José Carlos Arara: immer aktiv im Widerstand gegen Belo Monte – nun hat ihn Covid-19 getötet
In Erinnerung an Zé Carlos, wie ihn alle nannten, dokumentieren wir hier den Abschnitt aus dem Buch „Abstauben in Brasilien. Deusche Konzerne im Zwielicht“, in dem es um Zé Carlos ging:
Zé Carlos gehört zu denen, die wenig lächeln. Er ist wütend wegen dem, was vor nicht allzu langer Zeit seiner aldeia, seinem indigenen Dorf, zugestoßen ist. Zé Carlos Arara ist der indigene Anführer, der Kazike der Terra Indígena Arara, die in der Volta Grande, einer rund 100 Kilometer langen natürlichen Flussschleife des Xingu liegt, flussabwärts der ersten Staustufe von Belo Monte, Pimental, und flussaufwärts des Hauptturbinenhauses. Als Abkürzung des Flusslaufes haben die Staudammbetreiberin, das größtenteils aus staatlichen Energieversorgern zusammengesetzte Firmenkonsortium Norte Energia, und die Baufirmen einen kilometerlangen Kanal gezogen, der den Großteil des Flusswassers in das große Staureservoir leitet, das der Deich Nr. 6C sichert. Ende Februar 2016 war der sich zum Hauptwasserkraftwerk hin zuspitzende Stausee randvoll. Es hatte so viel geregnet, dass der Staubereich augenscheinlich schneller, als von den IngenieurInnen geplant, volllief. Oder aber diese hatten sich gründlich verrechnet.
Im Dorf der Arara leben über 100 Menschen, und sie verfügen über Radiofunk, über den sie mit der Außenwelt kommunizieren. Immer morgens zwischen acht und elf Uhr sowie am Nachmittag gegen drei Uhr steht die Verbindung. Zé Carlos hat ein Handy, über das er, wenn er Empfang hat, meistens erreichbar ist. Ende Februar war er in der Stadt Altamira, einige Bootsstunden flussaufwärts, um Besorgungen für die aldeia zu machen. Da klingelte am Abend sein Handy, und ein Mitarbeiter von Norte Energia rief an, um ihm mitzuteilen, dass sie jetzt die Schleusentore bei der ersten Staustufe Pimental öffnen würden und dort viel Wasser in die Volta Grande ablassen würden, sodass der dortige Wasserstand rapide steigen werde. Ob er die AnwohnerInnen davon in Kenntnis setzen könne? „Ich sagte Norte Energia, ich bin jetzt in Altamira. Ich habe Norte Energia am Telefon gefragt: ‚Kann man das nicht morgen machen? Jetzt kann ich die aldeia nicht erreichen und meine Leute nicht warnen, wenn wir das Morgen am Vormittag machen, alles kein Problem.‘ Und die Antwort von Norte Energia: ‚Keine Chance. Wir müssen das jetzt machen‘“. Das gibt Zé Carlos Arara Mitte März 2016 in Altamira der Bundesanwältin Thaís Santi zu Protokoll. Die Bundesstaatsanwältin ermittelt seit Jahren gegen die Betreiber- und Baufirmen von Belo Monte, hat bereits mehrere Klagen gegen sie eingereicht. Gemeinsam mit ihren KollegInnen der Bundesstaatsanwaltschaft in Belém sowie den LandesstaatsanwältInnen des Bundesstaats Pará nehmen sie die Beschwerden der von Belo Monte betroffenen Bevölkerung auf, ermitteln und erheben Anklage vor Gericht, um die Rechte der Betroffenen zu schützen. Doch die Gerichte lassen sich meist reichlich Zeit.
Zé Carlos war nach dem Telefonat in höchster Aufregung. Die Schleusentore zu öffnen, ohne dass die BewohnerInnen der aldeia vorher gewarnt worden waren. Er war sehr unruhig, konnte nicht einschlafen. „Ich bin früh am Morgen aufgestanden und habe versucht rauszufinden, was denn nun passiert ist. Um acht Uhr am Morgen habe ich es dann geschafft, die aldeia per Radio zu erreichen. Die haben mir dann sofort erzählt, dass in der Nacht auf einmal all das Wasser den Fluss runterkam und vieles von den Fluten mitgerissen wurde. Boote, Motoren, Netze, alles, was da abgelegt worden war. Und was nicht mitgerissen wurde, wurde oftmals zerstört von den Wassermassen. Die Zementmischung zum Beispiel, komplett aufgeweicht und somit nutzlos.“
Die Menschen rannten in Panik davon. Sie dachten, der Damm sei gebrochen. Bei Pimental sind die umgebenden Deiche rund elf Meter hoch, weiter flussabwärts kommen die Deiche auf 50 und 60 Meter Höhe. Das geht bis zu den 65 Metern bei Deich Nummer 6C. Nicht auszumalen, was passieren würde, wenn hier ein Deich Risse aufweisen sollte. „Das zeigt ganz klar: Norte Energia handelt unverantwortlich!“, so Thaís Santi. „Die haben nicht den geringsten Notfallkommunikationsplan! Und das betrifft die ganze Volta Grande.“ Die Bundesstaatsanwältin erklärt, dass es eine Vereinbarung gegeben habe, wonach man sofort nach der Versteigerung der Baulizenz für Belo Monte mit der Umsetzung des Plans zum Schutz der indigenen Bevölkerungen hätte beginnen müssen. Dieser wurde von der Indigenenbehörde Funai festgelegt und sieht für die indigenen Dörfer neben dem Bau von Schulen, Gesundheitsposten und Häusern sowie der Schaffung von alternativen Einkommensmöglichkeiten für die Indigenen die angemessene Konsultation und Beratung, Entschädigungen in Form von Konsumgütern sowie die Zusicherung vor, dass sich die Lebenssituation der Indigenen nicht verschlechtern dürfe. Am Rio Xingu gibt es laut diesem Schutzplan mehr als 30 indigene Dörfer und Territorien. Ein paar der Gebäude wurden gebaut, aber die ÄrztInnen fehlen. Die Indigenen bekamen Motorboote, aber zu wenig Benzin. Sie erhielten Mopeds, aber die Erdstraße ist bei Regen unbefahrbar. Sie erhielten Dieselaggregate zur Stromproduktion, aber nicht genug Diesel. Dann wurde eine Überlandleitung gebaut, die Dörfer wurden an das Stromnetz angeschlossen, und als Erstes wurden Stromzähler installiert. Die Flachbildschirme laufen den ganzen Tag, da die Menschen nicht mehr fischen gehen können, und die Stromrechnungen können sie nicht bezahlen. Dass die Indigenen angemessen konsultiert und befragt werden, dass ihnen garantiert wurde, es würde ihnen mit dem Staudamm nicht schlechter als zuvor gehen, und dass den betroffenen Indigenen durch kulturelle Maßnahmen ihre Identität bewahrt werde, das stellen die KritikerInnen infrage. All das hätte eigentlich schon 2010 passieren müssen. „Aber bis heute wurde dahingehend rein gar nichts unternommen“, kritisiert die Bundesstaatsanwältin.
Was umgesetzt wurde, sind „Computer, Cars and Cash“. So kommentiert es Todd Southgate, ein kanadischer Dokumentarfilmer. Seit Jahren beobachtet er die mit dem Staudammprojekt Belo Monte zusammenhängenden Veränderungen in den aldeias der Volta Grande. Wo die Indigenen am Xingu zuvor fischten und sich selbst versorgen konnten, trinken sie nun gelieferte Softdrinks aus PET-Flaschen, schauen unterirdische Fernsehshows der Medienzentralen aus dem Süden des Landes und können Fisch meist nur noch essen, wenn sie in die Stadt fahren und dort im Supermarkt Tiefkühlfisch aus Südbrasilien, Thailand oder dem Nordatlantik kaufen. „Die vielfältige indigene Kultur am Xingu wurde durch Belo Monte in all ihren Facetten zerstört“, so Southgate.
Die neuen Bootsmotoren, die Autos, die Mopeds, das Benzin, die Flachbildschirme und die Computer, die die Staudammbetreiberin Norte Energia an die verschiedenen indigenen Dörfer entlang des Xingu-Flusses als Entschädigungen für den Bau von Belo Monte verteilt hat, haben Zwietracht gesät. „Vorher waren wir hier 18 indigene Dörfer, dann kamen die vielen Geschenke von Norte Energia, und es gab Neid und Streit zwischen den verschiedenen Gruppen, sodass sich einige abgesondert haben“, sagt Gilliard Juruna, Kazike im kleinen Dorf Muratu. „Heute sind es 45 aldeias“, so Gilliard. Das alte Teile und Herrsche? „Ja“, sagt Gilliard, „das war die Strategie, sie wollten uns spalten, um unseren Widerstand zu schwächen.“
Thaís Santi spitzt den Vorwurf noch zu. „Meine Ermittlungen in dem Fall haben ergeben, dass die Auswirkungen des Staudammbaus nicht wie vorgeschrieben gemindert, sondern im Gegenteil sich verschärft haben. Die Untersuchungen aller Dokumente, Zeugen- und Betroffenenaussagen sowie selbst die Studien der Indigenenbehörde Funai ergeben das gleiche Bild: Bei Belo Monte handelt es sich um einen Ethnozid.“ Durchgeführt vom brasilianischen Staat und der Staudammbetreiberin Norte Energia. Über die Zuwendungen würden Abhängigkeiten geschaffen und die Sozial- und Alltagsstruktur in den aldeias zerstört. „Was hier vorgeht, ist ein kompletter Umbruch des Lebenswandels, der Ernährung, der Arbeitswelt der Indigenen“, so Santi, die in São Bernardo do Campo südlich von São Paulo geboren wurde, in Curitiba in Südbrasilien aufwuchs und seit vier Jahren als Bundesstaatsanwältin in Altamira arbeitet. Sie hat 2015 wegen Ethnozid Klage bei Gericht gegen Belo Monte eingereicht. „Während ein Genozid die Völker physisch ermordet, tötet ein Ethnozid sie in ihrem Geist“, erklärt sie. Eine ganze Kultur und Lebensweise stehe hier auf dem Spiel.
Bevor sie als Bundesstaatsanwältin anfing, arbeitete sie als Universitätsprofessorin für Philosophie. Ihre Abschlussarbeit hat sie über Hannah Arendts Totalitarismustheorie verfasst. Mit ihren StudentInnen, so erzählt sie, habe sie oft diskutiert über eine Welt, in der alles möglich ist, eine Welt am Rande der Legalität, eine Welt des Terrors. Und das, sagt Thaís Santi, habe sie am Xingu vorgefunden. „Belo Monte ist ein Ethnozid in einer Welt, in der alles möglich ist.“ Denn dieser Großstaudamm zeige die Extremseite eines als flexibel handhabbar verstandenen Rechts. Die Verletzung der Rechte der vom Staudammprojekt Belo Monte betroffenen Menschen sei ein Verfassungsbruch. Vor Gericht werde aber nicht mit dem Recht argumentiert, sondern mit der Kraft des Faktischen. „Die Staudammbetreiberin entgegneten den Klagen mit dem Argument, wie viel schon für den Bau ausgegeben worden sei und wie viele BauarbeiterInnen bei Einstellung des Projekts ihren Job verlieren würden. […] Dass der Bau von Belo Monte weiterging, das ist der Terror der Welt des Faktischen, in der alles möglich ist, in der das Recht keine Grenzen mehr setzt. Die Welt des ‚Alles ist möglich‘ – das ist Belo Monte“, so Thaís Santi.