Die Ursprünge des VW-Falls der Fazenda Cristalino
Die Bundesstaatsanwaltschaft in Brasilien hat Medienberichten zufolge ein Ermittlungsverfahren gegen Volkwagen im Fall der damaligen VW-Fazenda Rio Cristalino im brasilianischen Bundesstaat Pará eingeleitet. Dabei geht es um "die Ausbeutung von Sklavenarbeit, Menschenhandel und systematische Menschenrechtverletzungen in Hunderten von Fällen", so NDR, SWR und Süddeutsche Zeitung. Die Vorwürfe beziehen sich auf den Zeitraum von 1974 bis 1986, als VW do Brasil - steuerlich durch die SUDAM-Abschreibungsmöglichkeiten begünstigt - die Rinderfarm Rio Cristalino erwarb und betrieb und dort zu einem der größten Rinderproduzenten aufsteigen wollte. Die nun von der Anzeige der Bundesstaatsanwaltschaft vorgebrachten Vorwürfe, nach denen auf dem Volkswagen-Farmgelände Menschenrechtsverletzungen wie Sklavenarbeit, Schuldknechtschaft, Schläge und Prügel an Leiharbeitern verübt wurden, die für Rodungsarbeiten eingesetzt wurden, und die der Anzeige zufolge mit Wissen des VW-Vorstands in Wolfsburg erfolgten, stammen aus dem Jahre 1983. Damals deckte der Priester Ricardo Rezende von der Landpastorale CPT diese Vorgänge auf, machte sie in Brasilien öffentlich - und die Brasilien Initiative Freiburg war laut Auskunft von Ricard Rezende maßgeblich an der internationalen Bekanntmachung der Vorwürfe beteiligt. Praxis "internationaler Solidarität", nannte Rezende dies in einer online übertragenen Veranstaltung im Juli 2020, die in voller Länge hier zu sehen ist (ab Min 38:17). https://www.kritischeaktionaere.de/volkswagen/volkswagen-und-die-brasilianische-militaerdiktatur/
Ricardo Rezende berichtete gestern der Tageszeitung Folha de São Paulo, was er im Juli 2020 auf dem Online-Seminar zu den historischen Vorgängen berichtet hatte: 1978 zog Padre Ricardo Rezende in den Süden von Pará, wo er die Landpastoralkommission des CNBB (Nationale Konföderation der brasilianischen Bischöfe) für die Region Araguaia und Tocantins koordinierte. "Ich hatte viele Geschichten über die VW-Farm gehört, aber immer erst, nachdem die Tatsachen eingetreten waren, und dann haben wir auf die Gelegenheit gewartet, um eine Anzeige zu machen."
Dies geschah 1983 als Rezende drei junge Männer kennenlernte, die gerade von der Fazenda Volkswagen geflohen waren. Sie hatten gegenüber ihren Aufseher:innen behauptet, dass sie zum Militärdienst müssten, so konnten sie dort wegfahren, obwohl sie eigentlich noch Schulden bei ihren Vor-Ort-Arbeitsvermittler:innen, den so genannten gatos, zu begleichen hatten. Diese Schulden, so der Priester, seien Schuldknechtschaft. Aufgrund der Beschwerde der Arbeiter:innen gelang es Rezende, eine Delegation von Abgeordneten des Bundesstaates São Paulo, wo Volkswagen do Brasil seinen Hauptsitz hat, zusammen zu versammeln und die Volkswagen-Fazenda im Bundesstaat - mit Wissen des Vorstands - aufzuchen und den Vorwürfen nachzugehen. Der Priester Ricardo Rezende berichtet, dass die Delegation kurz vor dem Grundstück auf einen der so genannten Gatos, den Arbeitsvermittler:innen für VW - traf. Laut Rezende zeigte der Mann der aus São Paulo kommenden Delegation voller Empörung seinen Pickup, auf dessen Ladefläche sich ein gefesselter Arbeiter befand. Die Empörung des gatos bezog sich darauf, dass der Arbeiter versucht hatte zu fliehen, so Rezende. "Er hatte nicht das geringste Bewusstsein für die Verbrechen, die sie [die gatos] auf der Fazenda begingen", so Rezende.
Auf dem Gelände der VW-Fazenda kam laut Aussage Rezendes ein Mann auf ihn zu, der offensichtlich starkes Fieber hatte, wohl infolge der Malaria, und der ihn um Hilfe bat, ihn von dort wegzubringen, so der Priester. Der Chef der VW-Farm, der Schweizer Friedrich Brügger, hätte daraufhin die Beherrschung verloren und den Priester und den kranken Mann angeschrien, aber dann später wieder versucht, den schlechten Eindruck wieder gut zu machen. Beim Abendessen bot er Rezende ein Geschenk an, zur Versöhnung gewissermaßen. Rezende aber erkannte, dass das Geschenk eine Schnitzerei aus Holz, aus Brasilholz, war, welches gesetzlich stark geschützt ist und nicht gerodet werden darf.
Rezende weigerte sich, das Geschenk anzunehmen und verlangte von Brügger, den Mann zu sprechen, der ihm um Hilfe gebeten hatte, so berichtet es Rezende in dem Live-Video der Veranstaltung aus dem Juli 2020. Nach einem erneuten Wutausbruch Brüggers aber sei es Rezende gelungen, noch einmal mit dem Mann zu sprechen und er habe ihn an den Bischof seiner Heimatstadt verwiesen, wenn er dort ankomme, solle er diesen Bischof von Padre Rezende grüßen, so dass er dann erfahre, dass alles gut mit ihm gegangen sei. Rezende räumt ein, dass dies wohl zu leichtgläubig und eine Fehleinschätzung der Situation war. Er habe nie weder etwas von dem Mann gehört.
Trotz der Berichte von Rezende und den Abgeordneten wurde dieser Fall der VW-Farm und des Vorwurfs der Sklavenarbeit in Brasilien in der Presse zunächst nicht weiter verfolgt. Rezende berichtet in dem Video, dass es eine kurze Meldung darüber nur bei O Globo gegeben habe. Diese Meldung aber habe es über verschlungene Kanäle nach Deutschland geschafft und dort, so Rezende auf der Veranstaltung, habe sich die Brasilien Initiative Freiburg des Themas angenommen, darüber berichtet und Gewerkschafter informiert und so den Fall international ins Rollen gebracht. Praktische Solidaritätsarbeit nennt Rezende das. So kam es, laut Rezende, dass der Fall erst im Ausland in den Medien berichtet wurde, bevor er dann wieder in Brasilien Thema wurde. Über die Entwicklung der damaligen Berichterstattung in den deutschen, internationalen und brasilianischen Medien kann hier nachgelesen werden: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_Russau_Abstauben_in_Brasilien.pdf#page=234
Die brasilianische Bundesstaatsanwaltschaft hat Volkswagen Brasilien am 19. Mai 2022 über das Ermittlungsverfahren in Kenntnis gesetzt und die Firmenvertreter:innen zu einer Anhörung am 14. Juni vor dem Arbeitsgericht in der Hauptstadt Brasilia vorgeladen. Auf Anfrage der drei Medienhäuser wollte sich das Unternehmen mit Verweis auf das mögliche juristische Verfahren in Brasilien nicht äußern, versicherte aber, dass man die Vorwürfe sehr ernst nehme.