Pressemitteilung zum Tag der Landlosen
Am 17. April 1996 wurden 19 Landarbeiter nahe der Stadt Eldorado dos Carajás im brasilianischen Bundesstaat Pará von Polizisten erschossen. Die 19 Personen waren Teilnehmer des "Marsches für eine Agrarreform", der am 10. April von 1.500 Familien landloser Arbeiter ins Leben gerufen wurde, und dabei blockierten sie die Bundesstraße PA-150. Paulo Sette Câmara war im Jahre 1996 Staatssekretär für öffentliche Sicherheit im brasilianischen Bundesstaat Pará und erteilte am 17. April 1996 an die Polizei die Anweisung, "unter Anwendung notwendiger Mittel, inklusive Schusswaffengebrauch" die Bundesstraße PA-150 von den Demonstranten zu räumen. 19 Landarbeiter wurden erschossen, 81 Personen wurden verletzt. Seit diesem Massaker wird jährlich der 17. April als "Tag der Landlosen" in Erinnerung an die Opfer weltweit begangen.
Am 24. April 2008 ist Paulo Sette Câmara nun geladener Gast einer Veranstaltung der Konrad Adenauer Stiftung und der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft in Berlin. Auf dem IX. Deutsch-Brasilianischen Symposium unter dem Titel "Innere Sicherheit und Demokratische Gesellschaft in Brasilien und Deutschland" wird Paulo Sette Câmara am 24. April 2008 um 15:00 Uhr im "Hotel Berlin", Lützowplatz 17, D-10785 Berlin zum Thema "Kriminalität und Gewalt als Herausforderungen für die Demokratie in Brasilien" als Gast der Konrad Adenauer Stiftung (KAS) sprechen.
FDCL, KoBra und die Amigos do MST / Freundinnen und Freunde der MST protestieren auf schärfste gegen die Einladung von Paulo Sette Câmara als Gast der Konrad-Adenauer-Stiftung. "Die Einladung von Herrn Sette Câmaras durch die Konrad-Adenauer-Stiftung als Gastredner auf dem IX. Deutsch-Brasilianischen Symposium ist ein Skandal", sagt Christian Russau vom Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL), "Herr Sette Câmara gab die polizeiliche Anweisung für das Massaker und trägt somit die volle politische Verantwortung". "Die Konrad-Adenauer-Stiftung lädt den politisch Verantwortlichen für das Massaker als Gast zu ihrer Tagung ein und tritt damit das Angedenken der erschossenen Landarbeiter mit Füßen", kritisiert Kirsten Bredenbeck von der Nichtregierungsorganisation KoBra aus Freiburg. "Es kann nicht sein, dass 12 Jahre nach dem Massaker, dessen politisch Verantwortliche noch immer nicht zur Verantwortung gezogen wurden, Herrn Sette Câmara als vermeintlicher Experte für "Innere Sicherheit" auf einer Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung über Demokratie ein Podium gegeben wird", ergänzt Thomas Schmid von den Amigos do MST/Freundinnen und Freunde der MST.
Für weitere Informationen und Interviews kontaktieren Sie:
Christian Russau, FDCL, TEL: 030-693 40 29
Kirsten Bredenbeck, KoBra, TEL: 0761-600 69 26
Thomas Schmidt, Amigos do MST/Freundinnen und Freunde der MST, e-mail: ts.amigos.mst@t-online.de
Aus: Justiça Global / Hrsg. v. FDCL e.V. : Menschenrechte in Brasilien, (Titel des brasilianischen Originals: Direitos Humanos no Brasil - 2003), Lusophonie - Verlag portugiesisch-sprachiger Länder, in Kooperation mit FDCL, Freiburg/Berlin/São Paulo/Rio de Janeiro 2004, S.124-127
Das Massaker von Eldorado dos Carajás
Am 17. April 1996 wurden 19 Landarbeiter von Polizisten nahe der Stadt Eldorado dos Carajás (Bundesstaat Pará) hingerichtet. Die 19 Männer waren Teilnehmer des ‚Marsches für eine Agrarreform’, der am 10. April von 1.500 Familien landloser Arbeiter ins Leben gerufen wurde. Die Familien hatten am Vortag des Massakers gegen 15.00 Uhr ihr Lager am Kilometerpunkt 96 der Fernstraße PA-10, in der sogenannten S-Kurve, unweit der Stadt Eldorado dos Carajás, aufgeschlagen. Die Arbeiter sperrten die Straße und forderten von den sie begleitenden Militärpolizisten Nahrungs- und Transportmittel.
Das 4. Bataillon der Militärpolizei von Marabá stand zu diesem Zeitpunkt bereit, um die Straße frei zu räumen. Aufgrund einer Vereinbarung zwischen den Teilnehmern der Landlosenbewegung MST und der Militärpolizei wurde die Operation gegen 20.00 Uhr abgesagt. Major José Maria Pereira de Oliveira, der die Verhandlungen mit der MST führte, hatte zugesagt, die Forderungen der Landlosen an die Verantwortlichen auf Landes- und Bundesebene weiterzureichen. Am folgenden Tag gegen 11.00 Uhr, dem Tag des Massakers, ließ Leutnant Jorge Nazaré Araújo dos Santos verlautbaren, die Verhandlungen seien abgeschlossen, und man würde keiner der Forderungen nachkommen, nicht einmal der nach einer Lebensmittelspende.
Währenddessen wies der Gouverneur von Pará Almir Gabriel den Staatssekretär für öffentliche Sicherheit Paulo Sette Câmara, den staatlichen Leiter der Landreformbehörde INCRA Walter Cardoso und den Präsidenten des Grundstücksinstituts von Pará Iterpa Ronaldo Barata an, die Straße PA-10 frei zu räumen.
Zu Beginn ihrer Aktion setzte die Militärpolizei Tränengas gegen die Landlosen ein und schoss mit scharfer Munition in die Luft. Anschließend benutzten sie ihre Maschinengewehre. Die Teilnehmer des Marsches verteidigten sich mit Stöcken, Steinen, Sensen, und aus einem Revolver wurden einige Schüsse abgegeben. Außer 19 Toten forderte die Polizeiaktion 81 Verletzte: 69 Landlose und 12 Polizisten.
Hintergrund
Die Ermordung der 19 Männer steht in direkter Verbindung mit einem vorangegangenen erfolglosen Versuch der MST, Verhandlungen mit der Regierung von Pará zu führen. Am 5. März 1996 entschieden 3.500 Familien von landlosen Bauern, die am Rande der Straße zwischen Marabá und Paraupebas lagerten, den Großgrundbesitz ‚Macaxeira’ zu besetzen und in Verhandlungen mit der Landreformbehörde INCRA zu treten. Am darauf folgenden Tag versprach die Regierung von Pará, den Familien innerhalb von 30 Tagen 12 Tonnen Lebensmittel und 70 Kisten mit Medikamenten zu liefern.
Im gleichen Monat traf sich das Bündnis der Großgrundbesitzer mit dem Gouverneur und dem Staatssekretär für öffentliche Sicherheit in Belém. Die Großgrundbesitzer hatten mehrere Gewerkschaftspräsidenten der Großgrundbesitzer aus der Region um Marabá mitgebracht, um so den Druck auf die MST zu erhöhen. Sie reichten eine Namensliste von 19 Personen ein, die verschwinden sollten, damit „der Frieden in die Region zurückkehre“. Die Liste enthielt die Namen der wichtigsten Anführer des MST.
Als die 30-Tage-Frist abgelaufen war und die Regierung immer noch nicht die versprochenen Lebensmittel und Medikamente geschickt hatte, entschieden sich die Landlosen von Marabá für den Marsch in die 800 km entfernte Hauptstadt Belém, um die Regierung zu beeindrucken.
Die Verfahren
Die polizeilichen Ermittlungsverfahren endeten mit der Anklageerhebung gegen die beiden Kommandanten der Operation Major Mário Colares Pantoja und Major José Maria Oliveira und gegen 153 Militärpolizisten wegen Mord und Körperverletzung. Ebenso sollten sich drei Landarbeiter wegen leichter Körperverletzung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und illegalem Waffenbesitz vor Gericht verantworten.
Der Prozess sollte vor dem Strafgericht in Marabá eröffnet werden. Da bei der Vorauswahl der Geschworenen jedoch mehr als die Hälfte der Kandidaten Großgrundbesitzer oder deren Gefolgsleute waren, beantragte die Staatsanwaltschaft erfolgreich die Verlegung des Verfahrens nach Belém (Hauptstadt von Pará).
Während des Prozesses schränkte der verhandlungsführende Richter Ronaldo Valle systematisch die Rechte der Anklage ein. Eingereichte Dokumente durften nicht verwendet werden, trotz fristgemäßem Eingang. Richter Valle ließ öffentliche Kritik der Geschworenen an den Staatsanwälten zu und schritt auch nicht ein, als Verteidiger die Staatsanwaltschaft unflätig beschimpften. Daher war es aufgrund der Parteilichkeit des Richters nicht überraschend, dass die Geschworenen die Angeklagten mit vier zu drei Stimmern freisprachen.
Hiergegen legten die Staatsanwaltschaft, die Landlosenbewegung MST und zahlreiche Menschenrechtsorganisationen Protest ein. Die unrechtmäßige Prozessführung war so eindeutig, dass das Landgericht von Pará das Urteil noch im April 2000 annullierte und die Wiederaufnahme des Verfahrens für den Monat Oktober ansetzte.
Richter Ronaldo Valle bat um Absetzung von dem Verfahren. Bei der Suche nach einer Neubesetzung erklärten 17 von insgesamt 18 im Gerichtsbezirk von Belém tätigen Strafrichtern dem Präsidenten des Landgerichts, dass sie für die Fortsetzung des Prozesses nicht zur Verfügung ständen, da sie mit den angeklagten Polizisten sympathisieren würden.
Im April 2001 wurde die Richterin Eva do Amaral Coelho zur neuen Verhandlungsführerin ernannt. Amaral Coelho hatte sich im Juni 2000 geweigert, einem Gerichtsverfahren gegen den Großgrundbesitzer Jerônimo Alves do Amorim vorzustehen, der sich wegen Mord an dem Präsidenten der Landarbeitergewerkschaft von Rio Maria Ribeiro de Souza zu verantworten hatte.
Die Richterin Eva do Amaral Coelho setzte das Verfahren für den 18. Juni 2001 an. Den drei Offizieren, die im August 1999 einen Freispruch erlangt hatten, sollte erneut der Prozess gemacht werden. Einige Tage vor Verhandlungsbeginn entschied die Richterin die Nichtzulassung des Hauptbeweismittels der Anklage: Ein gerichtsmedizinisches Gutachten von Prof. Ricardo Molina, Universität UNICAMP in Campinas (São Paulo). Die Staatsanwaltschaft und die den Prozess begleitenden Menschenrechtsorganisationen protestierten gegen diese Entscheidung, woraufhin die Richterin ihre Entscheidung zurücknahm und den Termin für das Verfahren verlegte.
Mitte Februar 2002 wurde die Weiterführung des Prozesses auf den 8. April 2002 anberaumt. Am 4. April 2002 forderten Anwälte der Nebenkläger vom Bundesverfassungsgericht die Aussetzung des Verfahrens und die Absetzung der Richterin Eva do Amaral Coelho. Während das Bundesverfassungsgericht dem Antrag nachkam, entschied das Oberlandesgericht von Pará, dass die Richterin weiterhin die Verhandlungen führen solle. Neue Verhandlungstermine waren der 14. und 27. Mai und der 10. Juni 2002.
Da von den ehemaligen 154 Angeklagten bereits einige verstorben oder verschollen waren, wurde der Prozess nur noch gegen 146 Militärpolizisten eröffnet. Die Verhandlungen erstreckten sich über 135 Stunden. Am Ende wurden Oberst Pantoja zu 228 Jahren Haft und Major José Maria Oliveira zu 158 Jahren Haft verurteilt. Die anderen 144 Angeklagten wurden für nicht schuldig befunden.