Privatisierung der Küstenzonen: Noch eine weitere freie Bahn für private Großprojekte
Von Christian Russau
In Brasilien geht ein Gespenst um, das derzeit viel Wirbel macht. Aus gutem Grund, zwar nicht in erster Linie dem in den auch sozial genannten Medien meist Kolportiertem zufolge (der sogenannten Privatisierung der Strände), sondern der Privatisierung der zwischen Strand und sogenanntem Hinterland befindlichen Küstenzone (was aber natürlich den Zugang, infolgedessen auch die Privatisierung und den Bestand der Strände beträfe). Es geht dabei nicht nur um die Küstenzone der Meeresstrände, sondern alle Gebiete, die in Brasilien als Flächen der Bundesmarine - terrenos de marinha - gelten, also alle Meeresküstenzonen, Fluss- sowie unzählige Seengebiete.
2011 wurde eine Verfassungsänderung im brasilianischen Abgeordnetenhaus eingereicht und dort unter der Nummer PEC 39/2011 jahrelang verhandelt, bevor sie im stark rechts dominierten Abgeordnetenhaus am 22. Februar 2022 verabschiedet und an den ebenfalls deutlich rechts dominierten Senat verwiesen wurde. Die Regierung Lula hat beim Prozedere der Verfassungsänderung kein Vetorecht, wie das Onlineportal ECO erläutert. Dort im Senat wird der Vorschlag zur Verfassungsänderung unter der Nummer PEC 3/2022 aktuell verhandelt. Zunächst beschäftigt sich damit der Ausschuss für Verfassung, Justiz und Staatsbürgerschaft des Senats, so z.B. in einer öffentlichen Anhörung am 27. April dieses Jahres. „Der Vorschlag sieht die Möglichkeit vor, brasilianische Küstenzonen und Strände nach dem Vorbild von Cancún (Mexiko) an private Unternehmen zu übergeben. Im Senat ist Flávio Bolsonaro, der Sohn des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro, der Fürsprecher der Verfassungsänderung", schreiben die Kolleg*innen bei IRPAA: "Der Vorschlag, die brasilianischen Strände zu privatisieren, stößt auf heftigen Widerstand von Umweltexperten, sozialen Organisationen und Umweltschützern, die vor den ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Risiken warnen.“
Die Befürwortenden der PEC 3/2022 argumentieren, diese Kritik sei falsch, da die PEC ja nicht das Gebiet der Strände an sich beträfe. Die Kritiker*innen jedoch warnen, auch wenn es nicht um die Strandflächen an sich gehe, so bedeute eine künftige Verabschiedung der PEC 3/2022 die Privatisierungsmöglichkeit des Gebietes ab 33 Metern Entfernung von der Wasserlinie bis hin zum als Hinterland geltenden Gebiet, was seinerseits wiederum auch die Strandflächen und die Zugänge zu denselben einschränken würde.
Der Gesetzesvorschlag sieht vor allem vor, dass diese terrenos de marinha nicht länger per se unter Bundeshoheit stehen sollen. In Artikel 1 heißt es:
Die als terreno de marinha definierten Gebiete sollten zukünftig folgende Besitztitel haben:
I - Es verbleiben im Eigentum des Bundes die den föderalen öffentlichen Diensten zugewiesenen Flächen, einschließlich der Flächen, die für die Nutzung durch die Konzessionäre und Genehmigungsinhaber der öffentlichen Dienste und die föderalen Umwelteinheiten bestimmt sind, einschließlich der ungenutzten Gebiete;
II - Es gehen über in das volle Eigentum von Land und Munizipien die von staatlichen und kommunalen öffentlichen Dienstleistungen betroffenen Flächen, einschließlich der Flächen, die für die Nutzung durch Konzessionäre und Genehmigungsinhaber öffentlicher Dienstleistungen bestimmt sind;
III - Es gehen in die volle Verfügungsgewalt der Grundstücksbesitzer und -nutzer über, die bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Änderungsantrags regelmäßig bei der Vermögensverwaltung der Union als solche registriert sind;
IV - Es gehen diejenigen Gebiete in den Besitz über von nicht registrierten Besitzern, vorausgesetzt, dass die Besetzung mindestens 5 (fünf) Jahre vor dem Datum der Veröffentlichung dieser Verfassungsänderung stattgefunden hat und der gute Glaube [beim Erwerb] formell nachgewiesen wird;
V - Es gehen diejenigen Gebiete an die Nutzenden über, so ihnen das Gebiet zuvor von der Bundesregierung abgetreten worden war.
Doch was würde dies in der Praxis denn nun genau bedeuten?
In den Fällen, in denen das Eigentum der terrenos de marinha an Land oder Kommune übergeht (Absatz II), bestünde die reale Gefahr, dass der Privatisierung der Flächen durch Immobilienspekultaion und anderen Wirtschaftsinteressen regelrecht Tür und Tor geöffnet wird. Haben doch ein Großteil der Länder und Kommunen bereits in der Vergangenheit zu Genüge ein Verhalten an den Tag gelegt, das ihre sehr eigenen Vorstellungen von der auch wirtschaftlich-explorativen Nutzung dieser terrenos offenbarte und deren Regierende oftmals wenig Interesse zeigten, Know-How und Mittel zum Umwelt-, Klima- und Küstenschutz einzusetzen.
Doch auch die Absätze III und IV sind Anlass großer Besorgnisse: Laut einem Podcast der Tageszeitung Folha de São Paulo hat der Bund in Brasilien Kenntnis von ca. einer halben Million Landnutzer*innen der terrenos de marinha: diese sind beim Bund registriert. Absatz III der PEC 3/2022 würde diesen Grundstücksbesitzenden die volle Verfügungsgewalt über das jeweilige Terrain übertragen. Absatz IV käme zum Tragen bei all jenen, von denen der Bund derzeit keine Kenntnis über deren Nutzung der terrenos de marinha hat. Laut dem gleichen Podcast der Folha de São Paulo liegt das Verhältnis der dem Bund bekannten Landnutzer*innen bei 0,5 Millionen gegenüber den geschätzten Zahlen von realen 3 Millionen Landnutzenden, bei zweieinhalb Millionen hat der Bund demnach gar keine Kenntnis über deren Nutzung.
Bei letzteren würde der bereits bisher kräftig gewachsene „Wildwuchs“ an semi-legal bis illegal durch Wirtschaftsakteure angeeigneten Gebieten legalisiert werden, sprich: der erfolgte Landraub würde im Nachhinein legal, da das Argument des in gutem Glauben erfolgten Erwerbs des Grundstücks nur einen zuvorgeschalteten Verkäufer braucht - und der Status Quo wäre legalisiert.
Wie sind diese geäußerten Gefahren durch die PEC 3/2022 einzuordnen? Dazu ein Beispiel:
Der US-amerikanische Multi Cargill betreibt seit 2003 in Santarém am Zusammenfluss von Amazonas und Tapajós einen Soja-Exportterminal, mit allen bekannten Folgen bei Pull-Faktoren zu vermehrtem Soja-Anbau und damit einhergehender Rodung, Landkonflikten, Menschenrechtsverletzungen, Biodiversitätsschädigung, Pestizidausweitung etc. Client Earth hat u. a. deswegen wegen mangelnder Due Diligence bei der Nationalen Kontaktstelle der OECD in den USA eine Beschwerde eingereicht.
Nun plant Cargill den Bau eines weiteren Soja-Terminal-Hafens, in der Nähe der Kleinstadt Abaetetuba, auf den sog. Xingu-Inseln, südwestlich von Belém gelegen. Dazu müsste vor Ort gerodet werden und viel Infrastruktur aufgebaut werden. Cargill hat im August 2015 mit (der mutmaßlichen) Besitzerin, der Firma KF de Menezes Consultoria Logística einen Kaufvertrag unterzeichnet, der später auch von der Bürgermeisterei bestätigt wurde, obwohl das Gebiet unter Hoheit des Bundes steht. Gleich im Oktober 2015 wurde das Gebiet umzäunt, bewaffnete Securities bewachen das Gelände. Die lokalen Ribeirinhos berichten von Belästigungen durch diese, was auch zu einer Einschränkung ihrer Mobilität und Bedrohungssituationen führt.
Auf genau diesem Gebiet leben und arbeiten seit Generationen lokale (und staatlich als solche anerkannte) traditionelle Gemeinschaften von Flussanwohnenden ("comunidade ribeirinha", teilweise direkte Abstammung von Quilombolas), die an den Ufern des Flusslaufs Igarapé Vilar leben und von diesem ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sie sind als traditionelle Gemeinschaft anerkannt. Die Hauptaktivitäten sind Fischfang, extrativismo ("Sammelwirtschaft") und Landwirtschaft in kleinem Maßstab. Die Menschen dieser Flussanwohnenden-Gemeinschaft leben und arbeiten auf dem Gebiet des im November 2005 durch die Bundesbehörde für Agrarreform INCRA mittels des Erlasses Portaria INCRA nº 37 staatlich ausgewiesenen Agrar-Extraktivistischen Ansiedlungsprojekt "Projeto de Assentamento Agroextrativista", dem "PAE Santo Afonso". Ein PAE garantiert den Besitz des Gebietes in Form eines kollektiven Landtitels, garantiert die kollektive Landnutzung und gestattet die Anwendung eines Landnutzungsplanes, der im Einklang mit dem Ziel des Umweltschutzes steht. Noch im November 2005 bestätigte das Katasterbüro von Abaetetuba gegenüber der INCRA, dass es keine Einträge auf Privatansprüche auf das Gebiet gebe. Erst im Laufe der Gerichtsverfahren später kam heraus, dass Teile des Gebietes schon zuvor mehrmals verkauft und weiterverkauft wurden, teilweise unter Bestätigung seitens der Kommune, obwohl die gar nicht über das Land verfügt, da es ja laut der Portaria der INCRA nº 37 Bundesgebiet ist, das zu einer PAE erklärt wurde. Im April 2022 (noch Bolsonaro-Amtszeit) hat die INCRA sich dann selbst korrigiert und per Erlass die Portaria nº 37 im Amtsblatt DOU nº 64 dahingehend geändert, dass sie die Größe des Gebiets des PAE Santo Afonso von 2.705.6259 ha auf 2.237,8307 ha einfach reduziert wurde, und zwar um genau die Fläche, die Cargill von der Firma KF erworben hatte. Das eröffnete Cargill die Möglichkeit, mit seinen Terminal-Bauplänen fortzufahren.
Zum Hafenprojekt von Cargill liefen in Brasilien bisher zwei Gerichtsprozesse (einer zum unrechtmäßigen Verkauf des Landes, der von der Regionalstelle Norden 2 der Caritas im Dezember 2021 auf nationaler Ebene initiiert wurde und einer zur Nicht-Einhaltung des Rechts auf eine freie, vorherige und informierte Zustimmung, welcher von der Ombudsstelle in Pará auf bundesstaatlicher Ebene 2018 initiiert wurde). Beide Prozesse wurden im Juni 2023 zu einem zusammengelegt und dieser wird aktuell auf nationaler Ebene verhandelt. Es ist noch nicht abzusehen, ob und inwieweit er Licht in den verworrenen Rechtsstatus des agrar-extraktivistischen Gebietes PAE Santo Afonso bringen und ob es möglich sein wird, den kleinbäuerlich lebenden Ribeirinhos zu ihrem Recht auf Land, Recht auf freie, vorherige und informierte Konsultation, Recht auf Bewegungsfreiheit, Recht aufs Wasser etc. zu verhelfen und es gelingen wird, den Status als PAE des gesamten Gebietes aufrechtzuerhalten. Sollte das nicht passieren, würde es im Zuge des Baus und Betriebs der Hafenanlage, wie auch beim Santarém-Hafenprojekt, zu massiven Rechtsverletzungen von traditionellen Gemeinschaften (auf den Xingu-Inseln leben insgesamt ca. 50.000 Menschen aus traditionellen Lebensgemeinschaften, die von der Hafenanlage und ihren Folgen betroffen wären) kommen und ein weiterer Anreiz für Umweltzerstörung in der Amazonasregion gesetzt. Der gleiche Modus-Operandi von Cargill ist hier erkennbar.
Und dieser Fall ist einer derjenigen Fälle, laut denen Fachleute davon ausgehen, dass der oben beschriebene Fall des Absatz III den Grundstücksnutzenden die volle Verfügungsgewalt über das Gebiet zugestehen würde.
FDCL und KoBra haben den brasilianischen Rechtsanwalt Dr. Paulo Weyl, der die lokalen Gemeinschaften im Rechtsstreit mit Cargill vertritt, dazu befragt. Seine Antwort:
„In Brasilien gibt es einen besonderen Titel für die Übertragung von öffentlichem Grund und Boden an Privatpersonen, wobei private Einrichtungen (Personen oder Unternehmen) vom Besitz des Grundstücks profitieren, das Eigentum aber formal bei der öffentlichen Einrichtung (Union) verbleibt. Diese Rechtsform wird „foro“ oder „aforamento“ genannt, und der Begünstigte ist „foreiro“.
Mit Hilfe dieses Titels kann die Privatperson das an sie abgetretene Gebiet gegen eine jährliche Gebühr registrieren lassen.
Es sei darauf hingewiesen, dass das „PEC das praias“ nicht nur die so genannten Marinegebiete in den vollen Besitz der Staaten und Gemeinden überführt, sondern auch eine besondere Ausnahme macht und die Gebiete, die unter einer Pachtregelung stehen, in den vollen Besitz von Privatpersonen überführt. In diesem Sinne ist Absatz III zu lesen:
III - Es gehen in die volle Verfügungsgewalt der Grundstücksbesitzer und -nutzer über, die bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Änderungsantrags regelmäßig bei der Vermögensverwaltung der Union als solche registriert sind;
Was würde dies aber nun bedeuten im Fall Cargill in Abaetetuba? Wie genau kommt die PEC da ins Spiel?
Mit der eventuellen Genehmigung der PEC würde dieses spezifische Gebiet nicht vom Besitz des Bundes in den Besitz des Landes übergehen, sondern vom Besitz des Bundes in den vollständigen Besitz von Cargill! (Der Grund dafür ist, dass Cargill aufgrund der Gewährung des „Gebietes“, das vor Gericht angefochten wurde, bereits über einen Landtitel verfügt).
Die PEC würde also für Cargill von großem Nutzen sein, da sie Cargill automatisch die Rechtsvermutung des vollen Besitzes an dem Gebiet verleiht.
So bin ich abschliessend sicher, dass die PEC zu weiteren Konflikten führen wird.“