São Paulo: Bewaffnet mit Essig, Verbandszeug und schwarzem Hoodie, mit Papier, Stift und Slip
Am 4. September 2016 kam es in São Paulo zu einer Großdemonstration gegen die Regierung von Präsident Michel Temer. 18 junge Leute hatten sich wenige Kilometer vom Ort der Demonstration getroffen und wollten sich zusammen auf den Weg zum Sammelpunkt machen. Sie wurden präventiv verhaftet und ihnen wurde vorgeworfen, gemeinschaftlich eine kriminelle Vereinigung zur Begehung von Straftaten gegründet zu haben. Nun startete in São Paulo der Prozess. Bei den Rechtsanwälten der Angeklagten bestehen massive Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens.
Von Daisy Ribeiro und Christian Russau
Die Rechtsanwälte von sieben der 18 Beschuldigten reichten am 2. Oktober dieses Jahres beim deutschem Konsulat in São Paulo eine Petition ein, da unter den beschuldigten Personen auch eine deutsche Staatsbürgerin ist. Die jungen Leute, darunter drei zum Tatzeitpunkt noch Minderjährige, müssen sich vor Gericht des Vorwurfs erwehren, sich im September 2016 auf dem Weg zu einer Demonstration gegen die Regierung von Michel Temer als „kriminelle Bande“ zum Zwecke der Sachbeschädigung öffentlichen Eigentums und des geplanten Angriffs auf Militärpolizisten zusammengefunden zu haben und dazu auch Minderjährige angestiftet zu haben. Die Beweise sind: ein Feuerlöscher, schwarze Kleidung und schwarze Hoodies, Essig und Verbandszeug, Papier und Stift sowie ein frischer Ersatz-Slip in der Tasche. Der Hauptbelastungszeuge ist ein eingeschleuster V-Mann der Militärpolizei, der Teil der Gruppe war. Der ist aber mittlerweile nach Manaus in Amazonien versetzt worden und scheint dem Prozess nicht zur Verfügung zu stehen.
Die Anwälte von sieben der 18 Angeklagten, Daniel Luiz Passos Biral, Hugo Thomas de Araújo Albuquerque, Rodrigo Ferlin Saccomani dos Reis und Tarsila Viana de Morais, wollen mit ihrer Eingabe beim deutschen Generalkonsulat erreichen, dass die Auslandsvertretung der Bundesrepublik Deutschlands sich zur rechtskonsularischen Begleitung des Falles der deutschen Staatsbürgerin Amanda M. Bereit erkläre. Zudem wollen sie ein Treffen mit dem Konsulat anberaumen, um dieses dazu zu bewegen, das deutsche Außen- und Justizministerium über den Fall in Kenntnis zu setzen. Die Anwälte befürchten, dass Amanda M.s Grundrechtfreiheiten „durch das Rechtsgebaren des brasilianischen Staates missachtet“ würden. In der Eingabe beim deutschen Konsulat erklären die Anwälte, Amanda M. sei „im Rahmen einer gemeinschaftlichen Aktion der Streitkräfte, in Form eines eingeschleusten V-Mannes des Heeres, sowie der Zivil- und Militärpolizei“ verhaftet und beschuldigt worden, Straftaten im Sinne krimineller Bandenbildung geplant zu haben. Die Anklage erfolge laut Ansicht der Anwälte „ohne jedwede Indizien oder Beweise, die dieses belegen“ würden. Die protokollarische Rechtseingabe der Anwälte beim Konsulat in São Paulo sieht angesichts des Mangels an Beweisen in dem angestrengten Prozess bei Gericht eine „politische Verfolgung“ der Beschuldigten, die lediglich ihr rechtsstaatliches Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit wahrgenommen haben. Der Prozess gegen die Beschuldigten müsse daher aus rechtsstaatlichen Gründen umgehend eingestellt werden, was aber laut Ansicht der Anwälte nur auf öffentlichen Druck der Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft erfolgen könne. Da Brasilien, das erst 1985 nach einer 21-jährigen Militärdiktatur zu einer Demokratie wurde, sich selbst qua seiner Verfassung zwar als „demokratischen Rechtsstaat“ sehe, dessen Rechtspraxis sich in diesem Fall aber letztlich als offenkundig politisch motiviert darstelle, wenn der Angeklagten Amanda M., die die deutsche und die brasilianische Staatsbürgerschaft besitzt, und den weiteren 17 Beschuldigten „ihre Grundrechte aberkannt“ werden und sie dergestalt „zu Opfern eines willkürlichen Gerichtsprozesses“ würden, so müsse auf internationaler Ebene der Druck auf Brasilien erhöht werden, so die Anwälte.
Am 4. September 2016 kam es im Zentrum von São Paulo zu einer Großdemonstration gegen die Regierung von Präsident Michel Temer, die einen Monat zuvor durch den parlamentarischen Putsch gegen die gewählte Regierung von Dilma Rousseff in Brasília an die Macht gekommen war. Vor Beginn der Demonstration auf der zentral gelegenen Avenida Paulista hatten sich die 18 Beschuldigten, die sich nicht alle persönlich kannten, wenige Kilometer vom Versammlungsort der Demonstration zusammengefunden, um gemeinsam zur Demonstration zu gehen. Dort wurden sie von Polizisten verdachtsabhängig untersucht und – präventiv, da noch gar kein Delikt begangen worden war – verhaftet. Motiv für die Festnahme: Fotoapparate und Kameras, Handys, ein Feuerlöscher, schwarze Kleidung und schwarze Hoodies, Essig und Verbandszeug, Haargummis, Papier und Stift sowie ein frischer Ersatz-Slip in der Tasche. Vermummung gilt in Brasilien seit den Demonstrationen im Vorfeld der WM 2014 als potentieller Straftatbestand. Die Polizei wirft einem der Beschuldigten vor, in einer Tasche eine Eisenstange bei sich gehabt zu haben, um – so die Anklageschrift – „damit Polizisten körperliche Schäden zuzufügen“. Dies bestreiten die Beschuldigten. Laut Verlautbarung der Rechtsanwälte wurde die Eisenstange von Polizeikräften in die Tasche gelegt, um sie sogleich als Beweismittel sicherstellen zu können, was in Brasilien nicht selten vorkommt. Auf der Polizeiwache wurde den Beschuldigten kein Kontakt zu ihren Anwälten vermittelt. Am Folgetag schritt dann ein Richter ein und erklärte die Verhaftung für illegal, und die Beschuldigten wurden auf freien Fuß gesetzt.
Aber es gab diesen durchaus interessanten Bericht des in der Wache zuständigen Polizeikommandanten. In diesem beklagt er unter anderem allgemein die „Krawalle“ der Demonstrationen der jüngeren Vergangenheit: „Leider sind wir Zeuge eines wahrhaft starken Anstiegs dieser barbarischen Akte, die in schwindelerregenden Maße sich häufen, die uns davon überzeugen, dass eine Minderheit von BANDITEN UND VERBRECHERN [Hervorhebung im Original, Anm.d.A.] sich des Moments bedienen, um diese barbarischen Akte durchzuführen und – sich dabei unter dem Vorwand des Rechtes der Demonstrationsfreiheit berufend – Krawall, Unordnung, Aggressionen und Vandalismus erzeugen. Wir müssen dieser Kultur des ‚Alles geht‘ ein Ende bereiten!“, fordert der Polizeikommandant der Wache emphatisch in seinem Bericht. Dieser Bericht landete bei der Staatsanwaltschaft, die daraufhin die Klage gegen die 18 Beschuldigten anstrengte, deren Prozess nun in São Paulo verhandelt wird.
Bei dem Zusammentreffen der jungen Leute wenige Stunden vor Beginn der Demonstration war auch Willian Pina Botelho zugegen, ein Militärangehöriger im Hauptmannsrang, der sich unter dem Decknamen Balta Nunes als V-Mann in die Gruppe der Anti-Temer-Demonstranten eingeschlichen hatte. Laut dem Rechtsverteidiger von sieben der insgesamt 18 Beschuldigten, Hugo Albuquerque, habe der vom Militär eingeschleuste V-Mann versucht, die anderen, darunter die Minderjährigen, verbal zu Straftaten anzustiften. Dies erklärte Albuquerque auf der Sitzung des Menschenrechtsausschuss in einer Anhörung der Stadtverordnetenversammlung von São Paulo 15. September dieses Jahres. Es kam gleichwohl zu gar keiner Ausübung von Straftaten. Die Verhaftung der Betroffenen wurde laut Sicht der Polizei präventiv durchgeführt. Die Beweislage gegen die Beschuldigten stützt sich auf die Mutmaßung des V-Manns vom Militär, dass die Angeklagten sich zur Begehung der Straftaten verabredeten. Laut Artikel 288 des Brasilianischen Strafrechts könnte eine Ansammlung von drei und mehr Personen, die sich bewaffnet und unter Einbeziehung von Minderjährigen zur Begehung von gemeinschaftlichen also zu bandenmäßigen Straftaten verabredet, addiert man die von der Staatsanwaltschaft zusammengezählten Delikte, mit insgesamt bis zu 15 Jahren bestraft werden.
Laut Verteidiger Hugo Albuquerque ist die ganze Anklage nicht fundiert und entbehre jeglicher Fakten, vielmehr stütze sie sich auf die Mutmaßungen des eingeschleusten V-Mannes, der obendrein verbal versucht habe, die jungen Leute zu eben diesen Straftaten, die dann nie begangen wurden, anzustiften. Merkwürdigerweise tauchen Pina Botelhos Aussagen in der Anklageschrift gar nicht auf. So als sei er als Phantom zu behandeln, den das Militär nicht gerne eingestehen mag. Denn es bleibt obendrein die Frage, wie es sein kann, dass in Friedenszeiten ein Militärangehöriger im Inland gegen unbewaffnete Bürger als V-Mann vorgeht, fragt Anwalt Albuquerque. Für die Anwälte ist die Sache klar: Dieser Vorgang des Einsatzes eines Militärangehörigen gegen Bürger im Inland in Friedenszeiten bedarf einer Untersuchung auf Bundesebene.
Zu dem nun in São Paulo begonnenen Prozess und dem Vorwurf der bandenmäßig geplanten Absicht zur Begehung einer Straftat hat Anwalt Albuquerque auch seine klare Meinung: „Es wirkt wie bei dem Hollywood-Schinken ‚Minority-Report‘, nur dass ihnen die Technologie zur Vorhersage der zukünftigen Straftaten fehlt“, so Albuquerque. Ein illegal sich im Vorfeld einer Demonstration unter Bürger einschleichender, dem Militär angehöriger V-Mann stiftet demnach unbescholtene Bürger zu Straftaten an, behauptet hinterher, er sei sich sicher, dass die Absicht zur Begehung der Straftaten bei allen gegeben gewesen sei – und verschwindet dann hinterher, so dass er dem Gerichtsprozess nicht mehr zur Verfügung steht. Denn der eingeschleuste V-Mann Willian Pina Botelho ist vom Heer mittlerweile nach Manaus versetzt worden. Anwalt Albuquerque fordert dessen Aussage vor Gericht, und sei es per Videokonferenz. Aber Willian Pina Botelho vulgo Balta Nunes bleibt verschollen in den für zivile Gerichtsbarkeit in Brasilien so oft unerreichbaren Mäanderungen der militärischen Gerichtsbarkeit des Heeres. Zwar hat das Oberheereskommando mittlerweile auf Druck der Anwälte und der Medien eingestanden, dass es eine gemeinsame Operation von Polizei und Streitkräften im Zuge der Demonstrationen gab, aber der mitverantwortliche Sekretär für Öffentliche Sicherheit von São Paulo weigert sich bis heute, sich diesbezüglich überhaupt zu äußern.
Albuquerque und seine Rechtsanwaltskollegen sind sich sicher, dass dieser Prozess eingestellt werden wird. Aus Mangel an Beweisen, aus Mangel an Zeugenaussagen sowie aus Mangel an Konsistenz. „Ich sehe einfach keine strafbare Handlung, wenn eine Frau in ihrer Tasche ein Blatt Papier, einen Stift und einen Slip dabei hat“, erklärte der Anwalt Thiago Rocchetti einer der Beschuldigten gegenüber Medien. „Ich habe gegrübelt und gegrübelt, aber ich finde darin einfach keine strafbare Handlung“, so Rocchetti.
Die Staatsanwälte jedoch, dies legt die Aufnahme des Prozesses nahe, scheinen der wacklig anmutenden Anklageschrift und mutmaßlich zurechtgestutzten Beweismittellage und -aufnahme hinreichend zu trauen, um den Prozess fortzusetzen. Die zuständige Richterin scheint aber den vorgelegten beweismitteln Vertrauen zu schenken. Laut Rocchetti, so der Anwalt gegenüber der Presse, erklärte die Richterin, sie sehe den Anfangsverdacht gegeben, da die Beschuldigten ja alle schwarz gekleidet waren. „Auch ich bin schwarz gekleidet“, so der Anwalt trocken. „ich sehe darin kein Verbrechen, schon gar keines, das im brasilianischen Strafgesetzbuch als Delikt beschrieben wäre.“
Der Prozess legt noch etwas nahe: Dass die Rechtsanwälte der Beschuldigten durchaus Recht mit ihrer Vermutung haben könnten, dass dieser Prozess politisch motiviert ist. Kein gutes Zeichen für Brasiliens Rechtsstaat, vor allem wenn man sich beispielsweise an den Fall des Obdachlosen Rafael Braga erinnert, der im Juni 2013, wie immer Recyclingmaterial sammelnd, durch die Straßen von Rio de Janeiro zog, dabei in die Nähe einer Demonstration und dort in eine Polizeikontrolle geriet und die Polizisten ihm das Tragen explosiven Materials vorwarfen. Diese Material war: Reinigungsmittel. Verurteilt wurde Braga zu fünf Jahren und zehn Monaten Gefängnis, vor Kurzem wurde er unter Auflagen aus der Haft entlassen.