Brasilien: Wider den Machismo
»Am 8. März kommt es zu einem landesweiten Aufschrei der Frauen gegen die Regierung von Präsident Bolsonaro«, prognostizierten die KollegInnen von SOS Corpo, dem feministischen Institut für Demokratiefragen mit Sitz in Recife. Sie sollten Recht behalten: Über 300 große Kundgebungen und Demonstrationen fanden in Rio de Janeiro, São Paulo, Recife, Brasilia, Porto Alegre und anderen Städten statt. Insgesamt gingen weit über hunderttausend Frauen gegen den Präsidenten und die extreme Rechte auf die Straße.
Für viele ist der Wahlsieg Bolsonaros eine Folge der Amtsenthebung der sozialdemokratischen Präsidentin Dilma Rousseff 2016. Bereits dieser »Putsch« sei frauenfeindlich motiviert und eine Machtdemonstration der weißen und männlichen Elite gewesen. Die Frauen werfen Bolsonaro zudem vor, nur durch Manipulationen und illegalen Zugang zu privaten WhatsApp-Konten an WählerInnen und damit an die Macht gelangt zu sein (siehe dazu ausführlicher iz3w 370).
Nun höhlt Bolsonaro den Sozialstaat und die Demokratie aus. So will er mit der Reforma da Providência eine Rentenanpassung durchsetzen, die Frauen als sozialpolitische Verschlechterung empfinden. Viele Frauen leisten die Erwerbs- und Familienarbeit alleine. Die Furcht vor Altersarmut treibt sie nun auf die Straße, um eine garantierte Altersvorsorge zu fordern. Den Sozialversicherungssystemen fehlt Geld, weil große Konzerne seit Jahren nicht für ihre Arbeitskräfte einzahlen. Die Sparzwänge sollen nun auf die Rücken derer abgewälzt werden, von denen angenommen wird, dass sie sich nicht wehren.
Lebensgefährlicher Aktivismus …
Die Präsidentschaftswahlen haben vieles verändert. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen treffen Sicherheitsvorkehrungen, um sich zu schützen. Kommunikationskanäle müssen neu abgesichert werden, bei öffentlichen Kundgebungen wird mit Gewalt und Übergriffen gerechnet. Nicht jede/r will noch laut Kritik äußern. Es weht ein neuer Wind, der mehr ein eisiger Sturm ist. Er ruft gerade unter Fortschrittlichen und Linken Angst hervor. Der linke und offen homosexuell lebende Parlamentsabgeordnete Jean Wyllys hat noch im Januar das Land verlassen, um dem permanenten Druck von Beschimpfungen bis zu Morddrohungen zu entgehen. Auch Maria-Clara Dias, Professorin für Genderfragen an der Bundesuniversität in Rio de Janeiro, verließ im Februar 2019 Brasilien. Nach einer Veröffentlichung über Morde an lesbischen Frauen sah sie sich einer Rufmordkampagne und Bedrohungen ausgesetzt.
Der neue Kulturkampf wendet sich wahlweise gegen Sozialismus, Kommunismus, das »linke Pack«, gegen Political Correctness oder Minderheiten. Bewahrt werden sollen »traditionelle Familienwerte«. Progressive politische AkteurInnen und queere Lebensentwürfe, Angehörige der Landlosenbewegung, FeministInnen, AfrobrasilianerInnen, Indigene, aber auch MenschenrechtsaktIvistInnen aus dem Umfeld der Katholischen Kirche werden zu Feinden erklärt. Die Linken verdammt der neue Präsident zur absoluten Anpassung: »Oder sie verlassen das Land oder gehen ins Gefängnis. Diese roten Typen werden aus unserem Vaterland verbannt«, verkündet Bolsonaro vollmundig im Wahlkampf. Brasilien verfügt bereits seit der Männer-Fußball-WM 2014 über ein verschärftes Terrorismusgesetz, das schnelle Gerichtsurteile ermöglicht und politisch motivierte Prozesse vereinfacht. Für Polizeikräfte, die im Dienst töten, soll eine weitgehende Straffreiheit gelten.
Am 14. März, kurz nach dem Internationalen Frauentag, jährte sich erstmals die Ermordung der linken Stadträtin Marielle Franco in Rio de Janeiro. Marielle wurde nach dem Mord zur Ikone, weil sie als mutige Frau vieles von dem verkörperte, was in der politischen Elite des Landes Widerstand hervorruft: Aus einer Favela stammend, erlangte die Afrobrasilianerin einen Universitätsabschluss und übte ein politisches Amt aus. Sie kritisierte die willkürliche Polizeigewalt gegen überwiegend junge Schwarze in der Peripherie von Rio de Janeiro. Viele Frauen identifizieren sich mit ihr, weil sie Mutterschaft und das Leben als berufstätige Frau und politische Aktivistin unter einen Hut brachte, offen in einer lesbischen Beziehung lebte und sich gegen Rassismus und für Frauenrechte einsetzte.
Marielle Franco wurde von paramilitärischen Milizen ermordet. Im Januar 2019 wurden eine Reihe von Milizionären, darunter mehrere ehemalige Militärpolizisten, festgenommen. Ein flüchtiger Ex-Militärpolizist gilt als Kopf der Gruppe, die auch wegen Auftragsmorden angeklagt wird. Es bestanden Verbindungen zu Flavio Bolsonaro, dem ältesten Sohn des Präsidenten. Die Mutter und die Ehefrau des Gesuchten haben für Flavio Bolsonaro gearbeitet, der genauso wie zwei weitere Söhne Teil der Bolsonaro-Politik-Dynastie ist. 2018 wurde er im Bundesstaat Rio de Janeiro als Senator gewählt. Zwei Tage vor dem Jahrestag des Mordes wurden erneut zwei ehemalige Militärpolizisten festgenommen, die jetzt als Täter angeklagt werden sollen.
… und neue Gegenwehr
Zum Gedenken an die Stadträtin wurde in Rio de Janeiro eine Straße nach ihr benannt. Das Straßenschild wurde noch im Wahlkampf von Rechten zerstört. Als Antwort darauf wurde das gesamte Viertel mit diesem Schild bestückt. Auch bei Demonstrationen wird es zusammen mit dem Bild von Marielle Franco als mahnendes Symbol getragen.
Im Wahlkampf schloss sich eine Gruppe afrobrasilianischer Frauen linker Parteien zusammen, die sich sementes de Marielle (»Die Saat von Marielle Franco«) nannten. 2018 kandidierten so viele AfrobrasilianerInnen für ein politisches Amt wie nie zuvor. Einige waren enge Mitarbeiterinnen der Ermordeten gewesen. Die Saat geht inzwischen auf, denn viele dieser Frauen wurden gewählt und stehen nun für progressive Ziele und eine gerechtere Gesellschaft ein. Die afrobrasilianischen Bürgerrechtlerinnen Renata Souza, Mônica Francisco und Dani Monteiro sind nun Abgeordnete im Landtag des Bundesstaates Rio de Janeiro. Die Historikerin Talíria Petrone wurde Bundesabgeordnete, sie saß zuvor gemeinsam mit Marielle im Stadtrat. Die Feministin und negra setzt sich für die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen sowie für eine fortschrittliche Drogenpolitik ein. Außerdem kämpft sie gegen die Masseninhaftierung Schwarzer Jugendlicher und gegen das neue reaktionäre Bildungskonzept Escola sem partido.
Escola sem partido wird vom Bildungsminister Vélez Rodríguez und vom Präsidenten gleichermaßen verfolgt. Es verbannt die Auseinandersetzung mit Genderfragen, Rassismus sowie weitere gesellschaftlich relevante Themen aus dem Unterricht, mit dem Vorwurf, damit würden Kinder indoktriniert. Genderthemen und Geschlechtergerechtigkeit werden von der neuen Regierung mit dem Verlust moralischer Werte gleichgesetzt und deshalb bekämpft. Das neue Bildungsmodell steuert über die Vergabe von Fördermitteln, welche Forschung zukünftig erwünscht ist. Die Verantwortung für dieses Gesetz obliegt dem neuen Bildungsminister Rodríguez. Er hat eine Eliteprofessur des Militärs an der staatlichen Universität von Juiz de Fora inne. Der Antikommunist nennt den 31. März 1964, den Tag des Militärputsches in Brasilien, »einen denkwürdigen Tag, den man in Erinnerung behalten sollte«. Er kritisiert die unter Präsidentin Dilma Rousseff eingesetzte Wahrheitskommission, die die Morde und Gewalttaten während der Militärdiktatur dokumentiert hat.
Die brasilianische Zivilgesellschaft bleibt aber auch auf den neuen Agitationsfeldern der Rechtsregierung widerständig. Die brasilianischen Feministinnen sind dabei jedoch keine homogene Gruppe. Häufig laufen ihre Kämpfe parallel zueinander ab, je nach regionalem Kontext und Schwerpunkt. AfrobrasilianerInnen wehren sich eher gegen die verheerende Situation im Strafvollzug und gegen die tödliche, rassistisch geprägte Polizeigewalt gegenüber ihren Söhnen. LGBTIQ-AktivistInnen kämpfen für Geschlechtergerechtigkeit und rechtliche Anerkennung. Indigene Frauen im Amazonasgebiet fordern mehr territoriale Rechte und Selbstbestimmung, sie wenden sich zudem gegen die Inwertsetzung der Natur durch Bergbau, Holz- und Landwirtschaft oder Wasserkraft. Die erste indigene Abgeordnete aus dem Bundesstaat Roraima, Jôenia Wapixana, drängt darauf, dass indigene Anliegen mehr Sichtbarkeit bekommen.
Keine Rechte für Unliebsame …
Bolsonaro hatte im Wahlkampf erklärt, kein weiteres indigenes Gebiet mit entsprechenden Schutzrechten ausweisen zu wollen. Prompt meldete der Indigenenmissionsrat der Katholischen Kirche (CIMI) schon zu Jahresbeginn mindestens sechs Überfälle auf indigenes Land in Maranhão, Mato Grosso, Pará und Rondônia. Laut Einschätzung des Anthropologen Eduardo Viveiro de Castro will Bolsonaro die indigene Frage ‚lösen‘, indem er deren territoriale Rechte rückgängig macht und in Konzessionen für private Unternehmen umwandelt. Indigene sollen sich zukünftig ohne Sonderrechte in die Gesellschaft integrieren, heißt es. Provokant fragt Sonia Guajajara, die indigene Vize-Präsidentschaftskandidatin von 2018, bei einem Treffen mit der Staatsanwaltschaft, warum Übergriffe auf indigene Territorien und deren BewohnerInnen nicht als terroristischer Akt eingestuft würden. Denn im Gegensatz dazu werden soziale Bewegungen wie der Indigenenmissionsrat und die Landpastorale (CPT) von den Rechten kriminalisiert.
Auch gegenüber Frauen äußert sich Bolsonaro ablehnend. Ihm sind insbesondere politisch aktive Frauen wie Marielle Franco, Mônica Francisco oder Jôenia Wapixana ein Dorn im Auge. Am 29. September 2018 gingen mitten im brasilianischen Wahlkampf weltweit Millionen unter dem Slogan #elenao (»Der nicht«) gegen Bolsonaro und für Respekt und Demokratie auf die Straße. Der feministische Aufbruch wurde jedoch in den brasilianischen Massenmedien bewusst totgeschwiegen. Kurz darauf kursierten manipulierte Bilder von nackten Frauen in den sozialen Medien, durch die die Aktivistinnen moralisch verunglimpft werden sollten. »So sehen böse Feministinnen aus! Nehmt sie bloß nicht ernst!« war die Botschaft.
Das Frauenbild der neuen Regierungsmacht steht einer Verankerung von Frauenrechten unvereinbar entgegen. Das Kabinett besteht aus ehemaligen Militärs, VertreterInnen des agrarindustriellen Sektors und evangelikalen FundamentalistInnen. In ihrem Gesellschaftsideal steht die Frau hinter dem Mann – lächelnd und dekorativ, so wie die Präsidentengattin Michele Bolsonaro. Frauen haben in der Familie die Rolle als Ehefrau und Mutter zu übernehmen, sie haben für Kindererziehung und Karitatives einzustehen, ohne weitere Forderungen zu stellen oder Rechte einzuklagen.
Jair Bolsonaro hatte sich mit den Evangelikalen schon im Wahlkampf verbündet, um mit der Unterstützung einflussreicher Prediger die Stimmen ihrer Schäfchen auf sich zu vereinen (siehe dazu ausführlich iz3w 370). Ein erfolgreiches Konzept, denn Bolsonaro wurde auch von Schwarzen, von FavelabewohnerInnen und Homosexuellen gewählt. Sie sahen in ihm den Hoffnungsträger, der ihnen versprach, Gewalt mit Gewalt bekämpfen zu können. Einig sind sich Bolsonaro und Evangelikale in ihrem Feldzug gegen die Rechte von LGBTIQ und gegen die Ausweitung des Rechts auf Abtreibung. Nachdem 2018 bereits 420 Morde an LGBTIQ verübt worden waren, wächst nun mit dem öffentlichen Hass die Angst vor einem weiteren Anstieg der Gewalt. Die Gruppe der Evangelikalen konnten die Zahl ihrer Parlamentssitze von 78 auf 91 erhöhen. Die religiösen Hardliner der Assembleia de Deus, Baptisten und Universalkirche sehen ihren Regierungsauftrag darin, ihre Moral dem Rest der Gesellschaft aufzudrängen.
… aber Waffen für alle
Besorgniserregend sind auch die beabsichtigten Lockerungen im privaten Waffengesetz. Ein Präsidialdekret sieht vor, dass Über-25-Jährige ohne kriminelle Vorbelastung bis zu vier Waffen im Haus haben dürfen. Das ermutigt geradezu zur Selbstjustiz und Bildung von Bürgerwehren, was jedoch einen Anstieg von Gewalt zur Folge haben dürfte. Ein bedrohliches Szenario angesichts der aktuellen Zahlen über Auseinandersetzungen mit Todesfolge. Das Dekret ignoriert zudem eine vorangegangene Empfehlung des Präsidialamts für die Einschränkung des allgemeinen Waffenzugangs. Es war auf der Datengrundlage des letzten halben Jahres zu folgender Aussage gekommen: Obwohl Brasilien nur über drei Prozent der Weltbevölkerung verfügt, ist es für 14 Prozent der weltweit erfassten Mordfälle verantwortlich. Vergleichbare Zahlen gibt es nur noch in Bürgerkriegsländern wie der Republik Kongo.
Nicht nur indigene Bewegungen, kleinbäuerliche Gruppen und Quilombolas (Nachfahren ehemaliger SklavInnen mit territorialen Rechten) fürchten, dass nach einer Lockerung des Waffenzugangs die Gewalt gegenüber ihren Minderheiten im Konflikt um Land- und Wasserzugang zunimmt. Auch Frauen sehen sich dieser Gefahr ausgesetzt. In den ersten sechs Wochen des Jahres 2019 wurden in 188 Städten 151 Morde an Frauen und 87 gewalttätige Übergriffe registriert. Die Opfer sind in der Mehrzahl Afrobrasilianerinnen. Gewalt gegenüber Frauen ist die extremste Form patriarchaler und machistischer Dominanz und Unterdrückung. Selbst eine katholische Publikation titelte in Anspielung auf das neue Rollenbild der Hausfrau, dass kein Ort für Frauen in Brasilien so gefährlich sei wie das eigene Zuhause. Denn die Staatsanwaltschaft von São Paulo hat im zurückliegenden Jahr nachgewiesen, dass 66 Prozent der Femizide zuhause stattfinden und sie zu 70 Prozent von (Ex-)Partnern verübt werden. Handfeuerwaffen sind dabei neben Messern die zweithäufigste Waffe.
Bolsonaro demontiert mit seiner Regierung bisherige Errungenschaften der sozialen Bewegungen, die Rechte erstritten haben und die nun in eine neue Rolle mit weniger Rechten zurückgedrängt werden sollen. Beispielhaft dafür steht die neue Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, die evangelikale Pastorin Damares Alves. Ihr Ministerium ist nun auch für die Auseinandersetzungen um territoriale Kämpfe von Indigenen verantwortlich, während die vormals zuständige Indigenenbehörde FUNAI institutionell weiter entmachtet wurde. Alvez will sich zwar für die gleichberechtigte Entlohnung der Erwerbsarbeit von Frauen einsetzen. Zugleich ist sie aber erklärte Abtreibungsgegnerin und wurde in den Medien mit einem »Genderbekenntnis« zur Farbe Rosa für Mädchen und Hellblau für Jungen zitiert.
Die Entwicklungen in den ersten Monaten seit dem Amtsantritt Bolsonaros sind besorgniserregend. Umso wichtiger ist es, Aufmerksamkeit für die Situation in Brasilien herstellen und Alarm zu schlagen. Nichts weniger als die Demokratie, die Menschenrechte und die sozialen Rechte stehen in Brasilien auf dem Spiel. Unabdingbar ist ein auch kritischer Blick auf politische Fehler der Linken in der Vergangenheit, allerdings mit dem Ziel, einen gemeinsamen politischen Weg in die Zukunft zu suchen.
Dieser Artikel erschien in der IZ3W 372 | Klimawandel.