Brasilien vor den Wahlen: Menschenrechtsaktivist:innen berichten der Interamerikanischen Menschenrechtskommission von zunehmender politischer Gewalt
Am Donnerstag trafen sich mehrere brasilianische Menschenrechtsaktivist:innen mit Vertreter:innen der Interamerikaischen Menschenrechtskommission. Ziel des internen Treffens, von dem der UOL-Korrespondent Jamil Chade berichtete, war, die Kommission und weitere internationale Gremien dazu zu bewegen, dass es eine vermehrte internationale Beobachtung der Menschenrechtslage im Vorfeld der brasilianischen Wahlen geben solle. Laut dem Pressebericht endete das Treffen mit der Zusage der Interamerikanischen Kommission, alle zwei Monate eine Sitzung abzuhalten, um sich über die Situation in Brasilien genauer zu informieren. Es werde auch eine interne Sitzung stattfinden, um die von der Zivilgesellschaft gemeldeten Probleme zu bewerten und deren Berichte zur Situation der verschiedenen Bereiche in Menschenrechtsfragen zu analysieren, wobei die Anerkennung der Gewalt gegen schwarze, indigene und LGBTQIA+ und Frauen im Vordergrund stehe, so der Bericht. Auf dem Treffen berichtete die Präsidentin der Interamerikanischen Kommission, Julissa Mantilla Falcón, dass sie bereits im Dialog mit der OAS und dem UN-Hochkommissar für die Beobachtung der brasilianischen Wahlen durch ausländische Stellen stehe.
Die Menschenrechtsverteidiger:innen stellten das breite Panorama der Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld der brasilianischen Präsidentschafts- und Kongresswahlen dar. Camila Gomes von der Organisation Terra de Direitos und der Plataforma Dhesca legte die ernüchternde Bilanz vor, dass bereits "die Wahlen 2018 waren von einem noch nie dagewesenen Ausmaß an Gewalt, wie etwa Morden, geprägt. Wir gehen davon aus, dass diese Wahlen gewalttätiger ausfallen werden, denn die Bewaffnung hat sich verdoppelt, die Gewalt gegen Menschenrechtsaktivisten und die politische Gewalt haben zugenommen", sagte sie, so Jamil Chade in seinem Bericht.
Benny Briolly, eine transsexuelle Stadträtin in Niterói, Bundesstaat Rio de Janeiro, berichtete, wie sie bereits Opfer von Angriffen wurde. "Ich komme aus einer Sitzung, in der ich gerade angegriffen wurde", sagte sie. "Ich kann vielleicht nicht einmal viel sagen. Ich bin Opfer einer Reihe von Morddrohungen, Beschimpfungen und Belästigungen geworden. Diese Woche hat ein Auto meinen Fahrer verfolgt", sagte sie. Ihr zufolge gab es bereits mehr als 20 Morddrohungen gegen ihre Person. "Es wird immer schwieriger, die Gesetzgebungstätigkeit auszuüben. Ich bin die erste Transfrau, die im Bundesstaat Rio de Janeiro, der Wiege des Bolsonarismus, ein legislatives Amt bekleidet. Dies ist eine ständige Belastung in meinem täglichen Leben. Ich kann nicht mehr auf die Straße gehen, ohne Opfer von Gewalt zu werden, wie es gerade geschehen ist", berichtet sie. "Ich habe im Plenum [der Stadtverordnetenversammlung] über religiösen Rassismus gesprochen, und die Sitzung wurde unterbrochen und gestürmt. Und es wurde nichts getan, es gibt keinen Schutz. Die Polizei ist hier im Plenarsaal. Und das wird immer schlimmer, bis zu dem Punkt, an dem ich mein Leben nicht mehr leben kann", sagte sie.
Als Vorkandidatin in Rio sagt sie, die Angriffe nähmen vor allem infolge von Fake News zu. "Es gibt eine Reihe von Beschränkungen für mein Recht zu kommen und zu gehen. Meine Integrität ist die ganze Zeit bedroht", erklärte sie. Nach ihren Angaben fließen 60 Prozent ihres Gehalts in die Finanzierung ihrer Sicherheitskosten und des Kraftstoffs für einen gepanzerten Wagen. "Mein gesamtes Gehalt fließt in die Gewährleistung meiner körperlichen Unversehrtheit. Einige meiner Auftritte sind eingeschränkt, ich kann eine Reihe von Aktivitäten in der Legislative nicht durchführen, weil es keine Sicherheit gibt. Polizeiliche Ermittlungen liefern keine Antworten auf Fälle. Das wird explodieren", beklagte Benny.
Valdecir Nascimento von der Plattform der sozialen Bewegungen für die Reform des politischen Systems erklärte, "von dem Moment an, als schwarze Frauen in die Räume der politischen Macht eintraten, begannen wir, das Phänomen der politischen Gewalt zu erleben, denn diese Frauen hatten bereits im Laufe ihrer Geschichte des sozialen und politischen Kampfes unter politischer Gewalt gelitten und begannen, eine spezifische Art von Gewalt zu erleiden, die im Rahmen des Parlaments auftritt", so die schwarze Menschenrechtsverteidiger:in. Es käme zu Gewalt und zu Rassismus, sagte sie.
Thiago Firbida, Vertreter des brasilianischen Komitees zur Verteidigung von Menschenrechtsverteidiger:innen, betonte vor dem internationalen Gremium, dass es einen deutlichen Prozess der Kriminalisierung und gerichtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverteidiger:innenn gebe, der mit einem "Hassprojekt" einhergehe, das ein noch nie da gewesenes Ausmaß erreicht habe. "Wir sprechen von digitalen Angriffen, die nicht neu sind, die aber jetzt ein hohes Maß an Raffinesse erreichen - sowohl bei der aktiven Überwachung und Kontrolle als auch bei direkten Angriffen durch das Hacken von Konten und den Zugriff auf sensible Daten", warnte Thiago. Ihm zufolge erlebt Brasilien derzeit eine deutliche Zunahme der politischen Gewalt. "Wir erreichen bereits Rekordzahlen von Fällen auf verschiedenen Ebenen. All dies geschieht vor dem Hintergrund, dass der Staat auf diese Art von Verstößen überhaupt nicht reagiert", sagte er.
Gisele Barbieri von der Plataforma Dhesca wies die Vertreter:innen der Interamerikanischen Kommission auf die Allianz zwischen den Parteien im Kongress und der Regierung Bolsonaro hin, die auf eine "Militarisierung des Staates abzielt, indem sie Vorschläge vorschlägt und verabschiedet, die die Zunahme des Autoritarismus, der Hassreden, der hohen Gewaltraten, auch durch staatliche Agenten, der erhöhten Tötungsrate der Polizei, der Einengung des zivilgesellschaftlichen Freiraums sowie der sozialen Teilhabe und so mit zunehmender Gewalt und mit Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidigern versuchen, die Situation gezielt zu verschärfen." All dies geschehe in einem Szenario, "das sich schon lange vor den Wahlen als gewalttätig und gefährlich für die Kandidaten oder einfach für diejenigen erwiesen hat, die ihre Unzufriedenheit mit der derzeitigen Regierung bekunden", warnte Gisele. Die Regierung Bolsonaro zeige demgegenüber Gleichgültigkeit, was die Zivilgesellschaft sage und was dies für den demokratischen Prozess, insbesondere in einem Wahljahr, bedeute. Gisele erläuterte, dass die Abgeordnetenkammer in Brasília bereits angekündigt habe, dass sie im Juni im Plenum über Vorschläge im Bereich der öffentlichen Sicherheit abstimmen werde und dass die Zivilgesellschaft eine weitere Offensive auf sie erwarte, beispielsweise den Sicherheitskräften mehr Befugnisse für Gewalttaten zu geben und dass die Legislative versuche, die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft für Demonstrationen weiter einzuschränken.