Auf dem Weg zu einem neuen bundesweiten Plan zum Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern in Brasilien
Die Übergabe für einen neuen bundesweiten Plan zum Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern in Brasilien erfolgte zusammen mit der Überreichung eines ebenfalls von der GTT erarbeiteten Vorlage für einen Gesetzesentwurf, der die Politik zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen institutionalisieren soll. Die Übergabe erfolgte am 12. Dezember 2024 auf der letzten Sitzung der „GTT Sales Pimenta“, einem im Juni 2023 gegründeten kollegialen Gremium, das sich aus Vertreter:innen von Ministerien und Basisbewegungen und sozialen Organisationen zusammensetzt.
Die der Regierung vorgelegten Vorschläge sind das Ergebnis mehrjähriger intensiver Arbeit, die aus mehr als 50 Online- und persönlichen Anhörungen resultierte. Viele der Vorschläge wurden von der Zivilgesellschaft vorgeschlagen beziehungsweise basieren auf den Auswertungen von öffentlichen Anhörungen, die im Juli, August und September vergangenen Jahres durchgeführt wurden. Die „GTT Sales Pimenta“ hat die Vorschläge geprüft und in ein Dokument zusammengefasst, das nun von der Regierung analysiert werden muss, bevor der Plan offiziell verabschiedet werden kann. Die Annahme des von der „GTT Sales Pimenta“ erarbeiteten neuen bundesweiten Plan zum Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern kann von dem Präsidenten Brasiliens per Dekret umgesetzt und inkraft gesetzt werden. Die von der „GTT Sales Pimenta“ erarbeitete Vorlage für einen Gesetzesentwurf, der die Politik zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen institutionalisieren soll, wird dem Nationalkongress überreicht, der dann über die Verabschiedung eines neuen Nationalprogrammes zum Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern in Brasilien befinden muss.
Der von „GTT Sales Pimenta“ vorgestellte Plan gliedert sich in drei Achsen mit jeweils strategischen Zielen und Programmaktionen, die jeweils mit Zielvorgaben, Indikatoren, Verantwortlichen und Fristen versehen sind.
I. Proteção Estatal („Staatlicher Schutz“), die sich mit der Schaffung und Stärkung von institutionellen Mechanismen zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen befasst;
II. Proteção Popular („Schutz an der und durch die Basis“), die kollektive Schutzmaßnahmen anerkennt und unterstützt, die von Menschenrechtsverteidiger:innen autonom und unabhängig durchgeführt werden;
III. Acesso a Direitos e Combate à Impunidade („Zugang zu Rechten und Bekämpfung der Straflosigkeit“), wobei der Schwerpunkt auf der Untersuchung und Rechenschaftslegung von Verletzungen der Rechte von Menschenrechtsverteidigern liegt.
Zum „Prinzip der proteção popular, dem Schutz der Basis“, führte Paulo César Carbonari, der die nationale Menschenrechtsbewegung MNDH als Mitglied der „GTT Sales Pimenta“ bei der Überreichung der neuen Vorschläge gegenüber dem Ministerium für Menschenrechte und Staatsbürgerschaft vertrat, im Interview mit den Lateinamerika Nachrichten anlässlich seines Besuchs in Berlin bereits im Juli 2023 aus: „Wir sind der Meinung, dass lokale Organisationen eine grundlegende Rolle beim Schutz von Menschenrechtsverteidigern spielen. Diese sollten nur in Ausnahmefällen aus ihrem Umfeld genommen werden, um sie zu schützen. Die proteção popular erfolgt in drei sich ergänzenden Dimensionen. Erstens über Selbstschutz, das sind die Maßnahmen, die ein Verteidiger in seinem persönlichen Bereich ergreifen muss, um sich keinem Risiko auszusetzen. Zweitens über gegenseitigen Schutz, sowohl zwischen Einzelpersonen als auch zwischen Organisationen. Wenn also ein Verteidiger aus der Bewegung der Landlosen (MST) bedroht ist, wird die Bewegung der von Staudämmen betroffenen Menschen (MAB) der MST helfen, sie zu schützen. Auch weil es bald einen Verteidiger aus der MAB geben könnte, der Schutz benötigt. Drittens über solidarischen Schutz, mit breiter Unterstützung durch nationale und internationale Netzwerke. Diese helfen dabei, Bedrohungen öffentlichkeitswirksam zu verbreiten und Unterstützung zu mobilisieren. Dafür braucht es tiefgreifende und dauerhafte Aufklärung und eine Schulung der Bevölkerung sowie Erfahrungsaustausch.“
Carbonari sagte nun anlässlich der Übergabe der neuen Vorschläge gegenüber dem Ministerium für Menschenrechte und Staatsbürgerschaft, dass dieser Moment der Übergabe der neuen Vorschläge ein Moment des Übergang sei, gleichsam „der Abschluss einer kollektiven Arbeit mit intensiver Beteiligung und Aktion von Menschenrechtsorganisationen und institutioneller Bearbeitung, damit diese Instrumente zur Stärkung der Menschenrechtsarbeit veröffentlicht werden“. Carbonari erinnerte daran, dass „der Kampf um die Schaffung dieser Instrumente mehr als zwanzig Jahre gedauert hat und dass ihre Ausarbeitung, auch wenn es notwendig war, dazu die nationalen Gerichte und den Interamerikanischen Gerichtshof anzurufen, um diese zu verwirklichen, ein grundlegender Schritt ist“. Er hoffe, dass die Exekutive schnell Maßnahmen ergreife, „um diese Instrumente in Kraft zu setzen, denn wir können nicht noch einmal zwanzig Jahre warten, bis die brasilianische Gesellschaft über stärkere und konsequentere Mittel verfügt, um das Leben derjenigen zu schützen, die ihr Leben im Kampf für die Menschenrechte einsetzen“.
Darci Frigo, geschäftsführender Koordinator von der Menschenrechtsorganisation Terra de Direitos, hob anlässlich der Übergabe im Dezember die kollektiven Anstrengungen und die Arbeit hervor, die die Zivilgesellschaft in die Erstellung des Plans gesteckt hat. „Dieser Vorschlag für den Plan ist für uns alle sehr wichtig. Jeder, der diesen Kampf verfolgt, weiß, wie wichtig es ist, die Menschen zu schützen, die für ihre Rechte kämpfen, die Menschen, die sich für den Aufbau einer guten Demokratie in unserem Land einsetzen.“
Der allgemeine Koordinator des Programms zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen, Kommunikator:innen und Umweltschützer:innen (PPDDH), Igo Martini, betonte anlässlich der Übergabe, dass „die Stärkung des Schutzprogramms und der nationalen Politik zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern bedeutet, dass die Stimmen der Zivilgesellschaft gestärkt werden, die die Menschenrechte verteidigen und fördern, aber auch Ungleichheiten bekämpfen und die Demokratie in unserem Land fördern, unterstützen und verteidigen.“
Raimundo Hilário, ein Quilombola, der die Koordinierung der Vereinigungen der Gemeinschaften der verbliebenen Quilombos in Pará (Malungu) vertritt und Mitglied der „GTT Sales Pimenta“ ist, hob den Berichten auf den Webseiten der beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen zufolge hervor, wie wichtig es sei, dass sich die brasilianische Bundesregierung um die Umsetzung des Plans und des Gesetzentwurfs bemühe, der eine nationale Schutzpolitik schaffen soll. „Wir denken, dass dieser Plan von grundlegender Bedeutung ist. Und damit er zusammen mit dem Kampf für den Gesetzesentwurf wirklich umgesetzt werden kann, fordern wir Anstrengungen von allen Ministerien, wirklich von allen, damit wirklich gewährleistet werden kann, dass er für den Schutz, vor allem der Schutzbedürftigen, wirksam ist.“
Die Rolle des brasilianischen Staates beim Schutz von Menschenrechtsverteidigern wird in dem Plan als eine der strategischen Achsen definiert. Die sozialen Bewegungen wiesen bei der Übergabe mit Nachdruck darauf hin, dass die brasilianische Bundesregierung nicht nur für die Einführung der Nationalen Schutzpolitik verantwortlich sein sollte, sondern auch dafür, dass sie in ganz Brasilien umgesetzt wird, und zwar mit einem angemessenen Budget für die Umsetzung. Die von den Organisationen Terra de Direitos und Justiça Global erstellte Studie „Olhares críticos sobre mecanismos de proteção de defensoras e defensores de direitos humanos na América Latina“ hatte die Fragilität der Schutzpolitik in Brasilien offengelegt, da es keine mit dem Nationalen Programm verknüpften staatlichen Programme gebe.
Die Forderung nach einer Politik zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern wird seit mindestens 20 Jahren von sozialen Bewegungen, Organisationen der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidigern in ganz Brasilien erhoben. Dabei steht Brasilien seit vielen Jahren an der Spitze der weltweiten Rangliste der Morde an Menschenrechtsverteidiger:innen. Nach Angaben des Ministeriums für Menschenrechte und Staatsbürgerschaft werden derzeit rund 1.279 bedrohte Personen vom Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen, Kommunikator:innen und Umweltschützer:innen (PPDDH) überwacht, so berichtet es Terra de Direitos.
„Leider haben wir einen riesigen Rückstau an weiteren Personen, die heute noch nicht einmal Zugang zur Schutzpolitik haben. Aber ich glaube, dass wir heute einen sehr wichtigen Schritt machen, damit Brasilien nicht mehr zu den Ländern gehört, in denen Menschenrechtsverteidiger am häufigsten getötet werden“, sagte Sandra Carvalho, Mitglied des Koordinationsteams von Justiça Global. Der Studie „Na linha de frente: violência contra defensoras e defensores de direitos humanos no Brasil (2019 a 2022)“ zufolge, die ebenfalls von Terra de Direitos und Justiça Global durchgeführt wurde, gab es zwischen 2019 und 2022 insgesamt 1.171 Fälle von Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger:innen. Es wurden 169 Morde und 579 Bedrohungen in diesem Zeitraum festgestellt, in dem das Land unter der Regierung des damaligen Präsidenten Jair Bolsonaro stand.
Die „GTT Sales Pimenta“, die dem Ministerium für Menschenrechte angegliedert ist, wurde als Reaktion auf die Verurteilung Brasiliens durch den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen der Ermordung des Anwalts und Menschenrechtsverteidigers Gabriel Sales Pimenta und die Entscheidung des Bundesregionalgerichts der 4. Region (TRF) gegründet, das die Union aufforderte, einen nationalen Plan zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern zu erstellen. Das Kollegialorgan „GTT Sales Pimenta“ besteht aus 20 Organisationen und sozialen Bewegungen, die sich für die Verteidigung und Förderung der Menschenrechte einsetzen, sowie aus 20 Mitgliedern, die die Bundesexekutive vertreten.
Die Erstellung des nationalen Plans zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen ist auch das Ergebnis einer Aktion der Bundesstaatsanwaltschaft MPF, die 2017 eine öffentliche Zivilklage gegen den Staat eingereicht hat. Mit der öffentlichen Zivilklage 5005594-05.2017.4.04.7100, die 2017 von der MPF beim Bundesgerichtshof eingereicht wurde, forderte die Staatsanwaltschaft für Bürgerrechte in Rio Grande do Sul (PRDC/RS), dass der Bund die notwendigen Maßnahmen zur Erstellung des Nationalen Plans zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern (PPDDH) ergreifen müsse. Bei dem konkreten Sachverhalt, um den es ging, wurde 2017 von einer Obdachlosen und Menschenrechtsverteidigerin, die sich in Porto Alegre bedroht und ohne Schutzgarantien fühlte, bei der Bürgerkanzlei eingereicht und veranlasste diese zum Handeln. Die daraus folgende öffentliche Zivilklage wurde vom Bundesgericht in erster Instanz abgewiesen. Die Bundesstaatsanwaltschaft MPF legte Berufung ein und die regionale Staatsanwaltschaft der Republik hielt 2018 vor dem Bundesregionalgericht der 4. Region eine öffentliche Anhörung ab, an der Vertreter:innen von öffentlichen Einrichtungen, Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen teilnahmen. Bei dieser Gelegenheit wurden acht Vorschläge ausgearbeitet, die in den Nationalen Plan aufgenommen werden sollten. Im Jahr 2021 bestätigte das Bundesgericht die Berufung der Bundesstaatsanwaltschaft MPF und erließ das Urteil, dass 1) der Bund den Nationalen Plan zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern erarbeiten müsse und dass 2) die Zivilgesellschaft daran gleichberechtigt beteiligt werden müsse und dass 3) öffentliche Anhörungen durchgeführt werden müssen, um die soziale Beteiligung an der Ausarbeitung dieser Politik zu gewährleisten.