Staudamm, Schiene, Schnitzel
Von Christian Russau
Lateinamerika Nachrichten, Juli/August 2017
Dossier „Wasserkraft in Lateinamerika“, Lateinamerika Nachrichten/GegenStrömung
Die von Politik und Unternehmen geplanten Staudämme am Tapajós-Fluss in Amazonien sollen Strom erzeugen, aber auch die Wasserstände der dortigen Flüsse regulieren, so dass diese durchgehend schiffbar werden. Diese Vorhaben bedrohen das Überleben der Wälder und Flüsse Amazoniens. Doch auch das hiesige Konsumverhalten und deutsche Schweinemastanlagen stehen mit der drohenden Zerstörung im Zusammenhang.
Den indigenen Munduruku ist schon früh klar geworden, dass der Politik nicht zu trauen ist. Zu oft hatten Regierungsbeamte ihr Wort gebrochen. So nahmen sie stattdessen die Dinge lieber selbst in die Hand. Die Munduruku begannen im Oktober 2014, Fakten zu schaffen: Sie fingen an, die Sawré Muybu – so bezeichnen sie das Gebiet, das sie bewohnen – selbst als indigenes Territorium zu demarkieren, um es zu schützen.
Die Gefahr, die dem Sawré Muybu droht, ist die Zerstörung durch Staudämme. Wie schon so viele andere indigene Territorien in Amazonien soll es für ein Wasserkraftwerk überflutet werden. Denn Amazonien stand und steht im Fokus des Interesses, Staudämme zu errichten. Staatlichen Berechnungen zufolge hat Brasilien ein Gesamtpotenzial für Wasserkraft in Höhe von 260.000 MW Kapazität, von denen 40,5 Prozent allein in Amazonien liegen. Im Mai 2016 sind die ersten Turbinen des größten Wasserkraftwerks in Amazoniens, Belo Monte am Xingu-Fluss, in Betrieb genommen worden, bis 2019 soll es fertiggestellt werden. Nun will Brasília die weiter westlich gelegene Region von Pará in Angriff nehmen.
Im Visier der Wasserkraft steht dabei das Flussbecken des Tapajós. An den beiden Quellflüssen, Teles Pires und Juruena, aus deren Zusammenfluss sich der Tapajós bildet, sowie an all deren kleineren Zuflüssen, sollen Wasserkraftwerke entstehen. Für das Tapajós-Becken sind insgesamt 43 große Staudämme sowie über 70 kleine Wasserkraftwerke (unter 30 MW) geplant.
Der größte der geplanten Staudämme im Tapajós-Becken ist der São Luiz do Tapajós-Damm mit über 8 GW Kapazität. Mit geplanten Kosten von etwa zehn Milliarden Euro wäre der Damm am Tapajós fast ebenso teuer wie der Belo-Monte-Staudamm. Zwischen 2011 und 2016 wurde die Planung des São Luiz do Tapajós-Damm von der Regierung in Brasília massiv vorangetrieben. Doch es gab Widerstand, insbesondere von den Indigenen der Munduruku.
„Die Regierung und die FUNAI sind nie hierhergekommen, um über die Demarkation unseres Territoriums, über Gesundheit oder Bildung zu reden. Sie kommen hier nur her, um über Staudämme zu reden“, erklärte 2011 Floriano Munduruku, in seiner Aussage gegenüber der Bundesstaatsanwaltschaft in Pará. Das machte die indigenen Munduruku so wütend, dass sie mehrmals von Brasília entsandte Anthropolog*innen, Biolog*innen und Feldvermesser*innen festsetzten und nur gegen die Zusage, die Staudammpläne ad acta zu legen, wieder freiließen. Doch die Pläne gingen immer weiter. „Für uns Indigene Völker gibt es keine Kompensation, um uns für den Verlust unserer Kultur und unserer traditionell indigenen Lebensweise zu entschädigen. Die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder steht auf dem Spiel“, erklärten 2016 die indigenen Gruppen der Xerente, Apinajé, Krahô, Kayabi und Juruna in einer gemeinsam Erklärung.
Um ihre Zukunft zu schützen, fingen die Munduruku an, selbst ihr Territorium zu demarkieren. Sie begannen, Daten darüber zu erheben, welche Gebiete in welcher Form von den Indigenen genutzt werden. Dies war keine einfache Aufgabe, denn die Population der über 10.000 Munduruku lebt zerstreut in zahlreichen kleinen Gruppen.
Mit dieser Selbst-Demarkierung ihres Territoriums solidarisierten sich viele zivilgesellschaftliche Gruppen im In- und Ausland. Dieser massive öffentliche Druck bewog die brasilianischen Behörden, erst einmal einzulenken. Im April 2015 entschloss sich die Umweltbehörde Ibama dazu, die Umweltverträglichkeitsprüfungen für den Staudamm São Luiz do Tapajós neu zu überarbeiten: ein schwerer Schlag für die Staudammbefürworter*innen.
Doch die weltweite Solidaritätsarbeit für die Menschen am Tapajós nahm nicht ab. Im Frühjahr 2016 unterstützte das deutsche Hilfswerk Misereror in ihrer Fastenaktion die Flussanwohner*innen, Kleinbäuer*innen und Munduruku am Tapajós zwischen den Orten Itaituba und Jacareacanga. Eine entsprechende Petition, die die Wahrung der Rechte der Bevölkerung am Tapajós einforderte, wurde von über 50.000 Menschen unterschrieben. Verschiedene internationale Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace gaben den Munduruku technische Unterstützung bei der Selbstdemarkation der Sawré Muybu als Indigenes Territorium. Mitte 2016 war der Prozess abgeschlossen: Die Munduruku bauten die offiziellen Schilder zur Außenkennzeichnung Indigener Territorien – wie sie normalerweise die Indigenenbehörde FUNAI produziert – einfach nach. Öffentlichkeitswirksam hängten sie diese an den Außengrenzen von Sawré Muybu auf. Die Bilder von der Aktion gingen um die Welt.
Und dann kam es im August 2016 zur Überraschung vieler zu einem wichtigen Etappensieg für die Indigenen und die Flussanwohner*innen der Region: Die Umweltbehörde IBAMA stoppte das ganze Genehmigungsverfahren für den Staudamm São Luiz do Tapajós. Doch die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass solche Pläne jederzeit wieder aus den Schubladen der Behörden hervorgeholt werden können.
Zudem ging es Brasília in der Tapajós-Region nie nur um Energieproduktion. Mit den Staudämmen sollen auch Transportwege ausgebaut werden: Sie sollen dazu beitragen, den Flusslauf zu regulieren und ihn so schiffbar zu machen. Dadurch sollen Wasserstraßenrouten für den Transport von Rohstoffen aus dem Bundesstaat Mato Grosso geschaffen werden. Die Staumauern würden dafür sorgen, dass Stromschnellen überflutet werden. Vier Schleusen sollen am Tapajós entstehen, sechs am Teles Pires. Dann können auch größere Schiffe diese Regionen erreichen. Dazu sollen die Häfen in Santarém, Mirituba, Itaituba, Santana und Barcarena ausgebaut werden. So würden die Infrastrukturprojekte nicht nur Energie liefern, sondern auch den kostengünstigen Transport von Rohstoffen bis an den Atlantik ermöglichen. Dabei geht es um den Transport von mineralischen Bodenschätzen und Agrarrohstoffen wie Soja, Mais und Weizen. Die ganze Region soll an den Weltmarkt angeschlossen und für die expandierenden Bergbau- und Agrarindustrien massiv erschlossen werden.
In Mato Grosso wurden erst Anfang der 2010er Jahre Vorkommen mit 450 Millionen Tonnen Phosphat sowie elf Milliarden Tonnen Eisenerz entdeckt. Brasília will diese Erze unter anderem über die schiffbar zu machenden Flüsse des Tapajós-Beckens transportieren lassen. Eine andere Möglichkeit wäre der Bau einer Eisenbahn.
„Ferrogrão“ –„Eisengetreide“ heißt einer der geplanten Süd-Nord-Bahnkorridore von Sinop in Mato Grosso nach Miritituba in Pará am Tapajós. Von dem dortigen Hafen aus können die Rohstoffe dann über den Amazonas bis zum Atlantik gebracht werden. „Ferrogrão“ soll den Planer*innen zufolge dem Transport von Soja und Getreide aus Mato Grosso dienen, aber auch für Erzzüge nutzbar sein. Weitere Pläne sehen den Bau einer Ost-West-Bahntrasse vor: Zu diesen Plänen zählt auch die Idee der sogenannten bi-ozeanischen Eisenbahntrasse zwischen dem brasilianischen Hafen Santos in São Paulo und dem peruanischen Pazifikhafen Ilo. Dieses „Jahrhundertprojekt“, an dem sich auch Deutschland beteiligen will, soll Zentralbrasilien und Bolivien mit Häfen am Atlantik und Pazifik verbinden und dadurch an die Märkte in Europa und Asien anschließen.
Für die Bergbaukonzerne gibt es zur Schiffbarmachung von Flüssen oder zum Bau von Bahntrassen keine Alternativen: Erze und deren Derivate lassen sich nicht kostengünstig auf LKW über hunderte von Kilometer transportieren. Aber auch aus Sicht der Soja-Farmer*innen aus Mato Grosso spricht vieles für den Bau des „Ferrogrão“ und der Wasserstraßen.
Bislang ist die Boomregion für Sojaanbau im Bundesstaat Mato Grosso nur über LKW an den Weltmarkt angeschlossen. Über die insgesamt 3.467 Kilometer lange Bundesstraße BR 163 konnten die Sojafarmer*innen ihre Produkte entweder in Richtung Norden nach Miritituba und Santarém oder in Richtung Süden zum Hafen von Santos verschicken. Die Farmer*innen in Mato Grosso beklagen immer wieder die hohen Kosten der mehrtägigen LKW-Fahrten auf der BR-163 gen Südosten. Zudem komme es oft zu Staus bei der Entladung des Sojas in den Häfen von Santos oder Paranaguá: Die Atlantikhäfen sind häufig völlig ausgelastet, denn dort wird auch das Soja aus Südbrasilien und Paraguay ausgeschifft. Manchmal stehen die LKW und Fahrer*innen mehrere Wochen still.
Auch die BR-163 nach Norden sei immer viel befahren, klagen die Farmer*innen aus Mato Grosso. Die derzeitigen Kapazitäten des Hafens Mirituba seien nahezu ausgeschöpft. Deshalb befürworten sie auch die Pläne, die Soja-Terminals an den Häfen am Amazonas massiv auszubauen: Die Kapazität des Hafens von Santarém bei der Tapajós-Mündung in den Amazonas soll im kommenden Jahrzehnt von derzeit 1,8 auf 8 Millionen Tonnen Soja pro Jahr ausgebaut werden. Im Hafen Porto Velho am Rio Madeira sind Ausbauten von 4 auf 7 Millionen Tonnen pro Jahr und in Miritituba am Tapajós von derzeit 3,5 auf 32 Millionen Tonnen pro Jahr geplant.
Sollten die Wasserstraßenprojekte im Tapajós-Becken in dieser Form realisiert werden, erwarten die Soja-Farmer*innen eine Kostenersparnis von satten 41 Prozent beim Transport ihrer Produkte. Bislang, so klagen Soja-Farmer*innen in Mato Grosso, hätten sie viermal höhere Logistikkosten pro Tonne Soja als ihre Konkurrenten im Mittleren Westen der USA. Die geplanten Infrastrukturprojekte am Tapajós würden die Logistikkosten enorm senken und den Anbau von Soja im großen Stil in Regionen lohnenswert machen, die bislang von der Expansion der Agrarindustrie verschont geblieben waren.
Die sozialen und ökologischen Folgen dieser Infrastrukturprojekte wären enorm. Márcio Santilli vom Instituto Socioambiental (ISA) spricht angesichts dieses Amazonien durchziehenden Netzes von Straßen vom „zerhackten Amazonien“. Die Verkehrswege würden große zusammenhängende Teile Amazoniens, die noch bewaldet sind, zerteilen. Dabei gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Entwaldung und Verkehrswegen: 80 Prozent aller Rodungen in Amazonien erfolgen innerhalb eines 30 Kilometer breiten Streifens entlang asphaltierter Straßen.
Brasilien ist schon heute Soja-Exportweltmeister – mit allen sozialen und ökologischen Folgen, die dieses Modell vor Ort erzeugt. So ist Brasilien auch Weltmeister im Pestizidverbrauch und in der Auslaugung der Böden; die Landpreise steigen, Konflikte um Land nehmen zu. Die kleinbäuerliche Bevölkerung wird dagegen immer mehr marginalisiert. Doch die brasilianische Politik fördert weiter die Expansion der Agrarindustrie, denn sie ist der größte Devisenbringer. Soja brachte im Jahr 2015 einen Exporterlös von 28 Milliarden US-Dollar, Produkte aus Soja stehen allein für 14,6 Prozent der brasilianischen Exporte. In der Erntesaison 2015-2016 wurden in Brasilien insgesamt 95 Millionen Tonnen Soja auf 33,9 Millionen Hektar geerntet.
Das brasilianische Landwirtschaftsministerium will diesen Trend noch mehr befeuern. Landwirtschaftsminister ist derzeit Blairo Maggi, der selbst Farmer aus Mato Grosso ist und eine zeitlang als der größte individuelle Sojaproduzent der Welt galt. Nach Plänen aus seinem Ministerium soll die Produktion von Soja, Weizen und Mais von 185 Millionen Tonnen auf bis zu 274,8 Millionen Tonnen im Jahr 2022 ansteigen. Dabei soll der Heimatstaat von Maggi, Mato Grosso, die Hauptrolle spielen. Geplant ist, den Anteil Mato Grossos an der brasilianischen Jahresproduktion von Soja von 29,2 Prozent im Jahr 2012 auf 40 Prozent bis 2022 zu erhöhen.
Soja hat in den letzten Jahren Eisenerz und andere mineralische Rohstoffe als Brasiliens wichtigstes Exportprodukt abgelöst. Dies liegt auch daran, dass in Folge der Finanzkrise die Weltmarktpreise für Erze stärker gefallen waren, als die für Soja. Wichtigste Zielländer des brasilianischen Sojas sind China und Europa. China importiert vor allem ganze Sojabohnen. Im Jahr 2015 importierte China 41 Millionen Tonnen ganze Sojabohnen aus Brasilien, das sind 75 Prozent des Gesamtexports von ganzen Bohnen. Die Europäische Union dagegen ist Spitzenreiter beim Import von Sojamehl. Ebenfalls im Jahr 2015 importierte die EU 8,3 Millionen Tonnen oder 56,3 Prozent der gesamten brasilianischen Exporte von Sojamehl.
Sojamehl wird vor allem in der Tierfütterung eingesetzt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von 2015 gab es allein in Deutschland 39,6 Millionen Legehennen, 27,5 Millionen Schweine, 12,6 Millionen Rinder und 1,6 Millionen Schafe. Demnach wird in Europa jedes vierte Schwein in Deutschland geschlachtet. Und Deutschlands Nutztiere fressen jährlich insgesamt 82 Millionen Tonnen Futter, wie der Deutsche Verband Tiernahrung angibt. Die Nutztiere brauchen insbesondere verdauliches Rohprotein, so der Verband, 8,37 Millionen Tonnen pro Jahr. 22,2 Prozent dieses verdaulichem Rohprotein, das verfüttert wird, importieren die deutschen Futterproduzenten. Durchschnittlich 13 Prozent Soja wird in das deutsche Mischfutter eingemischt, damit deckt es aber rund 35 Prozent des Bedarfs an verdaulichem Rohprotein ab, erklärt der Deutsche Verband Tiernahrung. Der hohe Fleischverbrauch in Deutschland kurbelt also direkt die Expansion der Agrarindustrie in Brasilien an. Die fortschreitende Zerstörung des Amazonasregenwalds hat unmittelbar mit dem billigen Schnitzel in Deutschland zu tun.
Die Kritik an den hohen sozialen und ökologischen Kosten in den Soja-Anbauländern, die auch hierzulande geäußert wird, ist an der deutschen Masttierwirtschaft nicht komplett vorbeigegangen. Aus Budapest kam ein Vorschlag wie die europäischen Eiweißimporte zu verringern wären. Dort kamen Vertreter*innen der Agrarressorts Ungarns, der Slowakei, Moldawiens, der Republika Srpska und Nordrhein-Westfalens im Rahmen des „Donau Soja“-Kongresses zusammen und verkündeten die Absicht, bis 2025 den europäischen Bedarf an Futtereiweiß zur Hälfte aus heimischen Sojabohnen und anderen Leguminosen zu decken.
Ideal für diese geplante Expansion der Sojaproduktion in Europa seien die fruchtbaren Schwarzerdeböden Rumäniens, erklärten internationale Agrarinvestor*innen auf dem „Donau Soja“-Kongress. Dies aber lässt bei vielen Aktivist*innen die Alarmglocken schrillen: In Rumänien gibt es vier Millionen Kleinbäuer*innen. Über 70 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe in Rumänien bewirtschaften weniger als einen Hektar. Obwohl Rumänien nur 7,6 Prozent der in der EU landwirtschaftlich genutzten Fläche hat, befinden sich dort 31,5 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe der gesamten EU. Und die Agrarinvestor*innen stehen schon Schlange, um sich die Schwarzerdeböden anzueignen. Zwischen 2002 und 2012 sind die Bodenpreise für landwirtschaftliche Flächen in Rumänien im Durchschnitt um 38 Prozent jährlich gestiegen – der höchste Wert in ganz Europa. So droht die letzte Region Europas, in der es noch eine eigenständige, kleinbäuerliche Ernährungssouveränität gibt, unter die Räder der Agrarindustrie zu geraten. Der Proteinhunger der europäischen Masttieranstalten hat seinen gewichtigen Anteil daran, um das Schnitzel weiterhin so billig anbieten zu können.
// Christian Russau