Wo bleibt die Umweltpolitik?
Die NGOs befürchten, dass die Infrastrukturmaßnahmen des Mehrjahresplans PPA 2004-2007 die Umwelt vor allem in Amazonien beeinträchtigen. Die NGOs protestierten gegen die Expansion der Agrarfront in die Wälder im Norden Brasiliens und gegen die Erlaubnis des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen.
Für die NGOs stehen die Pläne im klaren Widerspruch zum Regierungsprogramm, das im Wahlkampf präsentiert worden war. Sie "provozieren die Erosion des Images und der Glaubwürdigkeit der Regierung in der Öffentlichkeit im In- und Ausland".
RETS hat Miriam Prochnow aus dem Vorstand der Rede Mata Atlântica interviewt, die den Brief mit unterzeichnet hat. Trotz des Vertrauens, das der Umweltministerin Marina Silva ausgesprochen wird, betont Prochnow, es habte nicht die Anstrengungen in der Umweltpolitik gegeben, die im Regierungsprogramm versprochen wurden. Das größte Problem stellt nach ihren Aussagen das Vorgehen des "harten Kerns" der Regierung (einige ausgewählte Minister um Lula) dar, der die Umweltministerin nicht konsultiere. "Wie können wir Versprechungen einfordern, wenn die Mittel nicht da sind?", fragt Prochnow.
RETS: Der offene Brief wurde formuliert, um die Regierung auf die Risiken für die Nachhaltigkeit des Landes im Zusammenhang mit dem PPA (Mehrjahresplan 2004–07) aufmerksam zu machen. Welches sind die Risiken?
Miriam Prochnow: Was wir im Plan sehen, ist die Wiederaufnahme verschiedener Infrastrukturmaßnahmen, darunter den Bau der Bundesstraße BR-163 von Amazônia zum Pazifik und die Asphaltierung der Straße von Cuiabá nach Santarém.
Diese Großprojekte bergen Risiken für den "Entwaldungsbogen" (die Wälder in Pará, Mato Grosso und Rondônia). Damit wird eine weitere Angriffsfläche für den Sojaanbau in der letzten davon unberührten Region geschaffen.
In der Mata Atlântica-Region, aus der ich komme, fehlt es an Investitionen. Es gibt keine spezifische Umweltpolitik. Dies hat nichts mit dem PPA zu tun, sondern mit dem Gesetzesvorschlag für die Mata Atlântica, der seit 11 Jahren in den Kammern verhandelt wird. Im Regierungsplan wurde darüber kein Wort verloren, obwohl die Umweltpolitik im Vordergrund stehen soll.
Was uns jedoch sehr besorgt, ist das Verhältnis zwischen dem Umweltministerium (MMA) und dem "harten Kern" der Regierung. Das Ministerium musste die größten Kürzungen einstecken und ist nicht handlungsfähig. Wie sollen wir Forderungen stellen, wenn es keine Mittel gibt? Die Umwelt ist nicht Priorität dieser Regierung, trotz der Unterstützung für Ministerin Marina Silva durch uns. Der Querschnittscharakter der Umweltpolitik, der immer wieder betont worden ist, wird nicht umgesetzt.
RETS: Sind Sie bereits enttäuscht von der Regierung oder geben Sie Ihr noch mehr Zeit, wie es sich der Präsident erbeten hat?
Miriam Prochnow: Wir hoffen auf Besserungen, aber unser Brief spricht konkrete Ziele für die kommenden Monate an. Wir glauben, dass Marina Silva ihr Bestes tut, aber der Präsident hört nicht auf sie. Diese Regierung muss den richtigen Weg noch finden.
Die Wiederaufnahme der Urananreicherung, der Weiterbau des Atomreaktors ANGRA III, der Kauf gebrauchter Reifen in Europa und die Erlaubnis der Nutzung genetisch modifizierter Pflanzen sind Entscheidungen, die unbedingt rückgängig gemacht werden müssen. Entweder setzt sich die Regierung mit den Bürgern zusammen und diskutiert die Umweltpolitik, oder wir verlieren unsere Hoffnung.
RETS: Was soll konkret geschehen?
Miriam Prochnow: Zuerst möchten wir mal wissen, was mit dem Umweltprogramm der Regierung geschehen ist.
Das Umweltministerium kann keine Auskunft geben, weil es nicht mit der Regierung in Kontakt ist. Es wäre besser zuzugeben, dass es in der Schublade gelandet ist, um nicht zu sagen, im Papierkorb. Bis jetzt hoffen wir noch, dass dies nicht passiert ist.
RETS: Heißt das, dass die Umweltpolitik Rückschritte gemacht hat?
Miriam Prochnow: Schwierig zu sagen. Nie zuvor hatten wir so fähige Leute im Ministerium, aber sie bringen nichts auf die Reihe.
RETS: Einer der Regierungsvorschläge ist die Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor bei den Infrastrukturmaßnahmen. Hat dies Einfluss auf die Bewertung der Umweltbelange bei den Projekten?
Miriam Prochnow: Diese Art der Zusammenarbeit erscheint mir legitim. Sie dient der Sache, wenn Umweltbelange und Gesetzeslage berücksichtigt werden. Die Art der Zusammenarbeit ist unwichtig, solange die Gesetze eingehalten werden.
Sogar die Unternehmer beginnen, die Umwelt bei ihrem Plänen in Betracht zu ziehen.
Großprojekte wird es geben, es geht nicht ohne sie, nur: es müssen die Gesetze eingehalten werden.
RETS: Was müssen diese Infrastrukturprojekte alles berücksichtigen?
Miriam Prochnow: Es sind strategische Projekte. Das Umweltministerium hat große Gebiete kartographiert, in denen viel zum Schutz der Biodiversität getan werden muß. Es reicht nicht aus, Veränderungen zu analysieren, die die Regierung selbst erhoben hat. Es ist ein offener Widerspruch, dass die Regierung sich der Veränderungen bewusst ist und sie gleichzeitig ignoriert.
In der Mata Atlântica dürfen diese Projekte allerdings nicht fortgeführt werden, denn es sind nur noch 7% Naturfläche geblieben. Das Forstgesetz von 1965 schreibt vor, dass mindestens 25% zu erhalten sind. Der heutige Rest von nur noch 7% ist ein offener Gesetzesbruch.
RETS: Was sagt Umweltministerin Marina Silva dazu?
Miriam Prochnow: Sie tut wohl ihr Bestes und "verwaltet" diesen Widerspruch der Regierung. Das MMA hat schon viel Gutes bewegt, wie z.B. die "Estrada do Colono" im Iguaçu-Park zu schließen, dann der Vertrag zwischen Brasilien und Deutschland (Volumen 240 Millionen R$), mit dem Schutzprojekte in der Mata Atlântica und anderen Biomen durchgeführt werden können. Außerdem hat sich das MMA für neun Schutzgebiete eingesetzt und für die Schaffung der AG Mata Atlântica.
Das Problem ist, dass dies keine Wirkung auf der politischen Makroebene hat.
RETS: Müsste das MMA also entschiedener vorgehen?
Miriam Prochnow: Das würde der Rücktritt der Ministerin nach sich ziehen, was ich nicht gerne sehen würde. Wer könnte denn ihren Platz einnehmen?
RETS: Die Regierung hat versprochen, die Beteiligung der Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Regierungssprecher André Singer hat versichert, der Mehrjahresplan sei mit mehr als 100 NRO-Vertretern in Regionalforen diskutiert worden. Wie lief das ab?
Miriam Prochnow: Wir durften an diesen Veranstaltungen teilnehmen, das heißt aber nicht, dass wir im Formulierungprozess beteiligt waren. Wir nehmen an Sitzungen teil, sind aber nicht einverstanden.
RETS: Wie kann die Beteiligung denn verbessert werden?
Miriam Prochnow: Die Regierung muss sich über unsere Bedenken Gedanken machen! Es bringt nichts, wenn Singer sagt, die Zivilgesellschaft sei beteiligt oder wenn Genoino (Präsident der PT) versichert, unsere Kritik sei berechtigt. In Wahrheit wird nicht gehalten, was uns versprochen wurde.
RETS: Im Brief an Lula wird erwähnt, dass die Risiken für die Nachhaltigkeit auch außenpolitische Risiken bedeuten. Was für Konsequenzen sind da gemeint?
Miriam Prochnow: Brasilien ist es gelungen, ein Image von Rechtsstaatlichkeit zu schaffen. Nach außen besteht der Eindruck, Gesetze im Umweltbereich würden eingehalten. Wenn dieses Bild zerstört wird, sind Verhandlungen gefährdet.
Ein Beispiel ist das Pilotprogramm PP-G7 (Schutz der Tropischen Wälder Brasiliens), das Umweltprojekte finanziert. Wenn dieses Programm zum Stillstand kommt, wird es Folgen für andere Projekte haben.
RETS: Ist es möglich, das "Wachstumsspektakel" (espetáculo do crescimento) Lulas zu erfüllen, wenn man sich die Umweltproblematik vor Augen hat?
Miriam Prochnow: Ich möchte erst mal gerne wissen, was dies genau bedeuten soll. Für mich bedeutet es mehr Lebensqualität und nicht den Bau neuer Fabriken mit geringfügig Beschäftigten. Wir wollen vorher wissen, was für ein "Spektakel" das sein soll.
Anm. d. Red.: Lula reagiert. Als Reaktion auf den offenen Brief habe Lula entschieden, dass der Austausch mit den NGOs vertieft werden müsse, sagte Claúdio Langone, Staatssekretär im MMA. In den nächsten Tagen würden Gespräche mit den UmweltschützerInnen begonnen. Ihre Initiative sei in der Regierung auf fruchtbaren Boden gefallen, da er "im Ton eines Beitrags zur Verbesserung der Politik" gehalten war. Die Regierung respektiere die Kritik am Mehrjahresplan PPA.