Straßenkinderprojekt TAIGUARA in Sao Paulo
Ein Erfolgversprechender Versuch – zum Scheitern verurteilt? Alessandra Lemes da Souza (14) lebt seit nunmehr fast 15 Monaten wieder bei ihrer Mutter im Norden São Paulos. Zuvor verbrachte sie bereits fünf Jahre im Stadtzentrum, teilte das Leben mit unzähligen anderen Straßenmädchen: Prostitution, Drogen, Diebstähle bestimmten den Alltag. 2004 kam sie per Zufall in Kontakt mit „Casa Taiguara“ und blieb, bzw. war bereit, an dem ein Jahr später stattfindenden Integrationsprojekt „Projeto Integrar“ teilzunehmen.
Dieses, von zwei Psychologinnen (Daniela Vidal und Luana Nunes) initiierte Projekt, ergänzt die Arbeit des Straßenkinderprojekts Taiguara in São Paulo, welches die Brasilieninitiative Freiburg e.V. seit Beginn im Jahr 1996 begleitet. Mit einem modellartigen Ansatz wird hier versucht, den Straßenkindern eine Perspektive zu verschaffen.
Neu ist, dass Kindern und ihren Familien über die psychologische Begleitung wieder eine Annäherung ermöglicht werden soll. Die in Frage kommenden Kinder/Jugendlichen kommen aus der Zusammenarbeit mit der Nichtregierungsorganisation „Moradia Associação Civil“ , dem Träger der Casa Taiguara/Taiguarinha. Diese Organisation unterhält im Zentrum São Paulos zwei Häuser für Kinder und Jugendliche. Die Einrichtung ist rund um die Uhr geöffnet, bietet grundlegende Unterstützung an (ein Dach über dem Kopf, Mahlzeiten und Gesundheitsversorgung), versucht daneben aber auch, die Teilnahme der Kinder und Jugendlichen an Bildungsmaßnahmen zu gewährleisten.
Das Taiguara-Team wählt die in Frage kommenden Kinder aus, informiert sich über die Familienstruktur, nimmt ersten Kontakt mit den betreffenden Familien auf. Sodann werden die Erfolgsaussichten einer eventuellen familiären Wiedereingliederung ausgelotet. Ist neben dem Straßenkind auch die Familie (i.d. Regel die Alleinerziehende Mutter) bereit sich auf einen Versuch einzulassen, wird ein erster Hausbesuch vereinbart. Bei dieser ersten Kontaktaufnahme geht es um vertrauensbildende Gespräche, um Annäherung, die zuvor mit dem Straßenkind bereits stattfand. Zugleich wird deutlich gemacht, dass das Psychologenteam vor Ort die Betreuung durchführt, d.h. kostspielige Fahrten für die Betroffenen entfallen. Dies verfolgt das Ziel möglichst viele Familienmitglieder bzw. deren Umfeld in die Arbeit mit einzubeziehen.
Bei den bisher begleiteten Straßenkindern ergab sich, dass jede Familie aus durchschnittlich sechs Personen bestand, nie beide Elternteile mehr zusammen lebten, bei einem Drittel gab es neue Partner. Das monatliche Einkommen der Familien schwankt zwischen ca. einem (R$ 380,00, umgerechnet ca.145 €) und zwei Mindestlöhnen (R$ 760,00). Alle betreuten Familien wohnen zudem in den Außenbezirken der Stadt, in Regionen, in denen nicht nur große Defizite bei der Infrastruktur bestehen (Schulen, Gesundheitsposten, Freizeiteinrichtungen) sondern Gewalt und Kriminalität den Alltag prägen. Zu Beginn standen die Psychologen des Öfteren vor verschlossenen Türen (zum vereinbarten Termin war niemand zu Hause) oder Nachbarn und Freunde waren mit anwesend und beim Gespräch dabei, Skepsis war deutlich spürbar. Dass es, trotz der zuvor geäußerten Bereitschaft mit den Psychologen zusammen zu arbeiten, ein schwieriges Projekt werden würde, war allerdings zu erwarten gewesen. Nicht wenige Kinder landeten auf der Straße infolge mangelhafter Fürsorge der Eltern, so dass diese natürlich zunächst Angst hatten, Vorwürfen ausgesetzt zu sein. Zudem sind die ökonomischen Bedingungen der Familien oftmals katastrophal und zwingen Kinder und Jugendliche, durch Erwerbsarbeit zum Familieneinkommen beizutragen, die Marginalisierung ist ein Versuch, aus diesem Zwang auszubrechen. Emotionale Verwahrlosung ist eine der fast zwangsläufig einsetzenden Folgen.
Der ursprünglich auf 3 Monate begrenzte Beratungszeitraum erwies sich als zu kurz angesetzt, das Psychologenteam dehnte daraufhin die Besuchsintervalle auf durchschnittlich sechs Monate aus. Zunehmend gelang es eine Vertrauensbasis zu den Familien aufzubauen, die letztlich positive Auswirkungen auf das Ziel der Reintegration der Straßenkinder hatte. Zugleich zu ihrer Gesprächstherapie erkundeten die Psychologinnen welche verfügbaren Einrichtungen (Schulen, Sozial - und Erziehungseinrichtungen, usw.) am Wohnort vorhanden waren. Hierbei stand der Gedanke im Mittelpunkt, dass neben der kontinuierlichen Betreuung eine enge Einbindung der Familie in die vorhandenen Strukturen die Aussicht auf positive Entwicklungen verstärken würde. Hier haben sie die Gelegenheit, weitere Ansprechpartner finden können. Sämtliche Besuche der Familien, die mehrheitlich an der Peripherie São Paulos leben, wurden zu zweit durchgeführt. Nicht nur aus Sicherheitsgründen (die Randgebiete befinden sich in der Hand der Drogenmafia) sondern auch aus therapeutischen Gesichtspunkten schien dies angebracht. Die co-therapeutische Vorgehensweise erlaubte eine flexible Handhabung der Betreuungsformen. In manchen Fällen wurden die Familienmitglieder in zwei Gruppen aufgeteilt und zwar mit dem Ziel, Themen zur Sprache kommen zu lassen, die unmöglich in großer Runde behandelt werden konnten. Ein Beispiel ist der Fall eines Vaters, der die Sitzungen für verbale Angriffe auf seinen Sohn nutzte. Daher erschien es wichtig, Vater und Sohn getrennt zu betreuen, damit der Vater von seiner Aggression sprechen konnte, statt diese auszuüben.
Um eine Annäherung der Familienmitglieder zu erreichen, erarbeiteten die Psychologen mit den Betroffenen zunächst ein “Familienalbum:” die Stärkung einer familiären Identität bzw. die Schaffung derselben galt es zu schaffen. Die beiden Psychologinnen mussten bei ihrer Arbeit feststellen, dass, besonders wenn es sich beim Oberhaupt der Familie um Frauen handelt, der Wunsch der Mütter nach Betreuung – trotz allen Widrigkeiten - sehr ausgeprägt ist. Sie wünschen sich in der Lage zu sein, ihre eigenen Kinder betreuen zu können. Es handelt sich um Frauen, die in ihrem früheren Leben von den eigenen Eltern oder vom Ehemann verlassen wurden, die sich im Alltag allzu oft überlastet fühlen. Aus dieser Situation heraus erwächst oftmals eine familiäre Dynamik, die dem „Ausschluss“ von Familienmitgliedern Vorschub leistet. In diesem Zusammenhang ist der Weggang des Kindes eine in der familiären Dynamik angelegte Reaktion.Allessandra wollte ihr Straßenleben ändern, dank des Taiguara-Teams und den Psychologinnen gelang es ihr – wie weiteren dreizehn Kindern in den vergangenen eineinhalb Jahren – sich wieder in ihre Familie zu integrieren. Heute holt sie ihren Schulabschluss nach und verdient etwas Geld mit dem Verkauf von Kosmetikartikeln in ihrem Stadtviertel.
Diese von der Brasilieninitiative Freiburg e.V. in Zusammenarbeit mit Casa Taiguara entwickelte Arbeit, ist gegenwärtig gefährdet. Weshalb? Das Integrationsprojekt konnte nur deshalb begonnen werden, da die SEZ (Stiftung Entwicklungszusammenarbeit) in Baden – Württemberg und die Oberle-Stiftung sich engagierten. Beide Institutionen haben jedoch ihre weitere Unterstützung eingestellt. (Projekte der SEZ gehen über maximal zwei Jahre, eine erneute Förderung des gleichen Projekts ist nicht vorgesehen). Dies ist tragisch, da im Gegensatz zu handwerklichen Projekten, sich die Arbeit mit Straßenkindern nie finanziell selbst tragen kann, und somit – wenn der Staat seiner Aufgabe nicht nachkommt – die Unterstützung durch Einzelpersonen , Gruppen oder Institutionen weiter unerlässlich ist. Das Spendenaufkommen der Brasilieninitiative Freiburg e.V. selbst ist jedoch zu gering, um den Fortbestand dieser Arbeit zu gewährleisten. Deshalb hier nochmals ein Aufruf mit dem Ziel vielleicht doch noch weitere Unterstützer/-innen zu finden. Für sechs Monate ist ein Betrag von 6000.-€ notwendig. Dies betrifft die Bezahlung des Psychologenteams, der notwendigen Materialien und der Fahrtkosten. Gelingt es nicht über private Spenden den Betrag aufzubringen, muss dieses Erfolg versprechende Arbeit leider eingestellt werden.
Nach einem Probelauf von zwei Jahren erscheint die „Familientherapie“ vor Ort, trotz anfänglicher Probleme, ein gangbarer Weg, zumindest manchen Straßenkindern wieder eine Perspektive eröffnen zu können. Die Bankverbindung der Brasilieninitiative Freiburg e.V. lautet:
Volksbank Freiburg,
Kto.-Nr. 250 548 06,
BLZ 680 900 00
Nachtrag: Von fundamentaler Bedeutung ist, dass sich Politik und öffentliche Stellen Initiativen wie das Projeto Integrar zu eigen machen. Die Bewusstseinsbildung der Gesellschaft und der Appell an das Verantwortungsgefühl staatlicher Stellen sind daher weitere Ziele des Projekts.
Günther Schulz