Deutsche Welle feuert brasilianischen Kolumnisten wegen Kritik an Bolsonaro
"Die Brasilianer werden erst frei sein, wenn der letzte Bolsonaro in den Gedärmen des letzten Pfarrers der Universalkirche erhängt wird." - mit diesen Worten drückte der brasilianische Autor João Paulo Cuenca in einer Kolumne für die Deutsche Welle scharfe Kritik an der engen Verbindung zwischen der rechtsradikalen Regierung und den fundamentalistischen Evangelikalen aus, die in Brasilien immer mehr an Macht gewinnen1. Daraufhin bezichtigte die Deutsche Welle, bei der JP Cuenca eine regelmäßige Kolumne schrieb, ihn der Hassrede und Gewaltverherrlichung und kündigte ihm öffentlich und ohne vorherige Rücksprache die Zusammenarbeit. Was die Deutsche Welle nicht verstanden zu haben schien, ist, dass es sich um eine Abwandlung eines viel älteren Zitats des französischen Jean Meslier handelt, der im 18. Jahrhundert lebte. Der katholische Priester, der sich später zum Religionskritiker entwickelte, sagte damals: „Es wäre gerecht, dass alle Großen der Erde und alle Adligen mit den Gedärmen der Priester erhängt und erwürgt werden sollten."2 Eine große Anzahl an Journalist*innen, Schriftsteller*innen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen aus Deutschland und Brasilien unterzeichneten daraufhin einen offenen Brief an die Deutsche Welle, der den Rausschmiss Cuencas kritisierte und in dem sie Besorgnis in Bezug auf Meinungsfreiheit und Zensur ausdrückten. Der öffentlich-rechtliche Auslandsrundfunk behielt jedoch seine Position bei und verkündete, für Gewaltaufrufe gebe es es keine Rechtfertigung, Zitat hin oder her. Bolsonaro und seine Anhänger erfreuten sich sichtlich, Präsidentensohn Eduardo Bolsonaro meldete sich persönlich auf Twitter: „Glückwunsch Deutsche Welle. Es gibt noch Hoffnung für einige Teile der Medien.“3 Zuvor hatte Cuenca Hassnachrichten bis hin zu Morddrohungen von Bolsonaristas erhalten. Er wollte sogar noch den Hintergrund und die metaphorische Natur seiner Aussage klarstellen, doch Deutsche Welle kam ihm mit der Kündigung zuvor.
Der Autor schrieb nach den Ereignissen eine Stellungnahme und Replik an Deutsche Welle, die im Onlinemagazin Telepolis veröffentlicht wurde4:
„Wenn sich ein Sendechef an den Gedärmen eines Schriftstellers erhängt, hat der brasilianische Faschismus gewonnen.“
João Paulo Cuenca
1. Am Dienstag vorletzter Woche, am 16. Juni, las ich, dass die brasilianische Bundesregierung 30 Millionen Reais (gut 4,88 Millionen Euro) für Radio- und Fernsehsender evangelikaler Pastoren freigegeben hat, die Präsident Jair Bolsonaro unterstützen. Und bevor ich mir einen Kaffee machen ging, postete ich auf Twitter, zwischen Anführungszeichen: "Der Brasilianer wird erst dann frei sein, wenn der letzte Bolsonaro in den Gedärmen des letzten Pastors der Universalkirche erhängt wird."
Für die Zwecke der Satire habe ich eine bekannte Redewendung aus dem 18. Jahrhundert paraphrasiert, die Voltaire und Diderot, zwei Vertretern der Aufklärung, zugeschrieben wird. Eigentlich aber wurde sie von dem französischen Abt Jean Meslier (1664-1729) verfasst. Der Satz, der sich ursprünglich auf Könige und Priester berief, wurde mehrfach abgewandelt wieder aufgegriffen. Er wurde zum geflügelten Wort, das sich Anarchisten, Liberale, Anarchokapitalisten, Umweltschützer - Menschen von links und rechts - aneigneten.
Einige brasilianische Beispiele. Im Jahr 2015 veröffentlichte der linke Intellektuelle Vladmir Safatle in der Folha de São Paulo diese Variante: "Sie (die Korruption) wird erst dann enden, wenn der letzte korrupte PT-Politiker in den Gedärmen des letzten korrupten PSDP-Politikes erhängt wird."
Eine schnelle Google-Suche zeigt, dass der Hauptideologe des Bolsonarismus, der rechtsextreme Denker Olavo de Carvalho, die Konstruktion mindestens zweimal verwendet hat: "Der Kapitalismus wird erst dann überwunden sein (...), wenn der letzte Marxist an den Gedärmen des letzten 'homo oeconomicus' erhängt wurde." Und: "Die Welt wird erst dann glücklich sein, wenn der letzte Bildungsminister an den Gedärmen des letzten Funkeiro (DJ des in Favelas beliebten Rio-Funk) erhängt wird."
[...]
Diejenigen, die mich verleumderisch beschuldigt haben, "die Hinrichtung des Präsidenten zu fordern", scheinen Schwierigkeiten mit dem Verständnis von zwei Dingen zu haben: erstens was eine Metapher ist, zweitens der metaphorische Aussage von Mesliers Satz: Die Kirche und der Adel (oder andere "Familien" wie sie) müssen sich im Namen des Volkes von der republikanischen Macht fernhalten.
2. Das Chaos, das meine sozialen Netzwerke rasch erfasste - eingeschlossen Drohungen von physischer Gewalt und von Gerichtsverfahren - ist das Ergebnis sozialer Mechanismen, die unter dem Bolsonarismus perfektioniert und konsolidiert wurden. Ein Ergebnis war die umgehend einsetzende und sehr erfolgreiche Diffamierungskampagne, die zu meinem Rausschmiss bei der Deutschen Welle Brasilien führte, wo ich bis dahin Kolumnen veröffentlichte.
Die Vertreter des Regierungskabinetts des Hasses und ihre (Internet-)Robots identifizieren ihre Ziele schnell und gehen umgehend zum Angriff über. Es handelt sich um einen relativ wirksamen und billigen Mechanismus der psychologischen Nötigung und Zensur. Es geht hier alleine darum, Gegenstimmen zum Schweigen zu bringen - und diesmal kann der brasilianische Neofaschismus sich auf die Komplizenschaft einer deutschen öffentlich-rechtlichen Anstalt stützen, der Deutschen Welle.
Da die redaktionellen Verantwortlichen in Bonn gebildete Erwachsene mit uneingeschränkten kognitiven Funktionen sind, die meine antifaschistischen Texte in den letzten Monaten gelesen und bearbeitet haben, glaube ich, dass sie wissen, was eine Metapher ist. Ich bot ihnen noch an, einen Text oder eine Notiz zur Klärung des Satzes zu verfassen. Aber sie kamen dem zuvor und veröffentlichten eine ungeschickte und verlogene Notiz, in der sie mich eines Verbrechens bezichtigten, das ich nicht begangen habe: Hassrede.
Daher bleibt nur ein Zweifel: Entweder haben sie dem Druck des Regierungskabinetts des Hasses in Brasilien nachgegeben, oder die Tentakel dieser Regierung reichen über das am besten ausgestattete (und am wenigsten gebildete) Außenministerium in der Geschichte des Landes bis nach Deutschland.
3. Der Lärm der faschistischen Horden, die nun die Entscheidung der Deutschen Welle feiern, zeigt auf, in welchem Maße die Botschaft falsch ist, die das Unternehmen aussendet. Noch gravierender: Sie macht Nötigung und Zensur für die Künstler und Intellektuellen, die sich gegen die Regierung stellen, zu einem Normalzustand, der für die andere Seite, die keine Wahlmöglichkeiten hat, nicht besteht.
Ganz im Gegenteil. Wie bereits erwähnt, unter anderem in Kolumnen für Deutsche Welle Brasilien, haben die Regierung Bolsonaro und ihre Unterstützer die Hassrede in Brasilien in die "neue Normalität" verwandelt. Es wäre ironisch, wenn es nicht tragisch wäre: Die gewählte Regierung, die versprach, auf Gegner zu schießen, und deren Mitglieder und Anhänger Parolen wiederholen und Nazi-Fahnen tragen, beschuldigte mich fälschlicherweise des Verbrechens, das sie täglich begeht.
Und nun hat sich die Deutsche Welle in den Chor ihrer Verleumdungskampagne eingestimmt.
Autorin: Hannah Dora