Der Entwaldungsboom gewinnt Fahrt
Am 8. April hat die brasilianische Regierung die neuen offiziellen Zahlen zur Entwaldung Amazoniens vorgestellt. Demnach wurde zwischen August 2002 und August 2003 mit einer Regenwaldzerstörung von 23750 km² das zweithöchste Ergebnis nach 1995 erreicht und der erschreckend hohe Wert des Vorjahres noch übertroffen. Die Regierung sieht den Anstieg gestoppt, Experten und Umweltschützer erwarten aufgrund der vorhandenen Infrastruktur und der noch gebremsten Wirtschaft aber ein weiteres Ansteigen der Entwaldungsrate. Der lange erwartete Maßnahmenkatalog der Regierung gegen die fortschreitende Entwaldung fällt enttäuschend aus, bringt kaum Neues und konzentriert sich stark auf die reine Beobachtung der weiteren Zerstörung. Verschiedene Studien der letzten Zeit bringen neues Licht in die Bedeutung der Agrarexporte (Soja, Fleisch) bei der Entwaldung und stellen die Mitverantwortung Europas klar. Im folgenden werden die Daten des Regierungsberichts und die Ergebnisse der Studien genauer und systematisch dargestellt.
Die Daten
Während in den 90er Jahren die Entwaldung Amazoniens nur einmal die 18000 km2-Marke überschritt (1995: 29059 km², entspricht der Fläche Brandenburgs), stieg sie in der Saison August 2001-August 2002 um 28% gegenüber dem Vorjahr auf 23266 km²und in der aktuell betrachteten Saison nochmals um 2,1% auf 23750 km² (entspricht etwa der Fläche Mecklenburg-Vorpommerns). Sie ist damit etwa doppelt so hoch wie in den 90er Jahren. Dabei wurden angesichts der aktuellen Zahlen die Daten des letzten Berichts nach unten korrigiert: Letztes Jahr war noch von 25476 km² Entwaldung und einem Anstieg um 40% die Rede. 80% Amazoniens sind bewaldet, davon wurden seit den siebziger Jahren 16,3% zerstört.
Spitzenreiter bei der Entwaldung ist der Bundesstaat Mato Grosso, der für 43,8% (1.0416 km²) der Zerstörung verantwortlich ist, gefolgt von Pará mit 7.293 km² und Rondônia mit 3.463 km2, allesamt Bundesstaaten im sogenannten „Entwaldungsgürtel“ am südlichen Rand des Amazonasregenwaldes im Übergangsgebiet zur brasilianischen Savanne (Cerrado). Die Bundesstaaten im Inneren des Regenwaldes folgen weit abgeschlagen mit 797 km2 (Amazonas), 549 km² (Acre) und weniger. Auf Munizip-Ebene ist seit drei Jahren São Felix do Xingú in Pará führend, zuletzt mit 133.273 ha.
Unklarheit besteht bei den Daten des Bundesstaates Mato Grosso, der über ein eigenes, aufwändiges und satelliten-unterstütztes Monitoring- und Zertifizierungssystem verfügt. Die eigenen Quellen geben eine um 3000 km² geringere Entwaldung (ca. 30%) an als die auf Bundesdaten beruhenden Daten des Bundesumweltministeriums. Die staatliche Umweltstiftung von Mato Grosso kommt hingegen auf eine Entwaldung des Landes um 18580 km², eine Steigerung (!) um 133% nach deren Quellen. (Achtung: In den Medien kursieren viele falsche Zahlen zu all diesen Daten).
Maßnahmen und Deutungen der Regierung
Bei der Veröffentlichung des Regierungsberichtes zeigte sich die Umweltministerin Marina Silva zwar besorgt über die Höhe der Entwaldung, sah aber den Wachstumstrend des Vorjahres gestoppt und ihre Politik damit bestätigt. Flavio Mantiel, Direktor der Umweltbehörde IBAMA, meint, dass die Entwaldungszahlen noch nicht den vollen Umfang der seit Juli letzten Jahres eingeleiteten Maßnahmen widerspiegeln. So sei z.B. durch Satellitenaufklärung der Bau einer illegalen Straße in den Regenwald und eine Rodung von 100.000 ha verhindert worden.
Vor einem Jahr wurde nach Bekanntgabe der Entwaldungszahlen eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet, welche die Ursachen ergründen und Gegenmaßnahmen vorschlagen sollte. Mitte März dieses Jahres machte die Arbeitsgruppe in einem Bericht die Schaffung von Rinderweiden für 80% der Entwaldung verantwortlich. Auch Sojaanbau, illegaler Holzeinschlag, Infrastrukturprojekte und Landbesetzungen würden zur Ausweitung des Entwaldungsgürtels beitragen. Als Lösung wurden Anreize zur nachhaltigen Nutzung gerodeter wie nicht-gerodeter Flächen vorgeschlagen.
Kurz vor Veröffentlichung des Berichts wurde ein 140 Mio. Dollar-Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Entwaldung angekündigt, das verbessertes Monitoring, die Schaffung neuer Schutzgebiete sowie neue gesetzliche Regelungen zur Nutzung von öffentlichen Wäldern beinhaltet. Das Monitoring soll Ressort-übergreifend, mit Satelliten und mit 26 neuen Teams gegen Umweltdelikte stattfinden, die Reisekosten durch Zusammenarbeit mit dem Militär gesenkt werden. Schon jetzt wurden die Kontrollen in kritischen Regionen um 70% ausgeweitet und die Strafen deutlich erhöht. Außerdem sollen dieses Jahr 81.000 km² Schutzgebiete und 53.000 km² Gebiete für nachhaltige Nutzung eingerichtet werden. Die Besetzung und Rodung von öffentlichem Land ist illegal. Andererseits gibt es jetzt Regeln für die Vergabe von Nutzungskonzessionen auf öffentlichem Land, die auch Sammelwirtschaft oder Ökotourismus zulassen.
Deutungen der Experten und Umweltverbände
Umweltverbände sind entsetzt über die nach 1995 zweithöchste Entwaldungsrate der Geschichte. Laut WWF findet die Zerstörung gerade in den naturschutzbedeutend wichtigsten Regionen Amazoniens statt. Die brasilianische Wirtschaft schrumpft, Kredite sind für alle potentiellen Entwalder (Ausnahme: Sojabauern, die sich anders finanzieren) schwierig zu bekommen, die vorhandene Infrastruktur nicht ausgelastet. Trotzdem ist die Entwaldung gestiegen und wird bei Erholung der Wirtschaft geradezu explodieren. Der Optimismus der Regierung stößt hier auf Unverständnis.
Ein Jahr lang hat die Expertenrunde der Regierung nach Maßnahmen zur Umkehr des Entwaldungstrends gesucht, weitere Maßnahmen hielten sich bislang in Grenzen. Um so enttäuschter sind die Umweltverbände über den wenig innovativen und unterfinanzierten Maßnahmenkatalog. Die Ursachenanalyse und die Richtung der Maßnahmen wird zwar unterstützt, trotzdem werfen "Friends of the Earth" und Andere der Regierung vor, den wirtschaftlichen Druck zur Entwaldung massiv zu unterschätzen. Denn die Regierung Lula hat das Budget des Umweltministeriums um 20% gekürzt, fördert die stagnierende Wirtschaft zur Ankurbelung der landwirtschaftlichen Exporte (Soja, Rindfleisch) ausdrücklich und rückt nur zögerlich von den Urwald-erschließenden Infrastrukturprojekten wie z.B. Bundesstraßen ab. Die Praxis ist weiter geprägt von schrumpfenden Naturschutzgebieten, Konflikten um Indigenengebiete und einem personell wie finanziell völlig unzureichend ausgestatteten Kontrollnetz (v.a. IBAMA, FUNAI). Ob sich unter Lula auch in der Praxis etwas ändert, bleibt nach 16 Monaten Regierungszeit weiter abzuwarten. Ohne eine funktionierende regionale Entwicklungsbehörde (SUDAM) und ein endgültiges regionales Nachhaltigkeitskonzept (PAS) bleibt die Unsicherheit groß, was Lula in Amazonien eigentlich vorhat.
Der Rindfleisch-Komplex
Das Internationale Zentrum für Forstwissenschaft CIFOR brachte eine neue Studie heraus, die zum ersten Mal die Bedeutung des brasilianischen Rindfleischexports an der Regenwaldzerstörung systematisch beleuchtet.
Die Rinderzucht in Amazonien ist in den vergangenen 12 Jahren enorm gewachsen. Von 1990 bis 2002 hat sich die Anzahl der Rinder dort mehr als verdoppelt und macht jetzt 31% (1990: 17,8%) des Gesamtbestandes in Brasilien aus. 80% des brasilianischen Bestandszuwachses fand in Amazonien statt. Während Amazonien bis 1991 seinen eigenen Rindfleischbedarf nicht decken konnte, hat sich seitdem die produzierte und exportierte Menge deutlich gesteigert, und zwar von 1997 bis 2003 um das siebenfache. Auch wenn die Daten für 2003 noch nicht vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass Brasilien heute der weltweit größte Exporteur von Rindfleisch ist. Gründe dafür sind die Entwertung der Landeswährung (Verdoppelung des Inlandpreises für Rindfleisch, höherer Exporterlös in Reais), wegfallende Exportbeschränkungen durch die zertifizierte Maul- und Klauenseuchenfreiheit einiger Bundesstaaten (2003: Mato Grosso, Rondônia und Tocantins, bis 2005 wohl alle), die Angst vor BSE in Beständen anderer Länder und eine tatkräftige Unterstützung des Exports durch die Regierung Lula. Der Anteil brasilianischen Fleisches am EU-Import stieg von 40% (1990) auf 74% (2002), der wirtschaftliche Druck zur Entwaldung Amazoniens wächst weiter.
Als Gegenmaßnahme unterstützt CIFOR die verstärkte Bekämpfung illegaler Landnahme, die Rücknahme neuer Straßenbau- und Infrastrukturprojekte zur Neuerschließung von Urwaldgebieten, die Anerkennung von öffentlichem Land als Waldschutzgebiet, Kategorie FLONAS sowie die Schaffung von wirtschaftlichen Anreizen zur nachhaltigen Nutzung von Waldgebieten. Angesichts des wirtschaftlichen Drucks bezweifelt CIFOR allerdings, ob die geringen Anstrengungen der Regierung ausreichen werden. Hilfe von außen sei dringend geboten. Umweltverbände und Regierung sind sich einig über die Bedeutung der Rinderzucht bei der Entwaldung, die Konsequenzen des boomenden Exportes müssen aber noch genauer analysiert werden.
Der Soja-Komplex
Neben Rindfleisch ist Soja der zweite große Exportartikel aus dem Entwaldungsgürtel. Auch hier ist Brasilien kurz davor, die USA als weltweit größten Exporteur zu verdrängen. Billiges Land, billige Arbeit, günstige Wechselkurse und der noch anhaltende Ruf, kein Gensoja anzubauen, haben diesen Exportboom bewirkt. Größtes Hindernis für noch stärkeres Wachstum sind der teure Transport des Sojas zum Verbraucher. Dafür sind im Mehrjahresplan (PPA) verschiedene Infrastrukturprojekte vorgesehen. Zum einen soll der Ausbau und die Asphaltierung der Bundesstraße BR 163 von Cuiabá (Mato Grosso) nach Santarém (Hafen in Pará) den Sojaexport von dem Sojastaat Mato Grosso nach Europa fördern. Das Hidrovia-Projekt hingegen soll durch den Ausbau von Wasserstraßen, u.a. durch das Pantanal, die südamazonischen Anbaugebiete mit den Märkten in Südbrasilien verbinden. Große US-Agrokonzerne wie Cargill haben das Potential der brasilianischen Konkurrenz erkannt und in sie investiert, u.a. durch den Bau eines neuen, umstrittenen Soja-Terminals am Ufer von Santarém.
Ohne Frage wird sich der Sojaanbau in Südamazonien sehr stark ausdehnen, Gouverneur Maggi von Mato Grosso z.B. will die Sojaproduktion in seinem Bundesstaat bis 2007 verfünffachen. Trotzdem ist die Sojaindustrie in der Regel nicht selbst an den Rodungen beteiligt, sondern nutzt bereits gerodetes Gelände. Es schafft aber Anreiz für Siedler und Holzfäller, schnell zu roden und das Land weiterzuverkaufen. Die Straßen und Zufahrtswege machen die Wälder für Siedler erst zugänglich. Direkt hingegen werden die Ökosysteme der Savanne (Cerrado) zerstört, die leider selten im Blick der Öffentlichkeit steht. Insofern ist es richtig, dass die Sojaindustrie selbst weniger als die Rinderzucht direkt zur Entwaldung beiträgt, als Motor der Entwaldung und Umwandlung des Amazonasregenwaldes wird sie aber immer wichtiger.
Weitere Ursachen und Folgen
Regierungsbericht und CIFOR-Studie stellen die Bedeutung der Rinderzucht für die Entwaldung Amazoniens heraus. Wie sieht es mit den bisherigen Hauptverdächtigen aus: Illegaler Holzeinschlag und Infrastrukturprojekte? Flächenmäßig spielen sie in der Tat eine geringe Rolle, was diese in vielen Statistiken verschwinden lässt, allerdings seit Jahren zu Unrecht. Nicht die Fläche der direkten Entwaldung ist hier ausschlaggebend: Sie erst öffnen bislang unzugängliche Waldgebiete für alle anderen zerstörerischen Nutzungsformen, angefangen bei Kleinsiedlern und Großgrundbesitzern. Die Erschließungsstraßen der Holzfirmen und Pipelinebauer sowie ausgebaute Bundesstraßen sind die Achsen, entlang derer sich die Rodungsflächen in den Regenwald fressen und ihn systematisch zerschneiden. Für eine Entlastung des illegalen Holzeinschlags und der Infrastrukturmaßnahmen besteht also kein Grund.
Keineswegs ist zu vergessen, dass die Invasion von Indigenengebieten mit allen ihren Menschenrechtsverletzungen integraler Bestandteil dieser Entwaldungsdynamik ist. Großgrundbesitzer setzen übrigens oft Arbeitssklaven für die Rodungsarbeiten ein.
Fazit
Entgegen den Einschätzungen der Regierung wird es zu einem weiteren Anstieg der Entwaldungsrate auf neue Rekordwerte kommen. Die Infrastruktur dafür ist schon da, wird mit Regierungsgeldern und privatem Geld massiv ausgebaut und wartet nur auf eine wirtschaftliche Erholung des Landes. Die Regierungsmaßnahmen zur Vermeidung von Entwaldung ist weiterhin kaum mit der übrigen Politik abgestimmt und stark unterfinanziert, das Budget des Umweltministeriums wurde sogar um 20% gekürzt. Umweltministerin Marina Silva arbeitet zwar mit richtigen Analysen und aufrichtigem Engagement, kann aber trotz kleiner Erfolge bei der Bekämpfung von Umweltverbrechen den Trend nicht brechen und macht gute Miene zum bösen Spiel. Trotz aller Rhetorik hat in der Umwelt- und Amazonienpolitik noch kein Wechsel gegenüber der Vorgängerregierung stattgefunden. Durch die nun bekannte Bedeutung der brasilianischen Nahrungsmittelexporte an der Entwaldung wird ein neues Licht auf die direkte Verantwortung Europas geworfen. Dies ist ein neuer und wichtiger Ansatzpunkt für politische Gegenmaßnahmen, der Hoffnung auf direkte Einflussmöglichkeiten birgt.