Ein Weltsozialforum auf Brasilianisch
Ähnlich dem syrischen, “unter uns gesagt“, was die Einleitung einer möglichst breiten und lang anhaltenden Verbreitung von Gerüchten und Geschichten bedeutet, lieben es die viele BrasilianerInnen, ihre Meinung zu fast allen Themen kundzutun, zu begründen und mit vielen Gesten und Beispielen zu untermalen. Diese brasilianische Eigenheit war sicher nur eine der Herausforderungen auf dem Weltsozialforum für viele NordamerikanerInnen und EuropäerInnen, die aus dem Winter nach Belém bei 35 Grad und 70 Prozent Luftfeuchtigkeit kamen. Im Verlaufe des Forums wurden sowohl bei den meisten EuropäerInnen als auch in der internationalen Presse die Stimmen und Beschwerden über das „chaotische und anarchische“ Weltsozialforum immer lauter. Alle hatten mit verschobenen, verlegten oder nicht-stattfindenden Veranstaltungen zu kämpfen. In einigen Räumen der beiden Universitäten herrschte sauna-ähnliches Klima, in den klimatisierten Räumen konnte jedoch mit Temperaturstürzen um bis zu 20 Grad gerechnet werden. Das führte in wenigen Tagen zu einer erheblichen Dezimierung der TeilnehmerInnenzahl wie auch der Zahl der VeranstalterInnen, die dann mit Grippe im Bett lagen.
Schon alleine die Hin- und vor allem die Rückfahrt zu den beiden Orten war jeden Tag aufs Neue ein Kampf mit dem Ungewissen und eine Herausforderung an die schon arg strapazierte Gleichmut der TeilnehmerInnen. Natürlich hat sich die Stadt Belém und ihre Verwaltung Gedanken über die zusätzlichen 100.000 BesucherInnen gemacht. Belém hat im Alltag ca. 1.000 Busse täglich im Einsatz. Ab dem ersten Tag des Forum gab es dann 1.000 Busse, nur halt dreimal so voll. Auf der einzigen Straße, die zu den Universitäten führt, war ab 6:30 Uhr morgens bis 21:00 Uhr abends Stau, so dass auch die zahlreichen Taxis nicht schneller waren. Taxis ließen freilich mehr Platz für die Mitfahrenden und auch der Ort der Ankunft war einfacher zu bestimmen. Das war in den Bussen bei weitem nicht garantiert, trotz der vielen HelferInnen an der Bushaltestelle. Diese führten eigentlich nur zu einer weiteren Verwirrung, da die Auskünfte doch recht unterschiedlich waren. Mir passierte es, dass ich gebeten wurde, an der einen Haltestelle eine halbe Stunde auf einen Bus in die Richtung meines Orientationspunktes Shopping-Center Iguatemi zu warten. Als der Bus dann kam, war der Busfahrer aber ganz anderer Meinung und so fuhr er ohne mich. Nach einer weiteren halben Stunde fuhr ich dann eigensinnig mit dem Bus, auf dem Iguatemi stand. Ich konnte das Haus dann auch über 40 Minuten lang immer wieder von Ferne sehen, während die Kreise, die der Bus zog, anstatt enger zu werden immer weiter wurden. Gerade, als ich in einer mir völlig unbekannten Gegend aussteigen wollte, sagte der Fahrer, dass es nun nur noch 15 Minuten dauern würde, bis wir am Iguatemi ankämen. Was dann auch stimmte. Und so kam ich mit nur zweistündiger Verspätung an, was eigentlich gar nicht schlecht ist. Diese und andere Kleinigkeiten wie tropische Regengüsse haben sicher einige BesucherInnen überfordert.
Doch ist die Frage, ob das die Enttäuschung und Polemik, mit dem dieses erste in Amazonien stattfindende Forum bedacht wurde, rechtfertigt. Einige sprechen nun dem Forum sogar seine Existenzberechtigung ab. Die Enttäuschung über eine mangelnde inhaltliche Auseinandersetzung mit globalen Themen entspringt aus meiner Sicht eher einer gekränkten Eitelkeit der EuropäerInnen und NordamerikanerInnen, die dieses Mal nicht im Mittelpunkt der Veranstaltungen standen. Denn wenn viele indigene Gemeinden und afrobrasilianische Gruppen sich zusammengetan haben und zum Teil bis zu fünf Tage lang mit dem Bus unterwegs waren, um aus Acre, aus Rodônia und aus anderen Bundesstaaten nach Belém zu kommen, wenn diese Menschen an den Diskussionen bei unerträglicher Hitze nach mehr als drei Stunden noch immer aktiv teilnehmen, dann haben zumindest sie doch anscheinend gute Gründe dafür und eine sehr hohe Motivation.
Dieses Weltsozialforum war bestimmt von den Menschen aus dem Amazonasgebiet und ihren UnterstützerInnen. Theoretische Diskurse war schwer zu finden. Die Zelte, in denen die 2005 in Anapu ermordete Missionarin Dorothy Mae Stang besungen wurde, waren immer voll. In jedem freien Raum fanden Treffen statt, in denen verschiedene Gruppen sich versammelten, Strategien überlegten und ihre Netzwerke vertieften. Die Themen waren zu großen Teilen regional verankert. Veranstaltungen zu Sojaplantagen in Santarém und zu dem illegalen Hafen von Cargill platzten aus allen Nähten. Die Veranstaltungen zu den Staudämmen von Belo Monte und anderen Großprojekten gerieten mehr zu Demonstrationen von Wut und Ärger der Menschen über den Umgang mit ihrem Land. Neue Informationen gab es wenige, die geballte Wut war jedoch überall spürbar- über die weltweite neoliberale Entwicklung, über den brasilianischen Staat, der nie da ist, wo er gebraucht wird, über die internationalen Firmen, die die Ressourcen im Amazonasgebiet als die ihrigen ansehen. Die BewohnerInnen des Amazonasgebietes wollen Verantwortung für ihr Land, für ihren Wald übernehmen -wenn man sie nur lassen würde. So kam es auch, dass die Veranstaltung von Naomi Klein und Nhoam Chomsky zwar im Programm angekündigt, aber dann unauffindbar war. Waren diese Sterne der Globalisierungsbewegung tatsächlich da? Es schien nicht wirklich wichtig. Hingegen war die Veranstaltung von Leonardo Boff und der Ex-Umweltministerin Marina Silva bis über den letzten Platz hinaus besetzt ,und als der Regen begann, drängten sich außerhalb des Zeltes unter jedem Regenschirm drei Menschen. Die Aussagen der beiden brasilianischen Berühmtheiten waren nicht neu, unsere Erde muss geschützt werden, die akute Krise ist eine Chance zum Wandel. Es war nicht wichtig, was gesagt wird, es war wichtig, wer es sagt. Unterstützung für und Anerkennung des Kampfes der Menschen aus Pará, Amazonas, Tocantins, Acre und den anderen brasilianischen Bundesstaaten war viel wichtiger, das wurde mit minutenlangem Applaus honoriert.
Dieses Weltsozialforum war vielleicht von außen betrachtet "chaotisch und anarchisch", doch die jetzt schon gut organisierten Bewegungen des Amazonasgebietes haben meines Erachtens in Belém noch einen Schritt vorwärts gemacht. Die steigende Präsenz von „Gegenveranstaltungen“ u.a. von Gewerkschaften wie CUT, die stark kritisierte Projekte wie Belo Monte und Itaipu beim WSF verteidigt haben, deutet auf eine steigende Vorsicht und Beobachtung der sozialen Bewegungen in Amazonien hin. Die zunehmende Kriminalisierung von Bewegungen, welche oft Thema in den Veranstaltungen war, passt gut in diese Entwicklung. Die Aufmerksamkeit in Brasilien und auch weltweit hat den sozialen Bewegungen in dieser Woche neuen Auftrieb und Motivation gegeben. Die Zahl der brasilianischen BesucherInnen machte deutlich, dass es einen großen Bedarf an Vernetzung und Unterstützung gibt. Das sollten die europäischen Organisationen anerkennen und unterstützen. Denn wer letztendlich sein oder ihr Land rettet oder verliert sind die BewohnerInnen des Amazonas. Mehr Bescheidenheit und Weitsicht würde – unter uns gesagt – den nordischen BesucherInnen ganz gut tun.