Reinkarnation in Bombay: Weltsozialforum 2004
Seine vierte Inkarnation hat das Gesicht des Forums verändert: die Zusammensetzung der Teilnehmenden war eine andere, neue Themen kamen hinzu und eine politisierte indische Weise der Organisation schaffte neue Rahmenbedingungen. Ungeklärt bleibt bislang, wie die Übersetzung des Weltsozialforums in weltweite politische Aktionen verbessert werden kann. Aber ist es wirklich dies, was das Herz des Weltsozialforums ausmacht?
Nesco Grounds heißt das knapp 1/4 Quadratkilometer große Gelände einer seit zehn Jahren stillgelegten Turbinenfabrik im Norden von Bombay. Bis etwa Mitte Januar gibt es hier vor allem ein altes Verwaltungsgebäude und sieben riesige Hallen. Doch dann herrscht absolute Betriebsamkeit auf dem Gelände: Hunderte von ArbeiterInnen rammen kahle Baumstämme in die Erde, zurren die Stämme mit Sisal fest, erschaffen Wände und Dächer aus Baumwolle und Jute. Sie verlegen elektrische Leitungen für Licht und Ventilatoren an den hohen Decken und statten den Erdboden der so entstandenen Veranstaltungshallen mit Jutesäcken aus. Danach bestücken sie die Zelte mit Plastikstühlen, Konferenzpodien und Mikrophontechnik. 140 solcher Hallen bieten schlussendlich Raum für die mehr als 1.200 Veranstaltungen des Weltsozialforums. Daneben erstehen mehrere Areale mit insgesamt 160 Essensbuden, und das alte Verwaltungsgebäude der Fabrik verwandelt sich in ein Pressezentrum mit 130 ans Internet angeschlossenen Computern. Das physische Rüstzeug für das IV. Weltsozialforum – es ersteht innerhalb weniger Tage geradezu aus dem Nichts.
Knapp 2.700 Organisationen aus ca. 140 Ländern (Angaben schwankten zwischen 130 und 150) waren auf dem Weltsozialforum vom 16. bis 21. Januar 2004 in Bombay vertreten. Die meisten TeilnehmerInnen kamen aus dem asiatischen Raum: ca. 90 % waren aus Indien, aber auch aus Pakistan, Sri-Lanka, Bangladesh, Süd-Korea, Tibet und Japan waren viele angereist. Aus Europa kamen vor allem FranzösInnen, Deutsche, NorwegerInnen und ItalienerInnen, aus Amerika vorwiegend US-AmerikanerInnen und BrasilianerInnen. Afrika war mit ca. 300 Delegierten erwartungs-gemäß erneut kaum vertreten.
Indische Themen prägten das Weltsozialforum 2004
Bei der Organisation des Forums in Bombay hatten es sich die InderInnen zum Ziel gesetzt, aus den Erfahrungen von Porto Alegre 2003 (KoBra berichtete) zu lernen. So wollten sie vor allem einen reibungslosen Ablauf des Forums gewährleisten. Aber auch inhaltlich-thematisch weiteten sie das Forum aus: Insbesondere die indische Frauenbewegung und die Dalit-Bewegung (Kastenlose, vormals „Unberührbare“), aber auch andere in Indien stark geächtete Gruppen wie Schwule und Lesben oder SexarbeiterInnen, prägten das Gesicht des diesjährigen Weltsozialforums. Neben den bereits bekannten Themen fanden damit Fragen des sozialen Ausschlusses und der Menschenwürde Eingang in die vieldiskutierten Themenbereiche. Besonderes Interesse bei den vielen Podiumsdiskussionen, Workshops und Seminaren galt darüber hinaus dem Welthandel, speziell der Auswertung der WTO-Konferenz in Cancún, Landrechten und Ernährungssicherung sowie den Kampagnen gegen gentechnisch veränderte Produkte und für das Recht auf freien Zugang zu Wasser.
Waren in Porto Alegre vor allem NGO-VertreterInnen und AktivistInnen, hatten in Indien offensichtlich viele Grassroots-Organisationen ihren Mitgliedern die Teilnahme ermöglicht. Dies prägte auch eine weitere Besonderheit des Forums: Auf den Gehwegen der Nesco grounds ereignete sich eine tagelang nicht enden wollende Kette von Demonstrationen der unterschiedlichsten Gruppen, und das Gelände barst schier vor kulturellen Darbietungen und politischen Theaterstücken auf den verschiedenen aufgebauten Bühnen. Nur – jenseits der Nesco grounds war von all dem nichts mehr zu spüren. Die Stadt verschluckte das Großereignis, das auch die indische Presse nur wenig wahrnahm.
Die Organisationsweise bestimmt das Bewußtsein
Zwar ist es auch diesmal nicht gelungen, die VeranstalterInnen mit ähnlichen Themen im Vorfeld zusammen zu führen. Doch Workshops und Seminare erfuhren in diesem Jahr eine deutliche Aufwertung. Das indische Organisationskomittee wollte hierdurch den Austausch unter den Teilnehmenden stärker fördern. Wo die brasilianischen OrganisatorInnen auf dem letztjährigen WSF vor allem Megaveranstaltungen promovierten, während sie die selbstorganisierten Aktivitäten nicht einmal vollständig angekündigt hatten, räumten die indischen VeranstalterInnen den Workshops und Seminaren im Programmheft optisch den selben Raum ein wie den großen, vom WSF organisierten Plenarien. Auch alle Workshops und Seminare fanden zentral auf den Nesco Grounds statt, und das Programmheft war – anders als in Porto Alegre 2003 – diesmal rechtzeitig erhältlich. Auf diese Weise waren die selbstorganisierten Veranstaltungen viel mehr im Blickfeld der Teilnehmenden. Der Starkult, der im letzten Jahr so um sich gegriffen hatte, fiel in Bombay auch deswegen wesentlich geringer aus. Vielleicht auch dies ein Grund für die in diesem Jahr noch lauter als sonst geäußerte Klage der Medien, das Weltsozialforum erziele keine messbaren Ergebnisse. Viele, kleine, selbstorganisierte Veranstaltungen sind natürlich in ihren Ergebnissen wesentlich weniger überschaubar als die großen Auftritte der Stars oder ein immer wieder gefordertes Manifest. Ob dies gleichzeitig weniger Ergebnis bedeutet, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt.
Denn das Weltsozialforum soll in erster Linie den Raum für Organisationen und Bewegungen bieten, sich in selbstorganisierten Veranstaltungen zu vernetzen. Das politische Resultat des WSF besteht gerade in den diversen Aktionen und Netzwerken, die aus den Workshops entstehen. So z.B. das weltweite Netz von Gesundheitsinitiativen, von dem Andreas Wulf (medico international) sich einen Aufschwung der globalen Gesundheitsbewegung erhofft. Oder das Globale Netzwerk für Solidarwirtschaft, das auf dem Weltsozialforum sein Zertifikat lancierte. In der Methode des „open space“ sehen auch die OrganisatorInnen des WSF das Herzstück des Weltsozialforums. Diesen offenen Raum zu unterstützen, ist in diesem Jahr durchaus gelungen.
Das Finanzielle ist politisch!
Als drittes wichtiges Ziel wollte man in Indien vorsichtiger an die Finanzierung des Weltsozialforums heran gehen als in Porto Alegre. Die Finanzierung des IV. Weltsozialforums basierte wesentlich stärker als die vorangegangenen Foren auf Teilnahmebeiträgen. Erstmals waren diese gestaffelt, und zwar nach dem jeweiligen Reichtum des Herkunftslandes, und trugen damit zumindest ein wenig den ungleichen ökonomischen Verhältnissen der TeilnehmerInnen Rechnung.
Den VeranstalterInnen war es wichtig, keine Unterstützung von unternehmenseigenen Stiftungen wie bspw. der Ford Foundation anzunehmen, die noch das WSF 2003 gesponsort hatte. Stiftungen von Unternehmen, die von der Globalisierung profitieren, sollten nicht die Möglichkeit haben, die Autonomie des Treffens zu beeinträchtigen oder sich ans Revers zu heften, eine globalisierungskritische Großveranstaltung zu unterstützen. Auch sollte das Forum diesmal unabhängig von (partei)politischen Organen sein, und von kriegsführenden Regierungsstellen (USA, Großbritannien) lehnten die OrganisatorInnen Unterstützung kategorisch ab. Finanzielle Beiträge durch NGOs, politische Stiftungen oder Hilfswerke hingegen waren willkommen.
Politische Kriterien galten auch für die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Getränken auf dem Gelände. So blieb Pepsi, Coca Cola und großen Nahrungsmittelunternehmen der Weg auf das Gelände verwehrt, und die OrganisatorInnen griffen für das gesamte Forum erfolgreich auf lokale, alternative NahrungsmittelversorgerInnen zurück.
Zusätzlich zu Spenden seiner Mitglieder erwirkte das indische Organisationskomitee finanzielle Unterstützung durch 16 Organisationen – allesamt allerdings aus der westlichen Welt – darunter vom EED und der Heinrich-Böll-Stiftung(1). Das Forum kostete etwa 2,9 Millionen US-Dollar (WSF von Porto Alegre 2003: 4 Mio US-$), von denen bislang 2,6 Millionen gedeckt sind. Immerhin ein geringeres Defizit als im Vorjahr. Für die politisierte Herangehensweise an die Finanzierung des Weltsozialforums mussten die Teilnehmenden allerdings auch einen Nachteil in Kauf nehmen: Das hierdurch geringere Budget schlug sich vor allem auf die Übersetzungen nieder. Die Übersetzungen erfolgten, wenn überhaupt, konsekutiv. In den meisten Fällen war schlicht Englisch die Konferenzsprache, wodurch viele von der Teilnahme ausgeschlossen waren.
Die Konsequenz, mit der das indische Kommittee Globalisierungskritik in die Organisation des Großereignisses übersetzte, soll übrigens Schule machen: Für die Zukunft arbeitet die Finanzkommission des Internationalen Rates des WSF Kriterien für die Annahme von Mitteln aus.
Ein neues Paradigma in Sicht?
Das erste Weltsozialforum vermittelte mit seinem Slogan „Eine andere Welt ist möglich“ nach langer Zeit der Resignation in der weltweiten Linken erstmals wieder die Hoffnung, dass Alternativen zur gegenwärtigen neoliberalen Globalisierung bestehen und auch erkämpft werden können. Mit seinem offenen Ansatz ermöglichte es das Weltsozialforum, die mannigfaltigen Spaltungen zwischen den verschiedensten sozialen Bewegungen zu überwinden. Gemeinsame Handlungsansätze entstanden und im letzten Jahr konnten hieraus erstmals sogar weltumspannende Aktivitäten geboren werden. So war der weltweite Aktionstag gegen den Irak-Krieg am 15. Februar 2003, an dem über 100 Millionen Menschen auf allen Kontinenten auf die Straßen gingen, ein Ergebnis des Europäischen Sozialforums 2002 und des Weltsozialforums 2003.
Nach dieser expansiven Entwicklung des Weltsozialforums innerhalb der letzten drei Jahre zeichneten sich bereits im letzten Jahr in Porto Alegre die Grenzen eines solchen Prozesses ab. Und so herrschte diesmal das Bedürfnis nach einem kritischen Rückblick und einer Evaluierung des Bisherigen im Hinblick auf qualitative Veränderungen vor.
Auf immer mehr Kritik stößt die Intransparenz des Internationalen Rates des Weltsozialforums. Bislang gibt es kein Verfahren, das es ermöglicht, Vorschläge, bspw. aus einzelnen Ländern, in den Internationalen Rat einzubringen. Informationen über die Agenda des Rates sind nur schwer zugänglich. Die Zusammensetzung des Rates folgt keinen Kriterien, sondern er besteht im wesentlichen aus denjenigen, die von Anfang an dabei waren, und hat damit eine stark westliche, genauer gesagt, brasilianisch-französische Schlagseite.
Eine weitere wichtige Diskussion betrifft die Methode des Weltsozialforums. So kritisierte Bernard Cassen (Le monde diplomatique und Attac-France), das Forum beginne sich im Kreise zu drehen. Es müsse ein neues Paradigma definieren, das in klarer Abgrenzung zur neoliberalen Globalisierung stehe, um Beliebigkeit zu vermeiden. Gleichzeitig aber müsse es die Verschiedenheit der Themen und Ansätze sichern, d.h. es darf keine allzu eingrenzenden Vorgaben machen. Es fiel der Begriff „Konsens von Porto Alegre“ im Gegensatz zum Washington Consensus.
Immanuel Wallerstein von der Yale University (USA) konstatierte eine „starke Spannung zwischen dem Konzept des 'open space' und der Sehnsucht nach politischer Wirkung“. Auch andere Mitglieder des Internationalen Rates teilen dieses Unbehagen. „Unsere Herausforderung ist es, das WSF zu einem Akteur mit politischer Schlagkraft zu machen“, drückte einer der Gründer des WSF, Cândido Grzybowski (iBase, Brasilien), die allgemeine Stimmung aus. Boaventura de Souza Santos (Universität von Coímbra, Portugal) schlug für die Zukunft jeweils ein WSF-Referendum unter den Teilnehmenden über verschiedene Aktionen vor, die das WSF dann anstoßen könne. Und Christophe Aguiton (Attac-France) stellte fest: „Wir haben eine Kultur internationaler Solidarität entwickelt, aber uns fehlt es immer noch an Strategien, Kampagnenthemen und Handwerkszeug, um eine andere Welt möglich zu machen“.
Im Großen, ja. Im Kleinen passiert dies längst. Doch besteht der allgemeine Wunsch im Internationalen Rat des WSF und auch von Seiten vieler Teilnehmender, das WSF zukünftig besser und systematischer als Ort zu nutzen, an dem Vereinbarungen für weltweite Aktionen getroffen werden. Dafür soll die Methodologiekommission des Internationalen Rates bis zur nächsten Sitzung im April ein Konzept erarbeiten. Eine Hierarchisierung durch politische Vorgaben aber soll hierbei ausgeschlossen werden, ebenso sollen die selbstorganisierten Aktivitäten und der „open space“ weiterhin das Herz des Weltsozialforums bilden. In diesem Zusammenhang hat die Kommission auch die Aufgabe, die großen Konferenzen zu überdenken, in denen es trotz allem noch sehr um die Selbstdarstellung Einzelner geht.
Größere Aktionen und zukünftige Weltsozialforen
Unzählige Aktivitäten haben die Organisationen auf den verschiedenen Workshops und Seminaren vereinbart. Als Aktion von größerer Reichweite mobilisieren die Bewegungen zum 20. März 2004, dem Jahrestag des Kriegsbeginns gegen den Irak, als Internationalen Aktionstag gegen die Besatzung des Irak. Den Vorschlag von Arundathi Roy, zwei Konzerne „dicht zu machen“, die vom Irak-Krieg profitieren, griffen sie zwar nicht direkt auf. Doch schälte sich auf dem Weltsozialforum die Coca-Cola-Boykott-Kampagne der indischen und kolumbianischen Sozialen Bewegungen als konkrete Aktion heraus. In Kolumbien ist Coca-Cola in Menschenrechtsverletzungen an GewerkschafterInnen der Lebensmittelgewerkschaft SINAL-TRAINAL involviert, während der Wasserverbrauch von Coca-Cola im südindischen Kerala die Wasserversorgung der ansässigen Bevölkerung untergräbt. Für den 02. und 03. April 2004 verabredeten europäische Gewerkschaften und soziale Bewegungen bereits auf dem Europäischen Sozialforum im November 2003 einen Aktionstag für ein soziales Europa, den sie auf dem WSF 2004 noch einmal bestätigten. Die Bewegungen riefen darüber hinaus auch zur Massenmobilisierung am 08. März, dem Internationalen Frauentag, und am 17. April, dem Internationalen Tag der Bauernkämpfe, sowie zur nächsten WTO-Ministerkonferenz nach Hongkong auf.
Die Diskussion innerhalb des Internationalen Rates, das Weltsozialforum zukünftig eher in zweijährigen Rhythmen im Wechsel mit kontinentalen Sozialforen stattfinden zu lassen, ist noch nicht abgeschlossen. Das nächste Weltsozialforum wird 2005 wieder zeitgleich mit dem Weltwirtschaftsforum stattfinden, und zwar erneut in Porto Alegre. Etliche Mitglieder des Internationalen Rates setzen sich dafür ein, das übernächste Weltsozialforum 2006 nach Afrika zu verlegen – allerdings sind die wenigen afrikanischen Delegierten im Internationalen Rat angesichts schwacher afrikanischer sozialer Bewegungen und repressiver Regierungen in vielen afrikani-schen Ländern von dieser Idee nicht recht überzeugt.
Exkurs: Parallelveranstaltungen zum WSF
Meena Menon (Focus on the Global South, New Dehli) vom indischen Organisationskomitee hob hervor, die Organisation des WSF in Indien habe positiv auf die traditionell zersplitterte Landschaft der politischen Organisationen gewirkt. Der Prozess des Weltsozialforums habe mehr als 200 indische Organisationen zusammen geschweisst. Doch ist diese Aussage wohl mit Vorsicht zu genießen: Unweit der Nesco Grounds fand während des Weltsozialforums die Parallelveranstaltung „Peoples Movement Encounter II“ statt. Indische Bauern- und Fischerorganisationen hatten bereits parallel zum indischen Sozialforum in Hyderabad Anfang Januar 2003 ein solches Encounter organisiert. Ebenso gab es gegenüber von Nesco grounds das maoistisch geprägte „Mumbai Resistance 2004“, das sich ebenfalls vom WSF getrennt hatte. Die ParallelveranstalterInnen werfen dem WSF vor allem vor, durch westliche NGOs und Geldgeber dominiert zu sein und Arme durch hohe Teilnehmergebühren und die Dominanz des Englischen auszugrenzen. Ferner sei das WSF durch seine Offenheit verwässert und zu moderat, und bereite daher letztendlich dem Neoliberalismus den Boden.
(1)Die weiteren Unterstützerorganisationen: Action Aid (U.K), Alternatives (Canada), Attac Norge Solidarites (Norwegen), Comite Catholique Contre la Faim e pour le development (CCFE, Frankreich), Christian Aid (U.K.), Development and Peace (Canada), Funders Network on Trade and Globalisation (FNTG, USA), Humanist Institute for Co-operation with Developing Countries (HIVOS, Niederlande), Inter Church Organisation for Development Co-operation (ICCO, Niederlande), Oxfam International, Swedish International Development Co-operation Agency (SIDA, Schweden), Solidago Foundation (USA), Swiss Agency for Development Cooperation (SDC, Schweiz), Tides Foundation (USA), Weltkirchenrat (Schweiz).