter Gilmar Mendes eine Schlichtungskammer eingesetzt, die bis Ende 2024 in mehreren Sitzung das Für und Wider zur Stichtagsregelung beraten sollte - unter Beteiligung der "interessierten Seiten", also Vertreter:innen des Agrobusiness und Indigenen.

Ende August aber der erklärte der Dachverband der Indigenen Völker Brasilien – die Articulacao dos Povos Indigenas do Brasil APIB – ihren Austritt aus dieser Schlichtungskammer und forderte deren Auflösung. In einem öffentlichen Brief prangerte APIB "die Gewalt seitens des brasilianischen Staates" und "den Versuch einer erzwungenen Schlichtung" an. Es fehle an Rahmenbedingungen für eine Einigung. Denn die Grundannahme der Schlichtungskammer sei falsch, so die Indigenen: die Territorialrechte der Indigenen sind Grundrechte, die sich aus den Artikeln 231 und 232 der brasilianischen Verfassung ergeben. Folgerichtig könne über Grundrechte nicht verhandelt werden, um einen Kompromiss zu erzielen, der diese Grundrechte beschneide, beschränke. Denn was wäre beispielsweise das Recht auf körperliche Unversehrtheit, wenn es in einer Schlichtungskammer besprochen und verhandelt werde, ob es bei dem Grundrecht körperlicher Unversehrtheit nicht einen Kompromiss geben könnte. Doch die Schlichtungskammer tagte weiter, das Ministerium für Indigene Völker wurde verpflichtet, neue Vertreter:innen der Indigenen in die Schlichtungskammer zu berufen, was den Unmut seitens des aus der Schlichtungskammer ausgetretenen Indigenendachverband APIB nicht gerade milderte. Im November erklärte Gilmar Mendes, dass die Schlichtungskammer nicht wie geplant am 18. Dezember, sondern erst am 28. Februar enden werde.

Währenddessen hat der Nationale Beirat für Indigenenpolitik (Conselho Nacional de Política Indigenista (CNPI)) Anfang Dezember getagt und unter anderem eine Resolution zum "Marco Temporal verfasst. Dies berichtet der Indigenenmissionsrat CIMI. Darin fordern sie den STF auf, das Gesetz 14.701 als verfassungswidrig zu erklären und der Rechtsargumentation der Verfassungsklage von APIB zu folgen. "Dieses Gesetz widerspricht den Artikeln 231 und 232 der Bundesverfassung. Für uns ist dieses Stichtagsregelung ein Völkermord, er zielt darauf ab, die indigenen Völker mit all ihrem Kampf, ihrer Geschichte und ihren Nachkommen zu zerstören und auszulöschen. Sie sind dabei, die indigenen Völker in jeder Hinsicht auszulöschen", beschrieb Dorinha Pankará, Mitglied des CNPI und die die Völker der nordöstlichen Region vertritt, so berichtet CIMI.

Der Nationale Beirat für Indigenenpolitik (Conselho Nacional de Política Indigenista (CNPI)) war unter Bolsonaro aufgelöst worden und ab 2024 durch die Lula-Regierung wieder eingesetzt. Der Rat hat 64 Mitglieder mit je bis zu zwei weiteren Vertreter:innen. 30 Vertreter:innen repräsentieren die indigenen Völker und 30 werden von Ministerien und weiteren Behörden ernannt. Vier weitere sind von indigenen Organisationen, die als gemeinnützig anerkannt sind. Der Nationale Beirat für Indigenenpolitik soll die Politiken der öffentlichen Hand in Bezug auf Indigenenpolitik beraten. Fordernde Rechtswirkung kann der Beirat allerdings nicht entfalten.

// Christian Russau