Aussetzung von kollektiven Zwangsräumungen während Corona-Pandemie in Brasilien in Gefahr

Gerichtliches Verbot von kollektiven Zwangsräumungen während der Corona-Pandemie in Brasilien ab März auf der Kippe. Soziale Bewegungen mobilisieren weiter, um eine nochmalige Verlängerung der Aussetzung von Zwangsräumungen zu erreichen.
| von Christian.russau@fdcl.org
Aussetzung von kollektiven Zwangsräumungen während Corona-Pandemie in Brasilien in Gefahr
123.000 Familien sind in Brasilien von kollektiver Zwangsräumung bedroht. Grafik: Campanha Despejo Zero

Nachdem die weltweite Pandemie des Coronavirus SARS-CoV-2 sich auch in Brasilien ausbreitete, setzten sich viele soziale Bewegungen und Gruppen dafür ein, dass Zwangsräumungen gesetzlich sofort ausgesetzt werden müssten, um den Familien vor allem in einer Pandemiesituation den Schutz einer Behausung zu belassen, obwohl sie die Miete oder andere Kosten nicht mehr zahlen konnten. Sehr schnell wurde von fortschrittlichen Parlamentarier:innen des brasilianischen Abgeordnetenhauses die Gesetzesinitiative zu Zwangsräumungen - die PL dos Despejos (PL 827/2020) - eingebracht, die aufgrund der Covid-19-Pandemie für den Zeitraum von 90 Tagen die Vollstreckung von Räumungsbefehlen für Wohnungen wegen Nichtzahlung der Miete für 90 Tage aussetzt, wenn die Mieter:innen oder Bewohner:innen arbeitslos sind oder ihr Einkommen durch die Pandemie beeinträchtigt wurde. Es dauerte aber noch über eineinhalb Jahre, bis dieses Gesetzesvorhaben dann schliesslich im Oktober 2021 im Gesetz Nr. 14.216/2021 in Kraft trat, nachdem der Kongress kurz zuvor das diesbezügliche Veto des rechtsextremen Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, gekippt hatte. Diese Gesetzesbestimmung zur Aussetzung der Zwangsräumungen während der Corona-Pandemie galt aber auch nur bis zum 31. Dezember 2021. Im Juni vorvergangenen Jahres war es dem Nationalkongress zwar zudem gelungen, ein anderes Veto des Präsidenten Bolsonaro zu überwinden, indem der Kongress den Text des Gesetzes über die Notstandsübergangsregelung für privatrechtliche Beziehungen (Gesetz 14.010/2020) mehrheitlich aufrechterhielt, das die Aussetzung von Zwangsräumungen aufgrund von Mietschulden von Personen vorsah. Die Maßnahme wurde von sozialen Bewegungen als zwar wichtig angesehen, hatte aber nur einen sehr begrenzten, überwiegend städtischen Anwendungsbereich, da sie beispielsweise nicht die Fälle von Zwangsräumungen von Personengruppen abdeckte, die in kollektiv besetzten Gebieten oder Räumen lebten. Diese Notstandsübergangsregelung für Mietfragen beträfe also nicht all diejenigen juristischen Räumungstitel, die sich beispielsweise gegen Landlosen- oder Obdachlosenbesetzungen oder gegen noch nicht rechtlich abgesicherte indigene oder Quilombola-Territorien richten würden. Der ländliche Raum in den Gebieten und Territorien war somit durch dieses Gesetz nicht erfasst. Außerdem war diese Notstandsübergangsregelung für Mietfragen nur von kurzer Dauer und endete bereits im Oktober 2020.

Da das übergreifende Gesetzesverfahren zur gesetzlichen Aussetzung von kollektiven Zwangsräumungen sich hinzog, hatte die Partei PSOL eine Verfassungsbeschwerde (die sogenannte ADPF 828) eingereicht, um zu erreichen, dass die Praxis der kollektiven Zwangsräumungen vorläufig aussetzt werde, solange die Pandemie anhält. Mehrere Nichtregierungsorganisationen haben sich dieser Verfassungsbeschwerde als amicus curiae angeschlossen. Richter Barroso gab dem Antrag auf vorläufige Aussetzung der kollektiven Zwangsräumungen Recht. Dies war ein großer Erfolg der sozialen Bewegungen und der fortschrittlichen Kräfte im brasilianischen Nationalkongress.

Die von vielen sozialen Bewegungen getragene Kampagne gegen Zwangsräumungen Campanha Despejo Zero lobte die Aussetzung kollektiver Zwangsräumung während der Pandemie ausdrücklich: "Die Aussetzung der Räumung ist eine Maßnahme zum Schutz des Lebens derjenigen, die dort wohnen", so die Campanha Despejo Zero auf ihrer Internetseite. "Während der Pandemie gewann die Diskussion über Zwangsräumungen in der Auseinandersetzung mit Covid-19 noch mehr an Bedeutung, da "zu Hause bleiben" eine der wichtigsten Empfehlungen der Gesundheitsbehörden war. Aber welches Haus? Die an der Campanha Despejo Zero beteiligten sozialen Bewegungen und Organisationen kritisieren, dass seit März 2020 die Zwangsräumungen um mehr als 310% zugenommen hatten, und die Zahl der Arbeitslosen und die Mietpreise sind in alarmierendem Maße gestiegen - ganz zu schweigen von den Preisen für Licht, Lebensmittel, Benzin und Kochgas. Erschwerend kommt hinzu, dass es keine staatliche Wohnungspolitik für die bedürftigsten Familien mehr gibt: Frühere Programme, die auf die untersten Einkommensschichten abzielten, wurden ausgetrocknet oder zerstört, und während der Pandemie wurden keine Notmaßnahmen, provisorischen oder strukturellen Maßnahmen eingeleitet", so die Campanha Despejo Zero.

Der Oberste Gerichtshof STF entschied im Dezember, die Gültigkeit der Verfassungsbeschwerde zur Aussetzung der kollektiven Zwangsräumungen vorerst bis zum März 2022 zu verlängern und folgte darin der Empfehlung des Bericht erstattenden Obersten Richters, Luis Roberto Barroso. Kelli Mafort von der nationalen Leitung der Landlosenbewegung MST - einer der Mitgliedsorganisationen der Campanha Despejo Zero - stimmt zu, dass die Entscheidung ein wichtiger Sieg ist, aber nur teilweise, da die Frist im März sehr kurz ist. "Das Leben muss über dem Besitz stehen, und der Kampf um ein Dach, Land und Arbeit ist gerecht und notwendig, weil wir mit zwei Pandemien konfrontiert sind: der des Virus und der des Hungers. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes ist von grundlegender Bedeutung für die Rettung von Menschenleben und korrigiert einen brutalen Fehler des Kongresses, der das Null-Räumungs-Gesetz unter Ausschluss des ländlichen Raums verabschiedet hatte. Nach Ansicht des STF ist die Unterscheidung zwischen Stadt und Land im Gesetz nicht sinnvoll, und deshalb werden mit dem Beschluss nicht nur die Räumungen bis März ausgesetzt, sondern auch die vollen Rechte des Räumungsverbotsgesetzes auf die Landbevölkerung ausgedehnt", sagte Kelli Mafort.

Für Benedito Barbosa, Anwalt der Union der Wohnungsbau-Bewegungen von São Paulo und der Zentrale der Volksbewegungen CMP und ebenfalls Mitglied der Kampagne, ist die Entscheidung der STF von großer Bedeutung. "Die Auswirkungen der Entscheidung sind aus sozialer Sicht und für das Leben der städtischen und ländlichen Gemeinden, die von Enteignungen und Zwangsräumungen bedroht sind, enorm. Sie ist ein Meilenstein im Kampf für die Agrar- und Städtereform und im Kampf um Land. Wir hoffen, dass wir im nächsten Jahr mehr Fortschritte machen werden. Die Entscheidung ist bis zum 31. März 2022 befristet, aber was werden wir danach tun? Wir werden in dieser Zeit ein wenig durchatmen, aber wir können keine endgültige Lösung für das ernste Problem der Konfliktsituationen und Vertreibungen in Brasilien finden, in einem Land, in dem Land und Boden in den Händen von Grundbesitzern und Immobilienspekulanten konzentriert sind", sagte Barbosa.

Für Daisy Ribeiro, Rechtsberaterin der Nichtregierungsorganisation Terra de Direitos, die ebenfalls Mitglied der Campahna Despejo Zero ist, ist die Entscheidung des STF sehr wichtig für den Schutz von Wohnraum und Gesundheit, den Grundpfeilern eines menschenwürdigen Lebens, dies vor allem während einer schweren sozialen Krise, angesichts des Mangels an staatlichen Maßnahmen und einer noch nicht ausgestandenen Pandemie: "Die ständige Gefahr einer Räumung stellt einen psychologischen Schrecken für die mehr als 123.000 von Räumung bedrohten Familien dar. Es ist das Risiko, das Wenige zu verlieren, was sie haben, den Zugang zur Schule, die Möglichkeit, arbeiten zu gehen. Außerdem gibt es immer ein gewisses Maß an Gewalt, da Räumungen mit großen Polizeieinsätzen einhergehen. Die Campanha Despejo Zero hat dieses Szenario immer angeprangert und darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass der Staat auf der Grundlage der nationalen und internationalen Menschenrechtsnormen menschenwürdige Lösungen für Familien bereitstellt", so Daisy Ribeiro.

Die sozialen Bewegungen werden sich weiter dafür einsetzen, dass die Aussetzung der Zwangsräumungen in Brasilien weiter Bestand hat, auch über den März 2022 hinaus.

// Christian Russau