Bulle, Bibel, Blei
medico: Wie stellt sich die Situation nach der Wahl von Bolsonaro zum Präsidenten dar?
Vitor: Wir vom MTST und die Companheiros der Landlosenbewegung MST wurden vom gerade gewählten Präsidenten als „Terroristen“ gebrandmarkt. Das ist ein Angriff auf alle sozialen Bewegungen und die gesamte Opposition Brasiliens. Wir nehmen diese Drohungen sehr ernst. Guilherme Boulos, der nationale Koordinator vom MTST, ist besonders gefährdet. Es wurden bereits drei Anzeigen gegen ihn eingereicht und der künftige Präsident hat in seinem ersten Interview nach der Wahl nur eine Person namentlich als Terroristen diffamiert: Guilherme Boulos.
Wenn ihr heute auf die Ermordung Marielle Francos zurückblickt: War das „nur“ ein Mord mehr in einer langen Liste von Morden an Aktivistinnen und Aktivisten oder war es ein Vorausgriff auf das, was sich nun entwickelt?
Juliana: Brasiliens Kolonialgeschichte liegt noch nicht lange zurück und es hat zudem eine Geschichte als Sklavenhaltergesellschaft. Aus diesem Grund ist Brasilien heute ein Land mit extremer Ungleichheit. Die Gewalt ist eine Konsequenz aus dieser Ungleichheit. Als Marielle Franco exekutiert wurde, zeigte sich zum wiederholten Mal: Wer in Brasilien Aktivismus betreibt, der begibt sich in Lebensgefahr. Hinzu kommt, dass sich seit den großen Protesten von 2013 ein Wandel in der Gesellschaft vollzieht: Konservative Kreise versuchen seither, den Aktivismus stärker zu kriminalisieren. Mit dem Aufstieg von Jair Bolsonaro werden wir eine Institutionalisierung dieser Gewalt erleben. Wir als Bewegung schwarzer Frauen interpretieren die Ermordung Marielle Francos als Teil des Genozids, der in Brasilien an der schwarzen Bevölkerung fortlaufend begangen wird. Natürlich erhielt ihre Ermordung viel mehr Aufmerksamkeit, weil sie Parlamentarierin war. Aber generell gilt: In meinem Land sind diejenigen am gefährdetsten, die schwarz sind, die Frauen sind, die LGTBI* sind.
Gibt es in Brasilien eine faschistische Bewegung? Oder hat sich ein Teil der Bevölkerung verführen lassen?
Vitor: Es gibt beides. Wer sich in Brasilien bewegt, weiß, dass nicht 55 Prozent der Bevölkerung eine faschistische Gesinnung haben. Viele Leute, die eigentlich für Grundrechte einstehen, haben sich einwickeln lassen und von einem Hass auf die „Linke“ und die Arbei terpartei PT treiben lassen. Nicht alle Anti-PT-Wählerinnen und Wähler sind Faschisten. Aber es gibt einen faschistischen Teil der Bevölkerung, Leute, die gewalttätig sind und die mit der Wahl Bolsonaros ihre Zurückhaltung aufgeben und die Gewalt auf die Straßen tragen. Solche Typen stellen jetzt die Mehrheit im brasilianischen Nationalkongress, aber auch in den Polizei- und Sicherheitsapparaten, zudem sind sie stark im Justizwesen und über die evangelikalen Kirchen auch in den Armenvierteln. Darüber hinaus besitzen sie einige der größten Fernsehkanäle. Globo, der größte Medienkonzern des Landes, hat nicht direkt für Bolsonaro geworben, aber Record und SBT, der zweit- und drittgrößte Kanal, haben das getan. Vor wenigen Tagen hat SBT eine Werbung geschaltet, deren Wahlspruch direkt aus der Militärdiktatur übernommen wurde: „Brasil: ame-o ou deixe-o“ („Brasilien: liebe oder verlasse es“). Diesen Wahlspruch schuf die Militärdiktatur in ihren schlimmsten Jahren. Bolsonaro bezieht sich direkt darauf. Wer Opposition sein möchte, habe zwei Optionen: Gefängnis oder Exil.
Aber die Enttäuschung über die PT erklärt noch nicht, warum man einen Mann wählt, der so offenkundig faschistische Töne von sich gibt.
Juliana: Im Zentrum des Bolsonaro-Wahlkampfes stand der „Anti-System“-Diskurs. Die PT ist leider in den vielen Jahren ihrer Regierung zum Symbol der Korruption geworden. Die Rechte, aber auch die Gerichte haben sie zum Sündenbock des Systems gestempelt. Und so wurde die PT zur Metapher all dessen, was nicht funktioniert. Dieses vereinfachende und spaltende Denken führt geradewegs in die Forderung, dass sie alle ins Gefängnis gehörten. Dagegen war es nahezu unmöglich zu argumentieren. Bolsonaro hat es geschafft, verschiedenste Interessen unter einen Hut zu bringen. Auch den neoliberalen Finanzmarkt hat er mit der Ernennung des neoliberalen Chicago-Boys Paulo Guedes zum Superminister einbinden können. Zudem genießt er die Unterstützung der drei wichtigsten überparteilichen Fraktionen im brasilianischen Nationalkongress – die der „drei B“: „boi, bíblia e bala“ („Bulle, Bibel, Blei“). Und es ist ihm gelungen, den unpolitischen Teil der brasilianischen Gesellschaft zu gewinnen.
Wir stehen vor einem verheerenden Szenario. In diesen Wahlen wurde aus wahr falsch und aus falsch wahr. Dabei wurden die traditionellen Partei-Konstellationen von Mitte-Rechts und Mitte-Links gänzlich aufgerieben. Vitor: Das Hauptmotiv für die Wahl Bolsonaros scheint mir auf der Ebene der Emotionen zu liegen, Fakten waren zweitrangig: Bolsonaro erschien als ehrlicher Antipolitiker, ist aber seit 29 Jahren in der Politik. Er bezeichnet sich als Militär, wurde aber aus dem Heer entlassen, weil er mit Bombenanschlägen gedroht hatte. Und in den fast 30 Jahren seiner Politikerkarriere hat er nichts getan. Er hat sich in seiner politischen Laufbahn mehr Häuser gekauft, als politische Projekte angestoßen, heißt es in einem Witz über ihn.
Das klingt wie das Ende der Politik. Neben der Verbindung von Faschismus und Feudalismus hat die Kampagne von Bolsonaro auch hypermoderne Technologien eingesetzt.
Vitor: Ja. Er hat 140 Millionen WhatsApp-Nutzerinnen und -Nutzer mit seinen auf sie persönlich zugeschnittenen Botschaften eingedeckt. Jüngsten Presseberichten zufolge haben Bolsonaro nahestehende Unternehmer 12 Millionen Reais an eine Firma gezahlt, damit diese Wahlkampfinhalte für WhatsApp produziert und verbreitet. Dies ist ein klarer Verstoß gegen die erlaubte Wahlkampffinanzierung. Aber es ist auch ein radikaler Schnitt mit klassischen Wahlkampfnarrativen. Denn nun haben Zielpersonen individualisierte Botschaften erhalten, die auf ihre Interessen zugeschnitten waren. Ein Schwarzer, der etwas gegen Schwule hat, bekam die Nachricht, dass Bolsonaro nichts gegen Schwarze habe, aber Homosexualität ablehne. Für jeden und jede das passende Angebot.
Wie kann ein demokratischer Widerstand gegen Bolsonaro unter diesen schwierigen Bedingungen aussehen?
Vitor: Wir müssen zum einen Widerstand gegen die institutionellen Angriffe leisten. Dafür ist es notwendig, eine breite gesellschaftliche Front des demokratischen Widerstands zu bilden. Das würde auch Leute der politischen Rechten einschließen, beispielsweise Brasiliens Ex-Präsident Fernando Henrique Cardoso, der in seiner Partei PSDB von der antidemokratischen Rechten an den Rand gedrängt wurde. Das heißt, selbst hier sind diejenigen ins Hintertreffen geraten, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen. Wir brauchen eine gemein same Front, die von den sozialen Bewegungen bis hin zu solchen Leuten wie Cardoso reicht. Dann hätten wir eine Chance, im Kongress Widerstand zu leisten und gemeinsam mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Intellektuellen die Demokratie zu verteidigen.
Welche Rolle würde die PT in einem solchen Bündnis spielen?
Juliana: Ich denke, es wäre ungerecht, die PT nicht in diese neue Allianz aufzunehmen. Die PT hat im Laufe der Jahre viel politische Erfahrung eingebracht, die zu einem nicht geringen Teil in Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen entwickelt worden ist. Aber der gesamte Wahlprozess hat klar gezeigt, dass die PT unfähig war, eine Antwort auf die momentan dringlichsten Fragen zu liefern. Ich sehe deshalb nicht, dass die PT derzeit diese demokratische Front anführen kann.
Vitor: Als die PT stärker wurde und an die Macht kam, hatte sie zwei wichtige Stützen bei der Arbeit an der Basis, auf den Straßen und in den Vierteln: zum einen die kirchlichen, vor allem die katholischen Basisgruppen, zum zweiten die Gewerkschaften. Beide sind heute nicht mehr so einflussreich wie damals. Bolsonaro hat heute die evangelikalen Kirchen auf seiner Seite. Die sind überall, auf den Straßen, in allen Gemeinden. Wir haben unterschätzt, wie wichtig es ist, Auge in Auge mit den Menschen zu reden. Das wurde erst in der letzten Woche vor dem zweiten Wahlgang gemacht, aber eigentlich müsste es ein permanenter Prozess sein. In unserem von medico unterstützten Projekt helfen wir zum Beispiel Leuten dabei, sich ihre eigene Arbeitsstelle zu schaffen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Dabei entsteht ein Vertrauensverhältnis, in dem sich ein kons truktives, kollektives und langanhaltendes Bewusstsein entwickelt. Das ist ein Weg, sich gegen die simplen und aggressiven Botschaften Bolsonaros zu immunisieren.
Interview: Katja Maurer und Moritz Krawinkel
Übersetzung: Christian Russau