Brasilianische Agrarlobby fordert Austritt des Landes aus der ILO-169 Konvention zum Schutze der Rechte der indigenen Völker
Brasiliens Agrarlobby lässt in ihrem rücksichtlosen Kampf gegen kleinbäuerliche Strukturen und gegen indigene Territorien nicht locker, im Gegenteil: Sie verschärfen die Angriffe. Dies zeigt sich nicht nur in den Versuchen, die indigenen und sozialen Bewegungen auf dem Land zu kriminalisieren und durch einen Diskurs des Hasses gesellschaftliche Narrative zu etablieren, die gezielte Übergriffe auf Indigene und andere traditionelle Territorien und Landbesitze zu stimulieren, sondern auch an der strukturell-finanziellen Aushöhlung von staatlichen Umwelt- und Menschenrechtsorganen wie Ibama, ICMBio oder FUNAI. Dies zeigt sich auch in der Kürzung der staatlichen Programme wie Kleinkreditförderungen oder Aufkaufprogrammen regionaler, landwirtschaftlicher Produkte wie PAA oder PNAE, aber eben auch in diversen Gesetzesvorhaben wie der PL490, die eine Stichtagsregelung, den sogenannten „marco temporal“, vorsieht, um die juristischen Abläufe der Demarkationsprozesse indigener Territorien im Sinne der Interessen der Agrarlobby anzupassen. Dazu zählen auch die beiden auch als „Landraubgesetze“, „PL da grilagem“, genannten Gesetzesvorhaben, eines im Nationalkongress, die PL2633/2020, die andere im Senat als PL 510, die die illegale Aneignung von Land nachträglich legalisieren sollen – und, last but not least, Bolsonaros PL 191, die Bergbau, Wasserkraft und industrielle Landwirtschaft in indigenen Territorien legalisieren soll.
Und nun gesellt sich dazu der Versuch, Brasiliens Austritt aus der Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in die Wege zu leiten.
Der offizielle parteiübergreifende Zusammenschluss im Brasilianischen Nationalkongress, die Frente Parlamentar da Agropecuária (FPA), hat am 12. August dieses Jahres ein Dokument auf ihrer Interpräsenz veröffentlicht, in der sie den Austritt aus der ILO 169 fordert. Dort argumentiert die Farmerfraktion, die ILO 169 beschneide Brasilien in den „Befugnissen zur Gesetzgebung, Verwaltung, Ausarbeitung und Bewertung nationaler und regionaler Entwicklungspläne und -programme, zum Bau von Straßen, Wasserkraftwerken und anderen Infrastrukturmaßnahmen - kurzum, zu souveränen Entscheidungen über das, was für den Fortschritt und die Entwicklung des Landes am nötigsten“ ist. Daher fordert die FPA, dass Brasilien zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus der ILO 169 austrete. Nach Regularien der ILO kann dies alle zehn Jahre geschehen, da Brasilien die ILO 2002 unterschrieben, könnte dieser Schritt bis zum 5. September 2022 vollzogen werden, so die Farmer:innenlobby.
Dies deckt sich mit Bolsonaros Vorstellungen. Denn auch er hatte bereits kurz nach seinem Amtsantritt verlautbart, der Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sei dringend notwendig, um die Entwicklung des Landes nicht weiter zu behindern. Als erste schickte die Bolsonaro-Regierung im März 2019 Brasiliens Botschafterin bei der UNO in Genf, Maria Nazareth Farani Azevêdo, vor, die öffentlich auf die Möglichkeit verwies, dass Brasilien die ILO-Konvention 169 verlassen könnte. Dann folgte im Oktober 2019 das direkt dem Präsidenten Brasiliens unterstellte Sicherheitskabinett GSI, das laut einem Pressebericht vom 4. Oktober 2019 die Bundesanwaltschaft AGU aufforderte, ein wegweisendes Urteil des Obersten Gerichtshofs STF aus dem Jahre 2006, das die Rechtsgültigkeit der von Brasilien 2002 ratifizierten ILO-Konvention 169 auch auf Quilombolas (Nachkommen der Sklaverei entflohener Schwarzer) bestätigte, auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Laut dem damaligen Pressebericht erinnert das GSI-Dokument ebenfalls an den nächstmöglichen Kündigungszeitraum, sollte Brasilien sich entscheiden, aus der ILO-Konvention 169 auszutreten: Dies könne, so das GSI-Dokument, zwischen dem 5.9.2021 und 5.9.2022 geschehen. Als Begründung für einen möglichen Austritt Brasiliens erwähnt das GSI-Dokument die "Auswirkungen der ILO-Konvention 169 auf die Entwicklung des Landes". Das GSI-Dokument schlägt die Einrichtung einer Arbeitsgruppe vor, die einen neuen Vorschlag für ein Präsidaldekret erarbeiten solle, das den Modus Operandi der "vorherigen Konsultation indigener Völker und Stämme" neu regeln soll. Auch hier liefert das mittlerweile mehrheitlich von Militärs dominierte GSI gleich eine Begründung: die bisherige Anwendung der ILO 169 beeinträchtige "Projekte mit nationalem Interesse".
Bolsonaro selbst hat nie einen Hehl aus seinem Hass auf Indigene gemacht. "Nicht einen Zentimeter wird mehr als indigenes Reservat demarkiert werden", sollte er zum Präsidenten Brasiliens gewählt werden, tönte der damalige Abgeordnete und rechtsextreme Hauptmann a.D., Jair Bolsonaro, im April 2017. "2019 werden wir das indigene Reservat Raposa Serra do Sol zerlegen. Wir werden allen Ranchern Waffen geben", kündigte er bereits 2016 an. Drei Jahre später wurde er Präsident von Südamerikas größtem Staat. Entsprechend fallen nun seine Angriffe auf indigene Rechte aus. Und es zeigt sich im übrigen in seiner Politpraxis: Die von der Verfassung von 1988 vorgeschriebenen neuen Ausweisungen der indigenen Gebiete als rechtlich geschützte Territorien ("Terra Indígena") sind unter der Bolsonaro-Regierung entsprechend auf Null zurückgegangen.
Die ILO-Konvention 169 wurde von Brasilien 2002 unterzeichnet, 2004 ratifiziert und durch ein Präsidialdekret in nationales Recht umgesetzt. Laut Lesart des Obersten Gerichtshofs Brasiliens STF stehen internationale, von Brasilien unterschriebene Rechtsverträge unterhalb der Rechtsgültigkeit der Verfassung Brasiliens, aber oberhalb jedweden Gesetzes. Dies würde im Falle der verschiedenen oben genannten Gesetzesinitiative von Jair Bolsonaro und den ruralistas zur wirtschaftlichen Inwertsetzung der indigenen Territorien bedeuten, dass das in Art. 6 und 7 der ILO-Konvention 169 festgelegte Recht auf freie, vorherige und informierte Konsultation dem Präsidenten Jair Bolsonaro einen Strich durch die Rechnung machen könnte. In Artikel 6, Satz 2 der ILO-Konvention 169 heißt es: "Die in Anwendung dieses Übereinkommens vorgenommenen Konsultationen sind in gutem Glauben und in einer den Umständen entsprechenden Form mit dem Ziel durchzuführen, Einverständnis oder Zustimmung bezüglich der vorgeschlagenen Maßnahmen zu erreichen." Wenn also ein künftig vom Brasilianischen Nationalkongress auf Betreiben Bolsonaros beschlossenes Gesetz zur Inwertsetzung indigener Territorien durch industrielle Landwirtschaft, Bergbau und Staudämme in Konflikt mit der ILO-Konvention 169 zu kommen droht, wäre es für die Bolsonaros und Konsorten wichtig, dass Brasilien vorher aus der Konvention austrete.
Dreh- und Angelpunkt im Streit zwischen den wirtschaftlichen Inwertsetzungsinteressen einer Bolsonaro-Regierung und den Schutzinteressen der indigenen Völker Brasiliens im Kampf um ihre Territorien ist die Frage der in Artikel 6 erwähnten zu erreichenden "Zustimmung" der betroffenen Indigenen und wie die "Konsultation" im Einzelnen auszusehen habe. Und genau in diesem Spannungsbogen zwischen "Konsultation" und "Zustimmung" bewegt sich seit Jahren auch die Auseinandersetzung um die Auslegung der ILO-Konvention 169 in Brasilien.
Projektbetreiber und die Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur in Brasília meinen meist, dass es reicht, Konsultationen in Form von abzuhaltenden Anhörungen durchzuführen. So ist es bei allen bisherigen Großinfrastrukturprojekten wie Überlandstraßen, Wasserkraftwerken und Staudämmen sowie Bergbaugenehmigungen geschehen. Es wurden Anhörungen durchgeführt, die oftmals nicht den Charakter einer freien, vorherigen und informierten Befragung hatten, die nicht "in gutem Glauben" abliefen und die schon gar nicht eine Abstimmung, womöglich gar mit einem Vetorecht der betroffenen Indigenen vorsahen.
Indigene Völker wie auch die zuständigen UN-Gremien und die ILO jedoch stehen klar auf dem Standpunkt, dass die ILO-Konvention die freie, vorherige und informierte Zustimmung (Free, Prior and Informed Consent, FPIC) vorschreibt, im Einklang mit der UN-Erklärung der Rechte der Indigenen Völker (UNDRIP), die ebenfalls in mehreren Fällen FPIC verbindlich vorschreibt, insbesondere, wenn Territorien und Lebensgrundlagen indigener Völker betroffen sind oder ein Projekt ihre Umsiedlung vorsieht. Dabei setzt freie und informierte Zustimmung voraus, dass zuvor echte Konsultationen in gutem Glauben ("good faith consultations") stattgefunden haben. Nach Meinung von Indigenen, internationalen Rechtsexpert*innen und Menschenrechtsorganisationen sind Konsultation, Partizipation und Zustimmung alle drei gleichermaßen Grundbedingung des Rechtsschutzes für indigene Völker. Und wenn die „Zustimmung“ erforderlich ist, muss dies im Umkehrschluss heißen, dass ein Projekt nicht durchgeführt werden kann, wenn die betroffenen Gemeinschaften ihre Zustimmung nicht geben. Brasiliens Rechtssprechung hat dies aber bislang noch nicht entsprechend anerkannt.
Bleibt die Frage, ob Bolsonaro und Konsorten den nun angestrebten Austritt Brasiliens aus der ILO 169 bewerkstelligen können? Leider ist diese Gefahr durchaus real. Denn dazu bedarf es zwar der Zustimmung der zwei Kammern, Abgeordentenhaus und Senat, des brasilianischen Nationalkongresses, aber da sich nun die mächtige Farmer:innenlobby darauf eingeschossen hat, wird es im Kongress nicht einfach werden, dies zu verhindern.