Prüfverfahren der Vereinten Nationen zu Menschenrechten (UPR): Brasilianische Koalition in Genf
Das Coletivo RPU Brasil (Kollektiv UPR Brasilien) ist eine Koalition aus 31 Einzelpersonen, Netzwerken und Kollektiven aus der brasilianischen Zivilgesellschaft. Seit ihrer Gründung im Jahr 2017 beobachtet die Koalition die Menschenrechtslage in Brasilien im Rahmen des Mechanismus des Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren der Vereinten Nationen (Universal Periodic Review, UPR). In diesem Prüfverfahren, an dem alle 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen teilnehmen, wird die Menschenrechtslage in den einzelnen Ländern in speziellen Sitzungen diskutiert. Bei diesen Versammlungen, die am Sitz der Vereinten Nationen in Genf (Schweiz) stattfinden, werden besonders dringende Menschenrechtsfragen erörtert, Möglichkeiten für Präventionsarbeit sowie die beste Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen in den einzelnen Ländern herausgearbeitet. Jedem Land wird dabei eine bestimmte Zeit in einer Sitzung zugeteilt. Bis alle Staaten an der Reihe waren, vergehen viereinhalb Jahre, was als ein Zyklus bezeichnet wird. Bei der letzten Sitzung für Brasilien im Jahr 2017, erhielt die Regierung 246 Empfehlungen von den Mitgliedsländern, die in einem 41-seitigen Dokument aufgeführt sind. Doch viereinhalb Jahre später (wir befinden uns nun am Ende des dritten Zyklus) hat die brasilianische Regierung mehr als 80% der Vorschläge nicht umgesetzt, viele weitere nur teilweise. Lediglich 0,4% (eine einzige Empfehlung) gelten als vollständig erfüllt.
Vom 29. August bis zum 2. September war eine Delegation des Coletivo RPU in Genf, um an der von UPR-Info organisierten „Pre-Session“ teilzunehmen. Gleichzeitig nutzten sie die Gelegenheit, eine Reihe von Sichtbarkeits- und Advocacy-Aktivitäten bei den diplomatischen Delegationen der Länder durchzuführen. Es war auch eine Möglichkeit, der internationalen Gemeinschaft die Gewalt und die Menschenrechtsverletzungen vor Augen zu führen, die sie in den letzten Jahren in Brasilien erlebt haben. In diesem Sinne veranstalteten sie das „International Seminar – Setbacks in Democracy and Human Rights in Brazil: Settings and Perspectives“ (Rückschritte bei Demokratie und Menschenrechten in Brasilien: Hintergrund und Perspektiven). Ziel des Seminars war es, die internationale Gemeinschaft über die brasilianische Realität zu informieren und diese anzuprangern, sowie Synergien für die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte im Land zu schaffen.
Das Seminar war in kurze Vorträge von sieben Vertreter*innen verschiedener Organisationen des Kollektivs gegliedert und wurde von Alessandra Nilo (Gestos/Repertório da Luz) und Paulo Carbonari (Movimento Nacional de Direitos Humanos) moderiert. Von Themen wie Gesundheit über Bildung zu Rechten von LGBTQ+-Personen, der gemeinsame Nenner war: Die Regierung unter Präsident Bolsonaro habe nicht die geringsten Anstrengungen unternommen, die empfohlenen Maßnahmen umzusetzen. Wie Antonio Neto (Justiça Global), einer der sieben Vertreter*innen der Delegation, erklärte, kann man selbst die 17%der teilweise erreichten Empfehlungen kaum als Errungenschaft werten. Im Bereich der Strafjustiz zum Beispiel wurden beispielsweise 43 Empfehlungen verfasst, davon haben sich 40 rückschrittig entwickelt (sind nun schlechter als im vorherigen Zyklus) und drei Empfehlungen wurden teilweise umgesetzt. Eine davon ist zum Beispiel Empfehlung 136.59: „Verstärkung der Maßnahmen zur Verhinderung von Missbrauch durch einige Polizeibeamte, u.a. durch entsprechende Menschenrechtsschulungen“. Neto erklärte, dass dies als teilweise erreicht gelte, da die offiziellen Morde an Zivilist*innen durch Polizeibeamte zwar zurückgegangen seien, dafür aber immer mehr Menschen zum Beispiel in Rio de Janeiro als vermisst gelten. Hier wird ein Strategiewechsel von Polizeimorden zu der Praxis des "Verschwindenlassens" vermutet.
Fernando Pigatto, Präsident des nationalen Gesundheitsrates, hielt eine flammende Rede zur Verteidigung des Nationalen Gesundheitssystems SUS und kritisierte die Corona-Politik der aktuellen Regierung aufs Schärfste. Seit Beginn der Pandemie hat der Nationale Gesundheitsrat (CNS) im Durchschnitt alle drei Tage eine öffentliche Stellungnahme abgegeben. Pigatto bekräftigte, dass die Zahl der Menschen, die im Land durch die Krankheit ums Leben gekommen sind, hätte verringert werden können, wenn die Bundesregierung den Empfehlungen der Vereinten Nationen und von Einrichtungen wie dem CNS selbst gefolgt wäre. Er beendete seine Rede mit der Aussage: „Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit ist das volle Recht auf Leben“.
Die Vertreter*innen verwiesen auch auf die zunehmende Militarisierung der Schulen, die laut Andressa Pellanda, Koordinatorin der Nationalen Kampagne für das Recht auf Bildung, als Orte des „kulturellen Krieges“ missbraucht werden. Erileide Guarani Kaiowá der indigenen Gemeinschaft der Guarani Kaiowá sprach davon, dass die Demarkation indigenen Landes die grundlegendste Bedingung für die Garantie indigener Rechte sei, während in den vier Jahren unter Bolsonaros Regierung kein Zentimeter Land demarkiert wurde. Weitere angesprochene Themen waren der strukturelle Rassismus, das ungleiche Bildungssystem, naturalisierte Gewalt gegen Indigene, Menschenrechtsverletzungen an LGBTQ+-Personen, die hohe Gefängnisrate Schwarzer Trans-Frauen, und viele mehr.
Mariah Rafaela Cordeiro Gonzaga da Silva der Grupo Conexão G de Cidadania LGBT de Favelas (Gruppe der LGBT-Bevölkerung der Favelas) mahnte am Ende ihrer Rede, dass wir uns nicht vertun sollten und internationale Organismen wie die UPR oder UNO generell als „die Rettung“ anzusehen. Die wahren Kämpfer*innen seien all die Aktivist*innen der vielfältigen sozialen Bewegungen Brasiliens, die Tag für Tag ihr Leben für die Demokratie und Rechte aller Menschen aufs Spiel setzen. Denn wie Erileide am Ende zusammenfasste: „a luta é uma só“. Der Kampf der Einen ist der Kampf Aller.