Kein Land für Indigene und Landlose
Der Indigenenmissionsrat CIMI hat neueste Zahlen zur Gewalt gegen Indigene aus dem Jahr 2023 veröffentlicht. Demnach wurden im Jahr 2023 in mindestens 202 Indigenen Territorien in 22 Bundesstaaten Brasiliens 276 Fälle von Invasionen, illegaler Ausbeutung von Naturressourcen und Sachschäden registriert. In 411 Fällen kam es zu Gewalt gegen Personen, darunter 208 Morde und 17 Totschläge. Eine deutschsprachige Kurzzusammenfassung bietet CIMI hier auf ihrer Internetseite an.
Cimi urteilt in der deutschsprachigen Zusammenfassung: "Im ersten Jahr der neuen Regierung wurden acht Indigene Territorien abschließend genehmigt. Diese Zahl liegt unter den Erwartungen, auch wenn sie höher ist als die der letzten Jahre. Die mageren Fortschritte bei der Demarkierung spiegelten sich in einer Verschärfung von Konflikten wider, wobei es in mehreren Fällen zu Einschüchterungen, Drohungen und gewalttätigen Angriffen gegen Indigene kam, insbesondere in Bundesstaaten wie Bahia, Mato Grosso do Sul und Paraná." Und ergänzt: "Die Streitigkeiten über die Indigenenrechte innerhalb der drei Staatsgewalten Brasiliens spiegelten sich in einem Szenario von anhaltender Gewalt und Angriffen gegen die indigenen Völker und Territorien im Jahr 2023 wider. Das erste Jahr der neuen Bundesregierung war geprägt von der Wiederaufnahme von Kontroll- und Repressionsmaßnahmen bezüglich der Invasionen in einigen indigenen Territorien, aber die Demarkierung von Landgebieten sowie die Schutz- und Hilfsmaßnahmen für die Gemeinschaften blieben unzureichend. In den verschiedenen Regionen des Landes zeigte sich das institutionelle Umfeld von Angriffen auf die Rechte indigener Völker im Weitergehen von Invasionen, Konflikten und gewalttätigen Aktionen gegen Gemeinschaften und im Fortbestand hoher Raten von Mord, Selbstmord und Kindersterblichkeit unter diesen Völkern."
Die besorgniserregenden Zahlen von CIMI decken sich mit den von der kirchlichen Fachstelle für Landfragen CPT veröffentlichten Zahlen zu Landkonflikten im Jahr 2023. Demnach wurde 2023 die höchste Zahl von Landkonflikten seit Beginn der Erhebungen 1985 verzeichnet: 2.203 Konflikte, verglichen mit 2.050 im Vorjahr. Bei den meisten registrierten Konflikten geht es um Land (1.724), gefolgt von Vorfällen von Sklavenarbeit auf dem Land (251) und Konflikten um Wasser (225). Von den Landkonflikten waren im Jahr 2023 950.847 Menschen betroffen. Eine deutschsprachige Kurzzusammenfassung bietet CPT hier auf ihrer Internetseite an.
Für die 305 in Brasilien existierenden Indigenen Völker ist das aktuell politisch brisanteste Thema die These der sog. „Marco Temporal“-Stichtagsregelung, nach welcher nur solche indigene Gebiete Anspruch auf territoriale Bestands- und Rechtssicherheit genießen, die zum Stichtag des Inkrafttretens der Brasilianischen Verfassung am 5. Okt. 1988 einen direkten Bezug zu dem jeweiligen Territorium nachweisen könnten. Dieser Nachweis kann bei vielen Indigenen Territorien und vor allem bei vielen der noch nicht demarkierten Gebiete nicht beigebracht werden. Somit besteht die Gefahr, dass durch diese Stichtagsregelung nachträglich 500 Jahre Landraub und Vertreibung noch einmal legalisiert werden. Mit neun zu zwei Stimmen wiesen die Richter:innen des Obersten Gerichtshofes STF die These der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ im September 2023 zunächst zurück.
Daraufhin verabschiedete der Kongress im Hauruck-Verfahren das „Marco Temporal“ Gesetz 14.701/2023 in beiden Kammern und versuchte somit seine legislative Macht in Fragen der Stichtagsregelung in direktem Konflikt mit dem STF klarzustellen. Die Regierung Lula legte gegen einige Punkte im Gesetz 14.701/2023 sein Veto ein, das vom Nationalkongress aber wieder aufgehoben wurde. Das Gesetz ist somit in Kraft.
Zugleich trieb der Senat eine Verfassungsänderung zum Marco Temporal voran: Die PEC 48/2023 zielt auf eine Änderung des §1º des Art. 231 der Brasilianischen Verfassung, der Indigenen grundsätzlich das Recht auf Land zuspricht. Dieses Grundrecht soll insofern eingeschränkt werden, dass die Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Land explizit an die „Marco Temporal“-Stichtagsreglung gekoppelt wird. Der Senat setzte die nächste Lesung der PEC 48 in der Kommission für Verfassung und Recht auf Oktober dieses Jahres an. Über Verfassungsänderungen befinden die zwei Kammern des Nationalkongresses – und bei Einspruch noch der Oberste Gerichtshof. Der Präsident hat hier kein Vetorecht.
Indessen startet im August 2024 der vom Obersten Richter Gilmar Mendes verfügte Schlichtungsprozess in der Grundsatzfrage „Marco Temporal“. Mendes hatte damit die von Parteien und indigenen Dachverbänden eingereichten Verfassungsbeschwerden gegen die „Marco Temporal“-Regelung ausgehebelt. Die Schlichtung soll vom 5. August bis zum 18. Dezember dieses Jahres laufen, unter Beteiligung von Mitgliedern des Senats, der Abgeordnetenkammer, der Bundesregierung, zweier Gouverneure und eines Vertreters des Nationalen Verbands der Gemeinden (CNM) und der Nationalen Front der Bürgermeister (FNP). Sechs Vertreter:innen des Indigenendachverbands APIB und ihrer sieben regionalen Basisorganisationen können an den Sitzungen teilnehmen. APIB kritisiert das Vorgehen von Mendes scharf und wirft ihm und der konservativen, Agrobusiness freundlichen Kongressmehrheit vor, systematisch gegen die Interessen der Indigenen zu arbeiten.
Derweil bilden sich in Teilen des brasilianischen Agrobusiness’ offensichtlich paramalitärische Tendenzen heraus. Die Gruppe „Invasão Zero“ wurde im Mai 2023 in Bahia gegründet. Die Fazendeiros schlossen sich zusammen, um eine Landbesetzung durch die Landlosenbewegung MST zu verhindern. Die Landlosenbewegung MST ist mit ihrem Kampf um Agrarreform in einem der Länder mit der höchsten Landkonzentration bei Latifundien dabei eine der Hauptzielscheiben der Aktionen der Bewegung „Invasão Zero“. Und in den sich in den vergangenen Jahren vermehrt in ihrem Kampf um Rückgabe ihrer traditionellen Gebiete mobilisierenden Indigenen Völker Brasiliens sieht die Bewegung „Invasão Zero“ ihren zweiten großen Widersacher.
Nach Angaben des Gründers der Gruppe, dem Fazendeiro Luiz Uaquim, wurden bis Mai 2023 zunächst 16 regionale Zentren eingerichtet, die damals bereits 220 Städte abdeckten. „Die Verfassung gibt es in Bahia nicht. Es wird auch niemand für das Eindringen in Eigentum verhaftet. Also mussten wir reagieren und uns selbst organisieren, um die Eindringlinge aus eigener Kraft zu vertreiben“, so Uaquim anlässlich seines Besuchs in Brasília wenige Tage nach Gründung der Fazendeiro-Bewegung, wo er prompt politische Unterstützung des Bundesabgeordneten Luciano Zucco von der rechtsextremen Partei Republikanos erhielt. Zucco war im vergangenen Jahr Vorsitzender der parlamentarischen Untersuchungskomission CPI zur Landlosenbewegung MST, deren erklärtes Ziel es war, der MST Verfassungsfeindlichkeit und illegale Finanzierungen nachzuweisen. Die CPI konnte diesen Nachweis nicht erbringen und endete ohne Abschlussbericht.
Doch die Bewegung „Invasão Zero“ ficht das nicht an, es wurden weitere gleichnamige Gruppen in mittlerweile neun Bundesstaaten gegründet und die Gruppe soll 5.000 Mitglieder haben.
Ende Oktober 2023 gründeten Bundesabgeordnete unter Führung von Zucco in Brasília - in Anwesenheit des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro und seines Ex-Umweltministers Ricardo Salles sowie der Ex-Landwirtschaftsministerin Tereza Cristina - die parteiübergreifende Fraktion „Invasão Zero“ im Parlament. Dies geschah in den Räumen der übermächtigen Parlamentsfraktion der Frente Parlamentar Agropecuária FPA. Die FPA stellt derzeit 300 der 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus, und in der zweiten Kammer des Nationalkongresses, dem Senat, zählt die FPA nach eigenen Angaben 47 der 81 Senator:innen. Diese agrobusinessfreundlichen ruralistas stellen somit derzeit die mächtigste parteiübergreifende Fraktion in den zwei Kammern des Nationalkongress dar und kämpfen dort – ohne jedwede politische Camouflage – gegen die Landrechte der Landlosen, der Indigenen und weiterer traditioneller Völker und Gemeinschaften. Es ist diese Fraktion, die im rechtsdominierten Kongress schamlos indigenenfeindliche Politik durch Gesetze wie zur Stichtagsregelung „Marco temporal“ oder zum Giftpaket zur hemmungslosen Freigabe von Agrargiften vorantreibt – ganz im Sinne des auf Profit fixierten Agrobusiness.
Doch Teile von Brasiliens Agrobusiness greifen noch zu ganz anderen Mitteln. Es gibt schwerwiegende Vorwürfe, dass Teile des Agrobusiness den Sturm des Bolsonarista-Mobs am 8. Januar 2023 auf den Nationalkongress, den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichthof logistisch, finanziell und durch politische Äußerungen stützten, flankierten und beförderten. Bei dem Angriff stürmten bis zu 4.000 Demonstrant:innen die drei Gebäude, richteten teils schwerste Verwüstungen an und bezweckten damit, die demokratisch gewählte, kurz zuvor im Amt vereidigte Lula-Regierung zu stürzen. Ein umfassender Bericht der Investigativjournalist:innen von De Olho nos Ruralistas legte dabei offen zutage, inwieweit dieser Angriff auf die Demokratie in Brasília "sorgfältig orchestriert war – und zwar mit Handschrift des Agrobusiness". Ein Jahr später waren 30 Personen wegen dieses Putschversuchs verurteilt worden, weitere 1.383 sind noch angeklagt (Stand Anfang 2024) – aber niemand von den mutmaßlichen Hintermännern und Drahtziehern des Putschversuchs.
Indessen sickert auch bei Regierungsvertreter:innen und Behörden die Erkenntnis durch, dass sich das Agrobusiness zunehmend radikalisiert und dass sich dort paramilitärische Strukturen herausbilden. „Es ist inakzeptabel, dass in einem demokratischen Regime bewaffnete Gruppen umherziehen und jeden angreifen“, sagte Felipe Freitas, der Staatssekretär für Justiz und Menschenrechte in Bahia, gegenüber der Zeitung Folha de São Paulo. Die Gruppe „Invasão Zero“ jedenfalls stehe nun „im Visier der Behörden, die ihre Vorgehensweise mit der von Milizen oder paramilitärischen Kräften vergleichen.“ Während die Bundespolizei PF in dem Fall der Tötung von Maria de Fátima Muniz Pataxó ermittelt, untersucht die Zivilpolizei von Bahia die Strukturen und Vorgehensweise der Gruppe „Invasão Zero“.
Untersuchungen belegen auch den Zusammenhang zwischen der erklärten Politik der Waffenliberalisierung unter der Regierung Bolsonaro (2019-2022) und der zunehmenden Bewaffnung des brasilianischen Agrobusiness. Spätestens ab dem Gesetz 13.870/2019 wurde Fazendeiros der Waffenbesitz nicht mehr „nur“ im Haus, sondern auf dem gesamten Gelände gestattet. Und die mächtige ruralista-Fraktion FPA im Kongress sucht Presseberichten zufolge vermehrt den Schulterschluss mit der Waffenlobby, um die den Waffenbesitz wieder einschränkenden Dekrete von Präsident Lula zu bekämpfen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage, wie die Lula-Regierung mit einer sich in Teilen zunehmend auch paramilitärisch organisierenden und gewalttätig agierenden Fazendeiro-Front politisch umgehen will. Lula seinerseits deutete in wiederholten Reden an, es gehe darum, das "gute Agrobusiness" zu gewinnen und dadurch das "schlechte Agrobusiness" auszugrenzen. Lula schwebe "eine sauberere Version des industriellen, exportorientierten Landwirtschaftssystems" vor und er wolle "die ökologisch und sozial schädlichsten Praktiken des Sektors verändern, um Brasilien zu einer schlanken, möglichst nachhaltigen Agrar-Supermacht zu machen. Praktiken, die noch vor Kurzem unter Bolsonaros Führung geduldet wurden – von Zwangsarbeit über massive Abholzung bis hin zu Landraub – werden nun als eine zu vermeidende Gefahr für einen stabil-nachhaltigen Agrarsektor angesehen", so eine Analyse im Jacobin-Magazin.
So sagte Lula in Bezug auf Landkonflikte und Agrarreform, es sei nicht mehr nötig, "in Land einzudringen" oder "Lärm" und "Krieg" zu machen. "Was wir brauchen, ist Kompetenz und die Fähigkeit, miteinander zu reden", erklärte Lula. Bleibt die Frage, ob sich das "schlechte Agrobusiness" davon so leicht und vor allem widerstandslos überzeugen lässt. Das darf bezweifelt werden. Denn: "Die brasilianische extreme Rechte entsteht, wächst und erstarkt im Bündnis mit den Interessen des Agrobusiness", erläutert Yamila Goldfarb von der Vereinigung für die Agrarreform in Brasilien, ABRA. Brasiliens extreme Rechte erledige "die ‚Drecksarbeit‘, die das Kapital gerade jetzt braucht: Sie ebnet den Weg für die Kommodifizierung von Land und Gemeingütern. Das bedeutet, dass sie auf das Land und die Territorien der bäuerlichen Bevölkerung und der traditionellen Völker vordringt, entweder mit Gewalt oder mit gesetzgeberischer Macht", so Goldfarb. Dabei werde diese "Drecksarbeit", so Goldfarb, vor Ort von lokalen und regionalen Fazendeiros erledigt und eben nicht von den transnational aufgestellten Multis, die sich um ihr Nachhaltigkeits-Image sorgen. Aber dennoch geschehe eben genau dies im Dienste auch der Konzerne. Denn diese systematischen Angriffe auf Territorialrechte der Bevölkerung dienen letztlich den Kapitalverwertungsinteressen des brasilianischen Agrobusiness.
// Christian Russau