Umweltpolitik in Brasilien: Bilanz und Ausblick

Die größte Biodiversität und Frischwasserreserven der Welt, fünf verschiedene komplexe Biome und unzählige Ökosysteme – Brasilien verfügt über eine einzigartige Naturlandschaft. Und die Natur Brasiliens beherbergt nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch Millionen von Menschen die von ihr und ihren Ökosystemleistungen direkt oder indirekt abhängig sind.
| von Christoph Hess
Umweltpolitik in Brasilien: Bilanz und Ausblick
Umweltschutzgebiet - Müll abladen verboten

Trotzdem spielt das Thema Umwelt (mal wieder) keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle in den politischen Auseinandersetzungen die im Mai zu der Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff geführt haben. Dabei ist es gerade jetzt angebracht ein wachsames Auge auf die Umweltpolitik zu legen: schon seit Jahren gibt es großen Druck auf die Umweltgesetzgebung und mehrere einschneidende Gesetzesvorhaben sind auf dem Weg – und könnten unter der neuen (Interims-) Regierung Temer and Fahrt gewinnen.

Eine nüchterne Bilanz

Um die aktuellen Initiativen einschätzen zu können, lohnt es sich eine kurze Bilanz der Umweltpolitik der letzten 13 Jahre zu ziehen. Und diese Bilanz ist ernüchternd – Umwelt stand nicht gerade weit oben auf der Agenda der Arbeiterpartei PT und deren Regierungen. Die Agroindustrie hat sich exponentiell ausgedehnt und mit ihr Abholzung, Monokultur und der massive Einsatz von Pestiziden und gentechnisch verändertem Saat gut. Bereits unter der ersten Lula-Regierung wurde der Anbau von gentechnisch verändertem Soja legalisiert und befindet sich seitdem auf dem Vormarsch.[i] Seit 2008 ist Brasilien Weltmeister im Einsatz von Pestiziden, in keinem anderen Land der Erde wird soviel Gift auf den Feldern verspritzt. Besonders besorgniserregend: ein Großteil der in Brasilien angewendeten Pestizide ist in Europa und den USA verboten. Und die Regierung intensivierte deren Einsatz sogar durch Steuererleichterungen.[ii] Zudem wurden viele Großprojekte, gegen die zuvor Umweltschützer/innen, lokale und traditionelle Gemeinden und nicht zuletzt viele PT-Anhänger/innen jahrelang gekämpft hatten, wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Dazu zählen z.B. die Großstaudämme im Amazonas und die Umleitung des São Francisco – Flusses im Nordosten des Landes. Marijane Lisboa, Professorin an der katholischen Universität São Paulo (PUC-SP), schlussfolgerte bereits 2007: „Unter den diversen Enttäuschungen die die Regierung Lula für ihre Wähler/innen bereit gehalten hat war die Umweltpolitik eine der größten.“1

Wenn unter Lula (2003 – 2010) die Umwelt bereits keinen besonders hohen Stellenwert genoss zeigte unter seiner Nachfolgerin Dilma (2011 – 2016) die Tendenz weiter nach unten. Dabei fallen nicht nur die Vorhaben an sich ins Gewicht, sondern auch die Art und Weise deren Umsetzung. Das gilt besonders für die zahlreichen Staudamm-Projekte. Bereits als Energie-Ministerin unter Lula hatte Dilma die Staudämme Santo Antônio und Jirau im Madeira-Fluss mit authoritären Maßnahmen durchgesetzt. Unter ihrer ersten Präsidentschaft wurde Belo Monte genehmigt, einer der kontroversesten Staudämme der Welt, der zu massenhaftem Widerstand (nicht nur) der zahlreichen betroffenen indigenen Völker und zahllosen juristischen Auseinandersetzungen geführt hat. Am Tapajós-Fluss ließ Dilma 2013 das Militär aufmarschieren um die Datenerhebung für die Umweltprüfung für den nächsten Großsstaudamm, Sao Luiz do Tapajós, gegen die aufgebrachte indigene Bevölkerung sicherzustellen.[iii] Dazu stagnierte der Ausbau der Wasser-, Abwasser- sowie Abfallinfrastruktur und das Gesetz zur Regulierung der Wälder (côdigo florestal) wurde auf Druck der Agrarlobby reformiert und aufgeweicht.[iv] Unter Dilma sank die Demarkierung von indigenen und Naturschutzgebieten auf ihren niedrigsten Stand seit dem Ende der Militärdiktatur (1985) und die Rechte der indigenen Völker auf ihre Länder wurde zunehmend in Frage gestellt.[v] Als wäre das alles nicht genug brach im November 2015 in Mariana im Bundesstaat Minas Gerais ein Minen-Staudamm und ergoß Millionen Liter Schlamm in den Rio Doce – Fluss. Der Unfall wird von vielen Kommentaristen als eines der größten Umweltdesasters in Brasiliens Geschichte angesehen.

Seit der Übernahme der Präsidentschaft 2003 zielte die Politik der PT auf einen Ausgleich zwischen den sozialen und wirtschaftlichen Interessen verschiedener einflussreicher Akteure ab – und alles deutet darauf hin dass dabei die Umwelt letztendlich hinten angestellt wurde. Die traditionelle Sichtweise von Entwicklung kontra Umwelt setzte sich in der Praxis durch. Claudio Angelo, Direktor des Instituts Observatório do Clima (Klima-Beobachtungszentrum), sagt über Dilma: “Die abgesetzte Präsidentin hat eine völlig überholte Vorstellung von Entwicklung, in der Umwelt nie einen Platz hatte.“[vi]

Regierung Temer: Umweltpolitik weiter unter Beschuss

Allerdings gibt es sehr wenig Gründe zur Annahme dass sich diese Situation mit der Regierung Temer zum Besseren wenden würde – im Gegenteil. Wie viele andere Beobachter/innen geht Angelo von einer noch härteren Gangart der Regierung Temer gegenüber Umweltfragen aus und urteilt etwas sarkastisch: „Dilma bedeutete ein Rückschritt von 50 Jahren in 5 in der Umweltpolitik, und zu allem Überfluss hat sie uns jetzt auch noch die PMDB hinterlassen.“

Die PMDB ist die Partei des vorherigen Vize- und jetzigen Präsidenten Temer und führt die neue Regierung an. Sie ist traditionell mit den brasilianische Wirtschaftseliten verbunden und vertritt deren Interessen – dazu gehört auch die Agro- und Bergbauindustrie. Bereits in den letzten Jahren wurden vermehrt Gesetzesvorhaben artikuliert, die in mehreren Bereichen der Umweltpolitik bedenklich sind. Dazu gehört z.B. das neue Gesetz über Bergbau (Côdigo de Mineração), der eine Reihe von Vereinfachungen für die Bergbauindustrie vorsieht. Vor allem aber steht die Gesetzgebung zum Umweltgenehmigungsverfahren im Fadenkreuz der Unternehmen.

Das Umweltgenehmigungsverfahren ist vor allem bei Großprojekten, unter ihnen große Staudämme und weitere Infrastrukturmaßnahmen, komplex und die betroffene Bevölkerung sowie Kritiker/innen bekommen die Möglichkeit einzugreifen. Vor diesem Hintergrund führten unter anderem die Wasserkraftprojekte im Amazonas zu scharfen politischen Auseinandersetzungen. Deshalb wird das Verfahren von vielen Wirtschaftsvertreter/innen als Hindernis für ihre Investitionen begriffen – und als Hindernis für die Entwicklung des Landes dargestellt. Eine Vereinfachung des Verfahrens in ihrem Sinne ist seit Jahren hoch auf ihrer Forderungsliste.

Unter den aktuellen Vorhaben heben sich die Verfassungsänderung PEC 65/2012 und der Gesetzesentwurf PLS 654/2015 hervor. Die PEC 65/2012 enthält die weitestgehende Änderung in dem Verfahren. Sie sieht die obligatorische Genehmigung eines Projektes bei bloßer Vorlage einer Umweltprüfung von Seiten des Trägers vor. Der Vorschlag würde damit de facto das Genehmigungsverfahren abschaffen. Deshalb muss dafür auch die Verfassung geändert werden, in der das Verfahren verankert ist. Die Regierung Temer hat rein nominal eine 2/3-Mehrheit im Parlament, was diese Änderung möglich machen würde. Allerdings sind die Auswirkungen und die damit verbundenen politischen Risiken groß. Der Vorschlag wird momentan in einer Kommission des Senats bearbeitet.

Der Gesetzesentwurf PLS 654/2015 sieht ebenfalls eine Vereinfachung des Verfahrens vor. Für Projekte welche von der Regierung als „strategisch“ eingestuft werden soll in Zukunft eine Frist von maximal acht Monaten gelten. Falls die zuständigen Behörden nicht innerhalb dieser Frist reagieren gilt das Projekt als genehmigt. Dazu sollen die heute vorgeschriebenen öffentlichen Anhörungen abgeschafft und nur noch eine Lizenz vergeben werden – nach heutigem Stand ist die Lizenzvergabe in provisorische, Installations- und Inbetriebnahmelizenz dreigeteilt. Autor des PLS 654/2012 ist der Senator Romero Jucá (PMDB), welcher von Temer zum Planungsminister ernannt worden war, jedoch nach nur wenigen Wochen zurücktreten musste.[vii] Der Entwurf wurde bereits von der zuständigen Kommission des Senats verabschiedet und kann jederzeit im Plenum abgestimmt werden. Bei Annahme müsste er noch in der zweiten Kammer, dem Abgeordnetenhaus, angenommen und schließlich vom Präsidenten sanktioniert werden.

Düstere Aussichten

Darüber hinaus gibt es weitere Vorschläge zur Änderung des Umweltgenehmigungsverfahrens. Dabei gibt es sicherlich gute Gründe das Verfahren zu reformieren – in dem momentanen Stand frustriert es alle Beteiligte, inklusive der betroffenen Bevölkerung, der indigenen/traditionellen Gemeinden, sozialen Bewegungen und Umweltschützer/innen. Mauricio Guetta, Anwalt und Umweltberater des Instituto Socioambiental (ISA), fasst jedoch zusammen: “Wenn man all die aktuellen Gesetzesentwürfe analisiert stellt man fest dass keiner auf einer Stärkung des Genehmigungsverfahren abzielt, und keiner versucht die Hauptprobleme, welche das Verfahren heute betreffen, zu lösen.“[viii]

Anstatt die Umweltgesetzgebung zu stärken und zu mordernisieren soll also die Gunst der Stunde genutzt werden um geltende Standards abzusenken. Der Druck ist groß, und die neue Regierung braucht erfolgreiche Projekte und Wirtschaftswachstum um sich zu legitimieren. Der neue Umweltminister Sarney Filho hat am 2.6. in einer Pressemitteilung bereits bekannt gegeben dass ein allgemeines Gesetz zur Vereinfachung des Genehmigungsverfahrens angestrebt werden soll. Es sieht nicht danach aus dass damit eine Stärkung der Umweltgesetzgebung einhergehen wird.



[i] “Transgênicos no governo Lula: liberdade para contaminar”, Marijane Vieira Lisboa, https://www.ecodebate.com.br/2007/09/20/transgenicos-no-governo-lula-liberdade-para-contaminar-por-marijane-vieira-lisboa-2/

[ii] “Agrotóxicos: o veneno que o Brasil ainda te incentiva a consumir”, Marina Rossi, http://brasil.elpais.com/brasil/2016/03/03/politica/1457029491_740118.html

[iii] Für mehr Infos zu Sao Luiz do Tapajós siehe: https://www.kooperation-brasilien.org/de/themen/landkonflikte-umwelt/brasilien-umweltbehoerde-suspendiert-genehmigungsverfahren-fuer-das-wasserkraftwerk-sao-luiz-do-tapajos

[iv]Questão ambiental: ruim com Dilma, pior com Temer”, André Trigueiro, http://www.envolverde.com.br/opiniao/ruim-com-dilma-pior-com-temer/

[v] “O que o governo Dilma fez (e não fez) para garantir o direito à terra e áreas para conservação?”, ISA, https://www.socioambiental.org/pt-br/noticias-socioambientais/o-que-o-governo-dilma-fez-e-nao-fez-para-garantir-o-direito-a-terra-e-areas-para-conservacao

[vi] “Temer vai tocar uma agenda antiambiental pesada”, Interview mit Claudio Angelo, El Pais, http://brasil.elpais.com/brasil/2016/05/16/politica/1463412621_792712.html

[vii] Für weitergehende Informationen siehe: https://www.kooperation-brasilien.org/de/themen/politik-wirtschaft/uebergangsregierung-von-temer-schlaegt-ein

[viii] “Ministério do Meio Ambiente defende criação de lei geral para o licenciamento ambiental”, ISA, https://www.socioambiental.org/pt-br/noticias-socioambientais/ministerio-do-meio-ambiente-defende-criacao-de-lei-geral-para-o-licenciamento-ambiental