Historiker:innen und Bundesstaatsanwaltschaft fürchten um den Erhalt der Dokumente aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur
Mitte September wurde bekannt, dass das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte beabsichtige, an die 17.000 Werke aus seinem Archiv, die aus der Zeit der Militärdiktatur stammen oder diese Periode schwerer Menschenrechtsverletzungen als Lehr- und Bildungsmaterial zum Gegenstand haben, an namentlich nicht genannte Dritte spenden werde. Dagegen protestierte gleich Anfang Oktober die Sektion der nationalen Geschichtsvereinigung ANPUH in Rio de Janeiro. Die Historiker:innenvereinigung erklärte, "dass das Ministerium nur das Material für die Verbreitung und nicht die Sammlung selbst spenden will", so seien aber die Forscher:innen, "die an der Arbeit, die die Sammlung hervorgebracht hat, beteiligt waren, sowie die Gemeinschaft der Historiker und Archivare gegen diese Absicht, da die Position der derzeitigen Regierung, die Wissenschaft, die öffentlichen Universitäten und die professionelle historische Forschung systematisch anzugreifen, uns zu der Annahme führt, dass sowohl das Material für die Verbreitung verloren gehen kann als auch die dokumentarische Sammlung selbst teilweise oder vollständig beschädigt und sogar zerstört werden kann in diesem Prozess. Der Nationale Geschichtsverein - Sektion RJ - sowie alle nachstehend unterzeichneten Einrichtungen wenden sich daher gegen diese Absicht des Frauenministeriums und fordern das Bundesministerium auf, dafür zu sorgen, dass dieses Material dort bleibt, wo es ist, und dass die öffentlichen Bediensteten, die es aufbewahren, ordnungsgemäß zur Verantwortung gezogen werden, falls diese Sammlung verloren geht, beschädigt oder zerstört wird."
Daraufhin hat sich nun auch die Bundesstaatsanwaltschaft eingeschaltet und ein Schreiben an das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte gesandt, in dem es dessen Absicht in Frage stellt, die Sammlung von Erinnerung und Wahrheit aus der Zeit der Militärdiktatur, die sich derzeit in der Obhut des Ministeriums befindet, zu spenden. Die Bundesstaatsanwaltschaft äußert in dem Schreiben die Besorgnis über "ein potenzielles Risiko für die Erhaltung des Materials und der Dokumente", sollte der Plan des Ministeriums umgesetzt werden, das Material an Dritte zu spenden. In dem Schreiben verlangt die Bundesstaatsanwaltschaft Auskünfte über die Beweggründe für die Verwaltungsentscheidung und die Basis der normativen Rechtsakten, die die geplante Schenkung genehmigen, sowie nach dem Inventar der zu verschenkenden Dokumente und Materialien und den an den Schenkungsverhandlungen beteiligten Institutionen. Das MPF möchte auch wissen, welche Maßnahmen geplant oder bereits ergriffen wurden, um eine angemessene Erhaltung der Sammlung zu gewährleisten. Denn, so die Bundesstaatsanwaltschaft: "Die Bewahrung des von der Nationalen Wahrheitskommission, der Amnestiekommission und der Kommission für tote und verschwundene Personen gesammelten Materials zielt darauf ab, das Wissen der Gesellschaft über die Geschichte ihres Landes zu sichern, Akteure und Opfer zu identifizieren und die mögliche offizielle Praxis der Leugnung der Fakten zu überwinden. Außerdem soll die Bevölkerung über die Gewalttaten aufgeklärt und ein kollektives Gedächtnis geschaffen werden, um die Werte des Menschenrechtsschutzes zu bewahren und eine künftige Wiederholung solcher Gewalttaten zu verhindern."
Bei dem Material handelt es sich den Presseberichten zufolge um das Material der Nationalen Wahrheitskommission und der Nationalen Amnestie-Kommission. Dies umfasst sowohl die zusammengetragenen historischen Dokumente als auch Schul- und Bildungsmaterialien. Es wird davon ausgegangen, dass der weitaus größte Teil der historischen Dokumente aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur entweder vernichtet wurde oder sich noch immer in den privaten Händen vormaliger Militärs oder deren Nachfahren befindet. Zudem hatte in mindest einem bewiesenen Fall das Militär behauptet, ein bestimmtes Archiv sei abgebrannt, alle Dokumente vernichtet worden, später aber tauchten diese Dokumente in Gänze auf. Zudem kann es sein, dass noch ein weiterer Teil an Dokumenten unentdeckt in Behörden von Bund, Land oder Munizip oder von Militär- oder Polizeieinheiten lagert. Es gab in Brasilien nie einen umfassenden und die Angehörigen der Opfer zufriedenstellend ergebnisreichen Ansatz, alle Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur staatlicherseits zu sammeln und komplett sicherzustellen.